Die Welt als Traum und Vorstellung

Ein wissenschaftliches Handbuch zeigt, was die Phantastikforschung inzwischen alles kann – und was nicht

Von Rainer ZuchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Zuch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Phantastik hat Konjunktur. In allen Medien begegnet uns Phantastisches: Noch nie gab es derart viele Bücher, Filme, Bilder, Fotografien, Architekturen, Spiele und Musik mit phantastischer Ausrichtung. In Buchhandlungen, im Kino, in Ausstellungen oder in der Alltagskultur muss man nicht lange nach Fantasy, Science Fiction, Horror oder Märchen suchen.

Schon dieses kurze aufzählende Sammelsurium lässt die Frage aufkommen, was das eigentlich ist, „das Phantastische“ oder „die Phantastik“, wenn es dermaßen unterschiedliche Gebiete umfassen kann. Bereits seit einigen Jahrzehnten ist sie Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, jedoch beginnen sich erst in den letzten Jahren die Konturen einer Phantastikforschung abzuzeichnen, die ihr Feld gattungsübergreifend und interdisziplinär in den Blick nimmt. Unter diesen Umständen ist es ein verdienstvolles und hilfreiches Unternehmen, ein Handbuch zum Thema herauszugeben.

Das Werk erscheint in der Reihe von geistes- und kulturwissenschaftlichen Handbüchern des Metzler Verlages und stellt den derzeitigen Stand der Phantastikforschung umfassend dar, zeigt historische und mediale Entwicklungen im internationalen Vergleich auf und widmet sich der Theoriebildung. Zwar gibt es einen breiten Konsens über einen Kernbestand des Phantastischen, aber nicht einmal dieser bleibt unwidersprochen, und dann gibt es noch die umfangreichen Ränder des Fachgebietes, über deren Verlauf ebenfalls keine Einigkeit besteht. Kurz, die Phantastikforschung ist ziemlich lebendig und hat noch viel zu tun, und das ist gut so.

Die Herausgeber, Hans-Richard Brittnacher und Markus May, sind ausgewiesene Phantastikexperten, die zwar beide aus der Literaturwissenschaft kommen, aber Erfahrung im Umgang mit anderen phantastischen Medien haben; so waren beide an der Organisation der großen Phantastik-Ausstellung in Linz 2003/04 beteiligt. Die große Zahl der BeiträgerInnen garantiert zudem die Präsentation eines großen wissenschaftlichen Spektrums.

In ihrem sehr kurz gehaltenen Vorwort umreißen die Herausgeber ihre Ziele und die Absicht, die Phantastikforschung aus ihrer Konzentration auf die Literaturwissenschaften zu lösen. Die ist darin begründet, dass es in der Literaturwissenschaft bereits seit Jahrzehnten eine Auseinandersetzung mit dem Phantastischen gibt, während andere Fachgebiete hier bis heute nicht aus den Startlöchern kommen. Es gibt also gewichtige inhaltliche wie fachspezifische Begründungen, ja Notwendigkeiten, interdisziplinär vorzugehen.

Danach geht es umstandslos in medias res. Das Handbuch gliedert sich in einen historischen und einen systematischen Teil. Der historische Teil verfolgt die Genese phantastischer Ideen in verschiedenen nationalen Zusammenhängen von der Antike über das Mittelalter und die Neuzeit bis in das 19. und 20. Jahrhundert hinein. Hier stellt sich zunächst eine gewisse Irritation ein. Denn zum einen erfolgt hier mit der Beschränkung auf die Literaturgeschichte eben doch eine disziplinäre Engführung, zum anderen fehlt eine theoretische Grundlegung. Somit wird der Anschein erweckt, es sei klar, was „das Phantastische“ sei und es existiere ein fester phantastischer Kanon, obwohl eben das der Klärung bedarf. Vielleicht zeigt sich gerade an dieser Stelle, wie viel in der interdisziplinären Forschung noch zu tun ist, denn hier spiegelt sich ja auch jene Hegemonie der Literaturwissenschaften wider, die es erst durch weitere Anstrengungen noch zu überwinden gilt.

Die fachliche Einengung wird jedoch bis zu einem gewissen Grad wieder aufgebrochen. Die Beiträge verfolgen die epochenspezifischen Entwicklungen einer großen Anzahl nationaler Literaturen, wobei nicht bei den „üblichen Verdächtigen“ wie etwa Deutschland, Frankreich, England, Spanien und den USA verblieben wird, sondern auch die jeweils eigenen Wege der Literaturen Russlands, Skandinaviens, Portugals, Polens und anderer gewürdigt werden. Dass eine vorausgehende theoretische Festlegung fehlt, hat zur Folge, dass die Beiträger sich diese jeweils selbst gesucht haben; auch auf diese Weise bekommt man eine Ahnung von der Vielfalt des Themas.

Der darauf folgende systematische, enzyklopädisch angelegte Teil ist wesentlich umfangreicher, und hier geht es interdisziplinär eher zur Sache. In drei Gliederungspunkten geht es zunächst um Phantastik-Theorien und anschließend um mediale Ausprägungen des Phantastischen. Den meisten Raum nimmt eine Systematisierung nach Genres, Themen und Motiven und Poetik ein. Den Abschluss bildet ein Anhang mit Literaturverzeichnis und Registern.

Der – relativ kurze – Abschnitt der Phantastik-Theorien ist in doppelter Hinsicht interessant. Stellt er zum einen die inzwischen außerordentliche Bandbreite der phantastischen Theoriebildung dar, erhellt er zum anderen deren nahezu vollständige Konzentration auf Texte und damit ihre literaturwissenschaftliche Fundierung – womit wir wieder bei dem eingangs genannten Dilemma sind. Deshalb hätte man diesen Teil auch als eine zu einer theoretischen Grundlegung erweiterten Einleitung dem historischen Teil vorwegstellen und damit das Abrupte des Einstiegs vermeiden können. Die Spannbreite der Theorien reicht von maximalistischen Ansätzen, die das Feld der Phantastik möglichst weit ausdehnen, bis hin zu minimalistischen, die, oft um der besseren Definierbarkeit willen, das Feld möglichst klein halten wollen – hier ist vor allem Todorovs „Introduction à la littérature fantastique“ zu nennen. Darüber hinaus werden diskursanalytische, poststrukturalistische und feministische, postkolonialistische, medientheoretisch-analytische und noch weitere Ansätze aufgeführt.

Die anschließende Darstellung medialer Ausprägungen des Phantastischen umfasst eine ausgesprochen heterogene Sammlung von Stichpunkten: bildende Kunst, Architektur, Musik, Film, Kinder- und Jugendliteratur, Alltagskultur. Alle Punkte sind unverzichtbar, systematisch betrachtet wirkt dieser Teil aber etwas disparat. Darüber hinaus kann man durchaus eine Einteilung kritisieren, die – trotz der im Vorwort abweichend geäußerten Absicht – an der Literatur als gewissermaßen unhintergehbarer Grundlage des Phantastischen festhält und alles andere auf „mediale Ausprägungen“ gleichsam zu reduzieren scheint.

Eine solche Kritik greift aber nur zum Teil. Kein Handbuch der Welt wäre in der Lage, ein Thema von Umfang und Vielfalt der Phantastik vollständig darzustellen. Außerdem erfüllt dieser Teil seine Rolle als weitere Voraussetzung und Grundlegung der fachübergreifenden Diskussion von Genres, Themen, Motiven und Poetiken.

Viktoria von Flemming staunt in ihrem sehr dichten und materialreichen Beitrag zur bildenden Kunst zu Recht darüber, dass die Kunstwissenschaft trotz eines geradezu überbordenden Bestandes an Material das Thema Phantastik bis heute fast völlig ignoriert. Dabei zeigt sich gerade in der bildenden Kunst, wie vielfältig die Ausdrucksweisen des Phantastischen sein können, was nicht zuletzt daran liegt, dass man es hier im Lauf der Jahrhunderte mit enormen Bedeutungsverschiebungen des Phantastikbegriffs zu tun hat. Eine Theorie der phantastischen Kunst hätte ganz andere Faktoren zu berücksichtigen als die Literaturwissenschaft, dennoch bietet sich jene als Orientierung an – vor allem, weil andere gar nicht da sind. Der Abschnitt „Bildende Kunst“ geht in seiner theoretischen Durchdringung des Themas mit Abstand am weitesten. Die anderen setzen überwiegend einen Phantastikbegriff bereits voraus, sie konzentrieren sich auf die Systematisierung phantastischer Inhalte und Themenfelder.

Der folgende Teil ist der mit Abstand umfangreichste und vielseitigste. Die erste Rubrik, „Genres“ verhandelt als Stichworte etwa Conte fantastique, Cyberpunk, Fantasy, Groteske, Märchen/Sage/Legende, Schauerroman/gothic novel, Science Fiction und Utopie/Dystopie. Unter „Themen und Motive“ finden sich figurenorientierte (unter anderem Feen – Nixen – Elementargeister, Femme fatale, Dämonen, Monster, Puppe, Vampir, Werwolf oder Zombie), topografische (wie Museum und Bibliothek, Labyrinth, man vermisst einen Punkt „Landschaft“) und konzeptuelle Stichpunkte (wie Magie, Somnambulismus, Okkultismus oder Satanismus), aber auch Reisen (Zeitreise) sowie Passagen und Schwellen. Die Stichworte werden – wo nötig, mit kulturwissenschaftlichen Exkursen – historisch und systematisch aufgeschlüsselt und mit zahlreichen Beispielen anschaulich entwickelt. Eine Interdisziplinarität kommt aber auch hier nur teilweise zum Zuge. Die Literatur behält ihre Dominanz; nur wenige Beiträge, wie „Groteske“ und „Puppen“, halten ein Gleichgewicht zwischen Literatur, bildender Kunst und Film.

Im letzten Teil finden sich die im Vorwort angesprochenen „poetischen und poetologischen Schlüsselkonzepte der Phantastik“, die mit Stichworten wie Affekte, Horror, Metamorphose, Orientalismus, Phantastik und Religion, Traum und Rausch, Das Unheimliche, Zeit- und Raumstrukturen unter anderem zahlreiche Anschlussmöglichkeiten an kulturwissenschaftliche, psychologische, anthropologische und weitere Fragestellungen bieten.

Insgesamt gibt das Handbuch einen gut konzipierten, umfassenden, enorm detailreichen und von ausgeprägtem Fachwissen geprägten Überblick über die Phantastikforschung und ihren aktuellen Stand. Insofern ist es für Forscher wie für Studierende gleichermaßen eine große Hilfe. Dass ein starkes Übergewicht auf der Literaturwissenschaft liegt, verweist darauf, dass das Handbuch selbst ein Zeitdokument ist; deshalb muss man den interdisziplinären Gehalt aber tiefer hängen als im Vorwort angekündigt. Mit dieser Einschränkung liegt hier ein Standardwerk vor, um das niemand herumkommen wird, der sich mit Phantastik beschäftigt.

Titelbild

Hans Richard Brittnacher / Markus May (Hg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2013.
648 Seiten, 64,95 EUR.
ISBN-13: 9783476023414

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