Eine Suche nach Ordnung hinter den Dingen

John Burnsides nun in deutscher Übersetzung erschienener erster Roman geht in verstörender Weise der Seele des Menschen und dem Wesen seiner Sprache auf den Grund

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Damals hätte ich allerdings behauptet, die Operationen seien nur logisch gewesen, ein weiterer Schritt im Rahmen jenes Experiments, das ich vier Jahre zuvor begonnen hatte – des wichtigsten Experiments, das ein Mensch nur unternehmen kann, nämlich den Versuch, den Sitz der Seele zu finden, jenes einzigartigen Geschenks, das uns von den Tieren unterscheidet; ihn zu finden, anfangs durch Isolierung, später durch folgerichtige und notwendige Vernichtung.“

In diesem Sinne rückblickend eröffnet Luke – seinem Namen begegnet der Leser allerdings erst deutlich später – den Bericht seines Lebens und seiner – erfolglosen – Suche nach dem Ursprung der Sprache und dem Sitz der Seele. Er ist der Erzähler und Protagonist in John Burnsides 1997 erschienenem Roman „The Dumb House“, dem damals ersten Roman des bereits mit seiner Lyrik hervorgetretenen Autors. Nach dem Erfolg von Büchern wie „Glister“ (2009), dem autobiografischen „Lügen über meinen Vater“ (2011) und zuletzt „In hellen Sommernächten“ (2012) erschien bei Knaus nun, in Zusammenarbeit mit Burnsides bewährtem Übersetzer Bernhard Robben, die deutsche Fassung dieses Erstlings: Haus der Stummen.

Titelgebend ist eine historische Anekdote: Im Dissens mit seinen Ratgebern über die Frage nach dem Ursprung der Sprache und ihrem Zusammenhang mit der Seele lässt der indische Großmogul Akbar ein abgeschiedenes, jedoch höchst komfortables Anwesen errichten, um eine Hypothese experimentell zu überprüfen. Wenn, wie er im Gegensatz zu seinen Ratgebern meint, die Sprache dem Menschen nicht wie seine Seele angeboren sei, sondern erlernt werden müsse, dann, so seine bezwingende Vermutung, müsste sich dies verifizieren lassen, indem eine Gruppe neugeborener Kinder isoliert und ohne sprachlichen Kontakt zur Außenwelt aufwächst, im Haus der Stummen. Für Luke, dem diese Legende in den opulent ausgeschmückten Erzählungen seiner Mutter schon als Kind begegnet, werden diese Überlegungen lebensbestimmend. Schließlich wird er die Versuchsanordnung im Rahmen seiner Möglichkeiten wiederholen.

Wie es dazu kommt und wieso ein erster experimenteller Anlauf misslang, das resümiert Luke in Burnsides Roman. Ein erstes Experiment sei vorbei, nun müsse es von neuem beginnen, als Wiederholung mit kleinen Variationen, um dem Erkenntnisziel näherzukommen. Zwei Ebenen der Erinnerung treten einander zur Seite: Einerseits Lukes Kindheit, vor allem seine Mutter, mit der der Vater vergeblich um die Zuneigung und Aufmerksamkeit des Sohnes konkurrierte. Sie war es, die ihm von Akbar berichtete, die ihm mit dem Wort Rose das Sprechen beibrachte, mit der er tote Tiere sammelte, die zu den ersten Objekten seines forschenden Interesses werden sollten. Er nimmt Lebendsektionen an Tieren vor, die vom Vater geschenkte Katze wird ein erstes Opfer seiner grausamen Experimente. Mit der für den Erzähler so prägenden Mutterfigur, aber auch in zahlreichen anderen Motiven begegnen dem deutschen Burnside-Leser im Übrigen in „Haus der Stummen“ auch Elemente, die ihm aus späteren seiner Werke bereits bekannt sind. Nicht zuletzt gilt dies für das Leben des Protagonisten am Rande und in Distanz zu einer von ihm verachteten Gesellschaft.

Die andere Erzählebene betrifft sodann die jüngere Vergangenheit, in der für Luke wiederum zwei Frauen entscheidend werden. Bei ihnen dreht sich jedoch das Abhängigkeitsverhältnis gegenüber der nach längerer Krankheit verstorbenen Mutter um: Karen ist die Mutter eines stummen Sohnes, die der Erzähler durch eine Annonce kennenlernt, mit der er erste Schritte seiner Forschungen zur Entstehung der Sprache einleiten will. Und die ebenfalls stumme Obdachlose Lillian wird von Luke gewissermaßen von der Straße aufgelesen und mit nach Hause genommen. In beiden Fällen kennzeichnet eine Spannung von Zuneigung und (sexueller) Gewalt die Beziehung Lukes zu diesen Frauen, an einem Obdachlosen aus Lillians Umfeld begeht Luke seinen ersten Mord. Sie stirbt schließlich nach der Geburt eines Zwillingspaares, welches ihm zur Grundlage seiner weiteren Experimente wird.

Dass die Seele des Menschen vielleicht nicht in seinem Körper zu finden sei, sondern in seiner Sprache, ist eine These der Mutter des Erzählers: „Ein Geschöpf ohne Sprache ist ein Geschöpf ohne Seele. Wollte ich die Seele kennen, musste ich die Sprache kennen.“ In dieser Absicht isoliert Luke die von ihm nur mit A und B bezeichneten Zwillingsgeschwister vom Tag ihrer Geburt an in einem Kellerverschlag und beobachtet ihre Entwicklung wie die von Labortieren. Eine affektive väterliche Bindung empfindet er nicht, wie er selbst erstaunt feststellt. Dennoch zeigen die Kinder eine rasche körperliche und auch geistige Entwicklung. Im Alter von elf Monaten beginnen sie mit einem intensiven wechselseitigen Gesang, an dem der skrupellose Forschergeist Lukes scheitert: Es gelingt ihm nicht, Sinn und Bedeutung dieses Singens festzustellen, vielmehr kommt er resigniert zu dem Ergebnis, dass es keine Kommunikation sei, sondern „bloß ihre Art, sich und einander zu sagen, dass sie existierten […]. Es war ein Irrtum zu glauben, der Gesang dieser Kinder habe mehr zu bedeuten als ein Hahnenschrei am Morgen oder das spöttische Gelächter einer Möwe.“ Ein Spott, den er auch gegen sich selbst gerichtet sieht.

Den grausamen Gipfelpunkt erreichen seine Experimente mit einer Laryngotomie bei beiden Zwillingen, das heißt der operativen Durchtrennung ihrer Stimmbänder, um die Zwillinge zum Schweigen zu bringen. Luke stilisiert es zum gleichsam metaphysischen Experiment, einen „Akt spiritueller Liebe“ auf Grundlage der Überzeugung von der vernünftigen Ordnung des Universums. Nicht Gott werde gesucht, sondern der der Welt innewohnende Logos. Das teils schwer zu ertragende Grauen des Romans liegt gerade in diesen Erwägungen, mehr noch als in den Handlungen des Erzählers, nämlich in der befremdenden Konsequenz seines Denkens: „Ich verstand, warum Menschen dafür töten konnten, für dieses Gefühl, einfach einzudringen und die verbotene Region aus Blut, Knorpel und Gewebe zu erkunden. Sie werden zu Opfern einer exquisiten Neugierde; sie plagt das Mysterium, das nur eine Schnittlänge entfernt existiert. Solange der Körper für uns bloß etwas Feuchtes und Chaotisches ist, ein Hautsack von Galle und Kot, wird kein solches Verlangen aufkommen. Denn um in einen menschlichen Körper vorzudringen, braucht es jemanden mit einer unerschütterlichen Überzeugung von der gleichsam engelhaften Systematik der Dinge.“

Dass das Experiment scheitert, bedeutet gerade die Infragestellung dieser Überzeugung, und macht seine zukünftige Wiederholung notwendig. Dass der unterstellte Logos hinter den Dingen in Wahrheit nicht vorhanden sein könnte, dass er, so wie die Sprache, nur Konstruktion sein könnte, die das Chaos der Wirklichkeit nur in einem vordergründigen Anschein von Ordnung zudeckt, diese für Luke schwer zu ertragende Vorstellung motiviert seine für den Leser schwer zu ertragenden Taten. Dass allerdings ein Urteil über seinen Wahnwitz zu sprechen nur möglich scheint, wenn man Lukes Hoffnungen darauf teilt, die Irrationalität der Welt lasse sich in eine Ordnung überführen, macht die verstörende Abgründigkeit dieses faszinierenden Romans aus. Es ist Verlag und Übersetzer sehr zu danken, ihn im Anschluss an jüngere Werke des schottischen Autors nun ebenfalls für die deutsche Leserschaft zugänglich gemacht zu haben.

Titelbild

John Burnside: Haus der Stummen. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Knaus Verlag, München 2014.
256 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783813506129

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