Mit Spürsinn für das Ausgegrenzte

Gert Schiff war ein Kunsthistoriker der Nachkriegsgeneration. Eine Biografie würdigt seine Forschung von Füssli bis Picasso

Von Anett KollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anett Kollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Anfang der 1950er-Jahre die Werke des gebürtigen Schweizer Malers Johann Heinrich Füssli noch in alle Welt verstreut waren, machte sich der junge deutscher Kunststudent Gert Schiff ans Werk, dessen römische Zeichnungen für seine Dissertation zu katalogisieren und zu entschlüsseln. Ein Wagnis im kunstwissenschaftlichen Betrieb Nachkriegsdeutschlands, denn Füssli galt als Randthema und Schiffs Forschungen stützten sich zudem auf die Vorarbeiten des marxistischen Kunsthistorikers Frederick Antal. Doch das „Auftun, Entdecken, Neubewerten; der Spürsinn für das Ausgegrenzte, Randständige, in das kulturelle Abseits verwiesene, manchmal auch Halbseidene, in der Regel aber Entdeckung fordernde waren sein Feld“, konstatiert sein Biograf Jörg Deuter. Anfang der 1970er-Jahre konnte Gert Schiff nach jahrelanger akribischer Recherche einen Katalog zu Füsslis Gesamtwerk vorlegen, der dem lange unbeachteten Künstler als Wegbereiter der Moderne zu einer Renaissance verhalf. Der Kunsthistoriker hatte mit Füssli eines seiner Lebensthemen gefunden.

Gert Schiff lebte zu dieser Zeit bereits in New York. Er arbeitete als Lehrbeauftragter am Institute of Fine Arts, 1974 erhielt er dort eine Vollzeitprofessur, die er bis 1986 innehatte. Neuangekommen in der Metropole, fand er 1964 mit dem Chelsea Hotel zielsicher ein Quartier, das als Inspiration für Musiker („Chelsea Girl“, „Chelsea Hotel No. 2“) und als Drehort für Andy Warhols „The Chelsea Girl“ legendär werden würde. In dem Künstlerhotel hatten vor ihm Prominente wie Thomas Wolfe, Dylan Thomas und Arthur Miller logiert. Seinerzeit zählten Bob Dylan, Joni Mitchell und Patti Smith zu seinen Nachbarn. Schiff widmete diesem speziellen Soziotop der beginnenden Rock- und Punkkultur einen hellsichtig vorausschauenden, atmosphärisch dichten Artikel in der „Kulturellen Monatsschrift. DU“, zu deren regelmäßigen Autoren er zählte.

Etwa zu der gleichen Zeit fand Schiff ein weiteres Lebensthema, das späte Werk Picassos. Auch hier vertrat er eine nonkonforme Sicht, die der verbreiteten Meinung von der künstlerischen Altersschwäche Picassos die Entdeckung von Zeichen einer gereiften Inspiration entgegensetzte. Füssli und Picasso bilden die Pole im Untertitel der vorliegenden Biografie. „Von Füssli bis Blake“ hätte es auch heißen können, denn die Kuratur einer Ausstellung zu William Blake in der National-Gallery of Western Art 1990 in Tokio war das Finale einer lebenslangen Beschäftigung mit den Worten und Bildern des englischen Dichters und Künstlers. Noch auf dem Sterbelager sind Schiff Blakes Verse im Gedächtnis und werden ihm zum Gedenken an seinem Sarg gesprochen. Eine umfassendere Stellungnahme Gert Schiffs zu dem mittlerweile in der düsteren Popkultur angekommenen Blake war von ihm geplant, konnte aber nicht mehr ausgeführt werden. Selbst die Katalogbeiträge zu der genannten Ausstellung sind nur auf Japanisch zugänglich. Dem Blake-Diskurs bleibt so eine interessante Stimme verborgen. In der Gegenrichtung sieht sein Biograf Jörg Deuter Schiff in seiner Persönlichkeit als „wirklichen Adepten Blakes“, so sehr, dass „Blakesche Begriffe für Schiffs eigene Biographie wesentlich“ werden. „Spürsinn für das Ausgegrenzte, Randständige, in das kulturelle Abseits verwiesene, manchmal auch Halbseidene, in der Regel aber Entdeckung fordernde waren sein Feld“, formulierte Deuter für Schiff. Ähnliches ließe sich auch für Deuters Arbeit selbst sagen. Nach der Erinnerung an den Expressionisten Hans Leip, dem Deuters vorherige Hommage galt, widmet sich sein Interesse auch hier wieder einer Lebensleistung, die drohte, in Vergessenheit zu gelangen.

Und es ist nicht nur Gert Schiff, dem Deuter ein Denkmal setzt. Auch Weggefährten und Freunde wie Dorothea „Mopsa“ Sternheim, Armin T. Wegner und Rudolf Charles von Ripper, deren Biografien einer eigenständigen Betrachtung würdig wären, gelangen ins Blickfeld. Deuters von tiefer Bewunderung und Respekt getragenen Beschreibungen sind die Resultate intensiver Spurensuche und immensen Forscherfleißes. Sie basieren auf jahrelang betriebener Korrespondenz und Interviews mit Zeitgenossen, Freunden und Bekannten Gert Schiffs, deren Erinnerungen so aufgenommen und bewahrt wurden. Viele kommen zu Wort, viele Namen fallen, aber nur so kann das Buch auch seinem Anspruch gerecht werden, nicht nur das intellektuelle Lebenswerk eines Mannes zu würdigen, sondern auch die Biografie einer ganzen Kunsthistoriker-Generation zu sein.

Titelbild

Jörg Deuter: Gert Schiff. Von Füssli zu Picasso. Biographie einer Kunsthistoriker-Generation.
Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, Weimar 2014.
316 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783897397705

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch