Eine verlorene Generation

Über Irène Némirovskys Debütroman „Das Mißverständnis“

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Ersten Weltkrieg ist auch für Yves Harteloup alles anders. Dreimal verwundet, kehrt er erst 1919 nach Paris zurück, wo er endlich seine Angelegenheiten in Ordnung bringen und nachrechnen muss, „wieviel ihm von seinem Vermögen geblieben war“. Da ist aber nichts mehr, und Yves wird schnell klar, dass er sich ab sofort seinen Lebensunterhalt selber verdienen muss. Der Angestelltenalltag ist ihm verhasst – jeden Morgen um acht Uhr aufzustehen, um in das „kahle, hässliche Büro“ zu eilen, wo man „den ganzen Tag damit verbrachte, Aufträge zu erteilen und Aufträge entgegenzunehmen“. Yves führt in der Folge ein sparsames Leben; abgesehen von kleinen Liebschaften, die er aber gleich wieder beendet, ist er allein; Gesellschaft leistet ihm sein Hündchen Pierrot, und die Haushälterin schaut nach dem Rechten. Einmal im Jahr jedoch, im Sommer, leistet er sich den Luxus, Urlaub in Südwestfrankreich zu machen. In Hendaye hatte er als Kind jeweils die schönste Zeit erlebt, nun mietet er sich im Hotel wieder ein, er will ins Meer eintauchen und alle Schwere loswerden, die ihn in Paris belastet.

Schon am ersten Tag sieht er aus der Ferne eine junge, hübsche Frau, die mit ihrer kleinen Tochter ebenfalls am Strand weilt und dem Nichtstun frönt. Man begegnet sich auf der Hotelterrasse, macht sich bekannt. Bald schon muss Yves feststellen, dass der Ehemann der schönen Denise kein Unbekannter ist, die beiden Männer waren Zimmergenossen in einem Krankenhaus in Belgien gewesen. Als Yves erfährt, dass Jessaint nach London fahren muss, ist seine Vorfreude zwischen den Zeilen zu spüren. Die kleine France scheint Yves sofort zu mögen, und sie ebnet den Weg dafür, dass Denise und Yves sich immer wieder begegnen können.

Der junge Harteloup merkt dabei lange nicht, wie es um ihn steht. Erst am Tag, als Denise ohne etwas zu sagen zu ihrer Mutter nach Biarritz fuhr, droht er in eine tiefe Verzweiflung zu fallen. Er flieht ans Meer – es ist bereits Nacht –, wo sie ihn später findet, weinend. Obwohl beide wissen, auf welch gefährlichem Weg sie sich bewegen, spielen sie mit dem Feuer. Und es kommt, wie es kommen muss.

Ende September geht Yves’ Urlaub zu Ende, und Jessaint dürfte ebenfalls bald wiederkommen, um Frau und Tochter abzuholen. Erst zu diesem Zeitpunkt wird Denise bewusst, dass ihr Geliebter nicht mehr vermögend ist. Er gesteht ihr, im Zug zweiter Klasse fahren zu müssen, da ihm das Geld für eine Fahrt im Schlafwagen fehlt.

Der Alltag in Paris wird schon sehr bald zur Qual. Denise verzweifelt in ihrer Liebe zu Yves, und Yves fühlt sich den Anforderungen seiner Geliebten zunehmend nicht mehr gewachsen. Die geheimen Treffen – nach Yves’ Arbeitstag im Büro und bevor Jessaint zu Hause eintrifft – verkommen zur Pflicht und verlieren rasch den Reiz des Verbotenen. Während Denise immer deutlicher wahrnimmt, dass ihr Yves entgleitet, klammert sie sich umso mehr an ihn. Und Yves sieht sich mit Ansprüchen – nicht nur finanzieller Natur – konfrontiert, die er nie wird erfüllen können. Weil er jedoch nicht gelernt hat, eine Auseinandersetzung zu führen, verschwindet er klammheimlich und folgt seinem Freund nach Finnland, der ihm dort schon vor längerer Zeit eine bessere Zukunft in Aussicht gestellt hatte. Von Denise verabschiedet er sich nicht.

Irène Némirovsky war 23 Jahre alt, als dieser Roman 1926 erstmals in der Zeitschrift „Les Œuvres libres“ erschien. Bereits in diesem ersten Werk schildert sie die Generation der Kriegsgeschädigten, die in einen sogenannten Alltag zurückkehren, jedoch nichts mehr von dem wiederfinden, was sie Jahre zuvor verlassen mussten. Yves, der früh Waise wurde, ist nach dem Krieg gänzlich auf sich gestellt, eine Situation, der er sich nicht gewachsen fühlt, die er letztlich auch als ungerecht empfindet. Sein Leben hätte anders verlaufen sollen. So bleibt ihm einzig die Rückkehr nach Hendaye und damit zu den Erinnerungen an eine sorglose Kindheit – wie sie France, die kleine Tochter von Denise, noch erlebt. Die Liebe zwischen Denise und Yves steht von Anfang an unter keinem guten Stern – das Missverständnis schleicht sich ein, dabei handelt es sich nicht nur um eines, sondern gleich um mehrere. Lange merkt Denise nicht, dass Yves längst nicht mehr zu den Begüterten gehört, dass er sich vielmehr, um ihrer willen, hoch verschuldet. Stärker ins Gewicht fällt jedoch, dass Denise und Yves unterschiedlich über die Liebe denken, oder anders gesagt: Denise muss unbedingt die drei Worte „Ich liebe dich“ hören, die ihr allein die Gewissheit bringen würden, dass Yves sie auch wirklich liebt, doch Yves kann sie nicht aussprechen, nicht nach allem, was er im Krieg erlebt hat. „Zum erstenmal spürte sie, dass es zwischen ihren Herzen ein Hindernis gab, wie eine unbestimmte, aber unüberwindliche Grenzlinie. Doch sie sagte nichts; lieber schloss sie die Augen, lieber vergaß sie sich, wollte nichts mehr sehen, nicht mehr sicher sein, ihn nur nicht verlieren, nur das nicht, ihn nur nicht verlieren.“ In diesen Sätzen steckt die ganze Verzweiflung von Denise, aus der sie nicht mehr herausfinden wird, nicht, solange Yves noch in ihrer Nähe weilt.

Äußerst interessant ist, wie Némirovsky die Beziehung zwischen Mutter und Tochter schildert. Da sind zum einen Denise und France, zwischen denen eine für unsere Begriffe große Distanz besteht. France wird vor allem von ihrer Kinderfrau betreut, und in den Monaten, als Denise nur noch für Yves da ist, verschwindet das Mädchen fast gänzlich. Auf der anderen Seite ist die Beziehung zwischen Denise und ihrer Mutter. Die immer noch gutaussehende Frau, erfahren in Liebesdingen, versucht eine Annäherung an die Tochter. Denn ihr ist nicht verborgen geblieben, dass Denise verzweifelt ist und dass dies mit einem Mann zusammenhängen muss. Sie weiß, dass übergroße Liebe ins Unglück führt, und rät zu Mäßigung und zu einem kleinen Flirt zur Abwechslung. Denise befolgt diesen mütterlichen Rat umgehend – und das führt zum dritten Missverständnis und zum definitiven Bruch. Beiden Betroffenen bleibt, nun wieder allein, nur noch die Erkenntnis, wie sehr sie sich geliebt haben.

Einmal mehr gelingt es Irène Némirovsky, tief in die Seelen ihrer Protagonistinnen und Protagonisten zu blicken und das, was sie dort erkennt, in Worte zu fassen. Die schöne deutsche Übersetzung verdanken wir Susanne Röckel, und wir tauchen ein in die Welt dieser Nachkriegsgeneration, für die es nur ein Scheitern geben kann. Die Hoffnung liegt ganz anderswo, vielleicht findet sie Yves in Finnland. Für Denise dürften die Perspektiven aussichtsloser sein.

Titelbild

Irène Némirovsky: Das Mißverständnis. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Susanne Röckel.
Knaus Verlag, München 2013.
176 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9783813504675

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