Verkopfte Kannibalen

Anja Saupe untersucht in Ansätzen das Verhältnis von Kannibalismus und Kultur

Von Jelko PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jelko Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel im Programm einer Reihe zur Literatur- und Mediendidaktik macht neugierig: Kannibalismus und Kultur. Zu einer Poetik des Tabubruchs in der Fiktion – Drama, Comic und Film. Denn er erweckt die Erwartung auf eine poetologische Untersuchung, die zudem Aufschlüsse darüber gibt, wie mit dem Tabubruch des Kannibalismus in didaktischen und schulischen Zusammenhängen umgegangen werden kann.

In ihrer Studie geht Anja Saupe zunächst darauf ein, wie Kannibalismus in wissenschaftlichen und fiktionalen Texten dargestellt wird, um dann den Kannibalismus in sieben Dramen der Weltliteratur sowie in vier populären beziehungsweise subkulturellen Filmen und Comics zu untersuchen. Den Abschluss ihrer Analysen bilden Aussagen zu didaktischen Perspektiven fiktionaler Tabubrüche.

Ihr wesentliches inhaltliches Interesse besteht darin, die „Beziehung von kannibalischem Tabubruch und kultureller Ordnung“ zu erforschen. Des Weiteren will sie analysieren, ob die fiktionalen Kannibalismusdarstellungen „im Vergleich mit den wissenschaftlichen Konzepten als im hohem Maße uneindeutige oder aber gerade als besonders eindeutige Darstellungen gelten können“. Saupe bezieht sich dabei vor allem auf die Ergebnisse der Psychoanalyse und der Ethnologie über die Ursachen des Kannibalismus. Außerdem referiert sie die Forschungslage zum Kannibalismus in fiktionalen Texten, indem sie die Beiträge der psychoanalytischen und kulturwissenschaftlichen Literatur- und Medienwissenschaft referiert. Weiter stellt sie – allerdings veraltete – medienpädagogische und didaktische Ergebnisse und Erhebungen vor allem zum Horrorfilm vor. Historische Forschungen zur Geschichte des Kannibalismus, zur Darstellung von Begegnungen zwischen „Kannibalen“ und Europäern oder zur Wahrnehmung des „Kannibalen“ etwa in Reiseberichten und anderen faktualen Texten blendet sie aus.

Schwerpunkt ihrer Studie ist die Interpretation der sieben Dramen: Lucius Annaeus Senecas Thyestes, William Shakespeares Titus Andronicus, Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Ugolino, Heinrich von Kleists Penthesilea, Tennessee Williams’ Suddenly Last Summer, Fernando Arrabals L’Architecte et l’Empereur d’Assyrie und Nicky Silvers Fat Men in Skirts. Die Dramen wurden ausgewählt, weil bei ihnen „die Gestaltung besonders vielfältiger und komplexer Beziehungen von Kannibalismus und Kultur erwartet werden“ könne und sich „die dramatische Gattung für einen Vergleich mit Text-Bild- und audiovisuellen Medien“ anbiete. Warum Erzählungen und Romane diese Erwartungen nicht erfüllen, wird nicht ausgeführt. Eine Analyse epischer Texte wird aber vermisst, weil der Kannibalismus in den meisten der ausgewählten Dramen nicht eindeutig beziehungsweise offen auf der Bühne vollzogen wird, sondern in der Form eines Berichts (also narrativ), unwissend (Menschenfleisch wird als normale Nahrung serviert, erst im Nachhinein werden die Esser über den Betrug aufgeklärt) oder verdeckt (für die Zuschauer nicht zu sehen) geschieht. Die Dramen konterkarieren damit das Anliegen eines Vergleichs der Kannibalismusdarstellungen zwischen Drama, Film und Comic. In Anbetracht der weitreichenden Möglichkeiten epischer Texte, Kannibalismus erzählerisch zu gestalten, wären gerade Narrationen ein geeigneter Untersuchungsgegenstand für diese Studie gewesen.

Saupe kommt in ihrem Beitrag zu einer Poetik des Tabubruchs in der Fiktion zu dem Ergebnis, dass der Tabubruch des Kannibalismus in den dramatischen Texten die Funktionen eines zerstörerischen Angriffs auf die bestehende Kultur übernehmen, die Strukturen kultureller Ordnung radikalisieren und verdeutlichen oder die Kultur wiederherstellen kann. Durch den Tabubruch erfolgt eine „kritische Darstellung von Kultur als Gegensatz zum Individuum“ und der Kannibalismus erscheint „als äußerste Zuspitzung des Konfliktes mit der kulturellen Ordnung“. Populäre Medienproduktionen (Comic und Spielfilm) nehmen den Gegensatz zwischen Individuum und (feindlicher) Kultur auf, geben aber keine „Perspektiven für eine Erklärung der inhumanen Ordnung“, sondern legten allenfalls die individuelle Flucht aus der Kultur nahe (kulturüberwindende Funktion). Die Kritik an der Kultur aus der Sicht des Individuums finde in den subkulturellen Medienproduktionen (Horrorfilm) kaum noch statt. Hier übernehme der Tabubruch nur noch eine kulturverdeutlichende Funktion.

Nach der Lektüre der Studie bleibt ein zwiespältiges Gefühl. Zum einen überzeugt die Autorin durch ihre genauen und kenntnisreichen Analysen der Dramen, zum anderen vermittelt ihre Untersuchung einen aufgeblasenen und noch unfertigen Eindruck. So erweist sich ihr wiederholter Vergleich der Kannibalismusdarstellungen mit den Ergebnissen der Psychoanalyse als Papiertiger, da sich die jeweiligen Ursachen und damit Erklärungen und Deutungen für den Kannibalismus von vorneherein als disparat erweisen, so dass – bis auf wenige Überschneidungen – nur Unterschiede anzutreffen sind.

Schmerzlich vermisst wird die historische Sicht auf den Kannibalismus und seine Deutungen im Wandel der Zeit. Eine kulturgeschichtliche Perspektive hätte zu einem fruchtbaren Vergleich mit den Darstellungen des Kannibalismus in den Stücken führen können. Offen bleibt zudem der Kulturbegriff, der von Saupe nicht erläutert wird.

Des Weiteren unterbleibt die Einordnung der populären und subkulturellen Medienproduktionen in einen größeren Zusammenhang. Es wird nicht erläutert, wie in vergleichbaren Medienprodukten das Verhältnis von Individuum und Kultur dargestellt wird. Gestaltet sich diese Beziehung ohne Kannibalismus überhaupt anders? Daraus ergibt sich die Frage, wo die Besonderheiten des Kannibalismus als Tabubruch hinsichtlich seiner Funktionen liegen. Erfüllen ein Mord oder ein anderes Verbrechen nicht die gleiche Funktion der Dramatisierung des Konfliktes eines Individuums mit der kulturellen Ordnung? Diese offenen Aspekte laden dazu ein, die Studie zum Verhältnis von Kannibalismus und Kultur zu vertiefen, fortzusetzen und vor allem um narrative Kannibalismusdarstellungen zu ergänzen, so dass tatsächlich eine Poetik des Tabubruchs entstehen kann.

Saupes Studie schließt mit einem Appendix zu den didaktischen Perspektiven fiktionaler Tabubrüche. Sie bezieht sich dabei auf den Deutschunterricht. In ihren Ausführungen geht sie auf die Möglichkeiten ein, Horrorfilme im Unterricht zu behandeln und den Konflikt zwischen Individuum und Kultur, der durch den Tabubruch deutlich wird, zur Sprache zu bringen. Bei der Thematisierung von Horrorszenen im Unterricht greift sie auf völlig veraltete Aussagen zur Mediensozialisation der Jugendlichen und Lehrer zurück. Jene kennen weder das Internet, noch sind sie sich bewusst, dass Spezifika des Horrorfilms längst Einzug in den populären Film und auch in den schulischen Alltag gefunden haben. So sehen und analysieren heutzutage schon längst Schüler gemeinsam mit ihren Lehrern Splatterszenen der Herr-der-Ringe-Filme. Saupes Vorschlag, Tabubrüche im Unterricht zu untersuchen, um den Schülern zu verdeutlichen, dass „eine konflikthafte Handlung nicht nur zentrales Strukturprinzip literarischer Texte, sondern fast ausnahmslos auch medialer Produktionen ist“, überzeugt nicht. Schließlich treten auch ohne Tabubruch genügend Konflikte zwischen Individuum und Kultur in literarischen oder anderen Produkten strukturbildend auf. Ihre Anregungen zur methodischen Thematisierung des Tabubruchs im fächerübergreifenden Unterricht, zu den Möglichkeiten und Grenzen produktionsorientierter Verfahren zum Tabubruch und zu Rezeptionserfahrungen und -kompetenzen der Schüler stellen nur erste oberflächliche, nicht erfahrungsgesättigte Überlegungen, aber keine Hilfen für eine Unterrichtsplanung dar.

Titelbild

Anja Saupe: Kannibalismus und Kultur. Zu einer Poetik des Tabubruchs in der Fiktion - Drama, Comic und Film.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
324 Seiten, 54,80 EUR.
ISBN-13: 9783631605738

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