Midlifecrisis im Berliner Blaulichtmilieu

In Kristof Magnussons „Arztroman“ gibt es nicht nur medizinische Notfälle

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn ein preisgekrönter isländisch-deutscher Übersetzer, Theater- und Romanautor sein drittes Buch „Arztroman“ nennt, so lässt das einiges erwarten. Man denkt an Dreiecksbeziehungen im Arztmilieu, Heftromane, medizinisches Fachvokabular, Krankheiten, Operationen und andere menschliche Katastrophen. Da der 1976 geborene Kristof Magnusson seinen Wohnort Berlin zum Schauplatz des Geschehens macht, kommt das pulsierende, vielseitige Alltagsleben der Hauptstadt hinzu.

Anita und Adrian lernten sich während des Medizinstudiums kennen und lieben. Heute arbeitet sie als Notärztin an dem Berliner Krankenhaus, wo Adrian als Arzt tätig ist. Verheiratet sind sie nicht mehr, weil der 14-jährige Sohn nicht in einer „Durchhalte-Ehe“ aufwachsen sollte. Lukas lebt beim Vater und dessen neuer Partnerin Heidi, besucht aber regelmäßig seine Mutter, die sich zwischen den Einsätzen mit dem homosexuellen Rettungsassistenten Maik „ihrem Privatleben schutzlos ausgeliefert“ fühlt. Eine Trennung lässt sich eben nicht ohne Nebenwirkungen und Schmerzen organisieren. Anita verliebt sich in den Wannsee-Segler Rio, entdeckt die Drogensucht ihres Ex-Mannes, kämpft erfolglos für eine gerechtere Welt und die Erhaltung ihres Familienglücks und muss verkraften, dass Adrian, Heidi und Lukas aufs Land ziehen.

Als Rahmenhandlung dienen die Einsätze der Protagonistin, die ein bunter medizinischer Reigen durch die Gesellschaft und Berlin sind: ein junger Raser, der in einen Unfall verwickelt wird – ein verwahrloster Bewohner einer Schrebergartenkolonie, dessen Raucherlunge ihn zum Rosa Schnaufer macht – ein Intensivtransport mit einer Oma, die Bauchschmerzen plagen – ein Kollaps im Fitnessstudio – die Krankheitspanik einer schwedischen Erasmusstudentin – der chronisch leberkranke junge Mann, der zu verbluten droht – eine Altersheimbewohnerin, deren Erkrankungen „mit dem Leben nicht vereinbar“ sind. Natürlich darf auch das Nonplusultra, der chirurgische Eingriff einer Nichtchirurgin, nicht fehlen.

Zwischen Leben und Tod spielt sich das persönliche Drama von Anita ab. Ein Familiensegeltörn auf Rios Boot, der alle Beteiligten zusammenbringen soll, stiftet ebenso weitere Unruhe wie viele andere Versuche, zu retten, was eben selbst eine Notärztin manchmal nicht mehr retten kann.

Magnusson erweitert das genreübliche medizinische Fachvokabular um den Arzt- oder Rettungssanitäterjargon. So wird nach einer Reanimation die menschenverachtende Frage nach „Blumenkohl, Mau-Mau oder Schach?“ gestellt, um die bleibenden Schäden, beziehungsweise zukünftigen Fähigkeiten des Patienten zu beurteilen. Der Umgang mit den GOMERn (Get-Out-of-My-Emergency-Room), älteren chronisch erkrankten Patienten, die viel Arbeit machen, denen aber nicht geholfen werden kann, und die Darstellung anderer sozialmedizinischer Fälle machen ebenso nachdenklich wie die Selbstdiagnose im Internet, die selbst Gesunde panisch machen kann.

So alternativ die Einsatzstreifzüge durch Berlin und das Privatleben der Protagonisten auch sind, Klischees, die den klassischen Arztroman ausmachen, werden ebenfalls bedient: der süchtige Arzt oder der ungünstigste Moment, in dem stets zum Einsatz gerufen wird.

Das große Können des Autors blitzt vor allem bei seinen Vergleichen auf: Wenn Anita die Intensivstation mit der Systemgastronomie gleichsetzt und die „maximale Standardisierung als Auflehnung gegen die Unberechenbarkeit des Organischen“ deutet, wenn sie die Heimfahrt „gefühllos wie ein Lachs“ erlebt, der seinen Weg zum Ursprungsort immer wieder auf sich nimmt. Das blinde Verständnis Anitas mit ihrem Assistenten Maik beschreibt Magnusson wie folgt: „Sie funktionierten ohne Worte, wie ein Ehepaar, das seit fünfzig Jahren zusammen Gartenarbeit machte.“ Großartig liest sich auch, wenn die Notärztin, gleich eines Sherlock Holmes, in Sekundenschnelle einen Einsatzort und damit das Leben des Patienten messerscharf analysiert. Mit seinem „Arztroman“ spricht Magnusson sicher nicht die klassischen Liebesromanleserinnen an, aber reflektiertere Menschen in ihrer Lebensmitte werden das dynamische Werk als gut erzählte Entspannung sicher schätzen. Und wer glaubt, das Ende sei vorhersehbar, wird auf den letzten Seiten einige Überraschungen erleben.

Titelbild

Kristof Magnusson: Arztroman.
Verlag Antje Kunstmann, München 2014.
320 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783888979668

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch