Ethischer Nationalismus

Romy Langeheine folgt den ideenpolitischen Suchbewegungen des Intellektuellen und Nationalismus-Theoretikers Hans Kohn „von Prag nach New York“

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Im Sommer 1918, als ich siebzehn Jahre alt war, wurde ich Zionist“, ein lapidarer Satz, in dem jedoch eine Entscheidung von weitreichender Konsequenz steckt. Mit ihm leitet Hans Kohn diejenigen Abschnitte seiner Autobiographie ein (Bürger vieler Welten, 1965), die von den geistigen Anregungen und Freundeskreisen der Jugend erzählen, vom Engagement zugunsten der jüdischen Sache. Kennzeichnend für die Auseinandersetzung mit sich selbst ist, dass er seinen Lebensweg in ausholenden Bögen mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts, mit dem, wie er es nennt, „Zeitalter der Weltrevolution“ verknüpft. Dabei ist er nicht passiver Zuschauer, sondern Akteur, der das ihm Gemäße und das ihm Mögliche beiträgt oder doch wenigstens beizutragen sucht. Ihm, dem heute weithin Vergessenen, widmet die Kulturwissenschaftlerin Romy Langeheine eine umfassende Biographie. Ihr Augenmerk richtet sich auf Kontinuität und Wandel im Denken des Protagonisten, auf dessen intellektuelle Entwicklung, die sie am Faden der Chronologie verfolgt, zugleich aber einfügt in die Räume und die sich dort jeweils kristallisierenden Zusammenhänge, in denen er sich bewegte: Prag als Ausgangsbasis, Russland und Palästina als Zwischenstationen, die Vereinigten Staaten von Amerika als Erfüllung und Schlusspunkt.

Kohn, geboren im September 1891, kam aus einer mittelständischen, deutsch geprägten Familie in Prag, in der religiöse Traditionen keine Rolle mehr spielten. Noch als Gymnasiast schloss er sich dem Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba an, dessen Verständigungsbuch Vom Judentum (1913), das mehrere Auflagen erlebte,er redaktionell betreute. Damit sei, schrieb er später, „eine neue Etappe des Zionismus erreicht“ worden. Tatsächlich dokumentiert die Anthologie die vielfältigen Bemühungen um eine Revitalisierung des Jüdischen. Zionismus war dafür eine Chiffre. Mentor dieser Bestrebungen war Martin Buber, der im Verein drei programmatische, 1916 bei Rütten & Loening veröffentlichte Vorträge hielt. Auf die Frage, was Judentum sei, gab er zwei Antworten. Zum einen konstituiere es sich aus den ‚objektiven‘ Elementen Heimat, Sprache und Sitte, zum andern, angesiedelt in der ‚subjektiven‘ Sphäre, durch die „Entdeckung des Blutes als der wurzelhaften, nährenden Macht des Einzelnen“. Dies und nicht jenes sei die eigentliche Substanz, begründe die „tiefere Gemeinschaft“.

Für Kohn war Zionismus „keine Wissenschaft, kein logisches Begriffssystem“, mit „Rassentheorien und Definitionen des Volkstums“ habe er nichts zu tun. Kein „Wissen“ sei es, „sondern Leben“, das sich im „Kampf der Jugend“ gegen „die Alten“ offenbare, gegen „die Trägen, die Müden, die nicht mehr wachsen“ und von keinem „Sturm der Begeisterung“ mehr aufgerüttelt werden könnten. In solchen Sätzen, die Kohn dem Sammelband von 1913 als Geleitwort mitgab, steckte viel von der damals virulenten Rebellion gegen die Welt der Erwachsenen, gegen Prozesse der Individualisierung, gegen die Rationalisierung der Lebensgestaltung, gegen Materialismus und technischen Fortschritt.

Zwei Typen von Juden gebe es, glaubte Kohn zu wissen, der eine sei der „Philister“, äußerlich in „unaufhörlicher Geschäftigkeit“, innerlich jedoch erfasst von „Herzensträgheit“, in „satter Behaglichkeit“ dahin existierend, fern von jedweder Erschütterung, vor allem fern vom „Mute zur Wahrheit“. Der andere hingegen, der „neue Jude“, sei der „ewige Wanderer“, der „verzehrt“ werde von „Sehnsucht nach unerreichbarer Ruhe“, ein Mensch, der gelernt habe, sich mit seiner „geschichtlichen Gemeinschaft“, an die er das eigenen „Wachstum“ binde, zu identifizieren. „Wir sind heute Juden“, postuliert Kohn, „Juden der Abstammung, der Geschichte nach, in unserem Denken und Fühlen durch die Faktoren des Blutes bestimmt“, heißt es in Anlehnung an Buber. In diesem Sinne müsse das Judentum „wieder ein lebendiger Fluß werden“, müsse „Starrheit und Verknöcherung“ aufbrechen und „Kraft sammeln zur erlösenden Tat“.

In dergleichen Wendungen war viel konventioneller, anderenorts ebenfalls geläufiger Kulturpessimismus enthalten. Kohns Freund und Weggefährte Robert Weltsch hat den Habitus in der Vereinigung Bar Kochba rückblickend als „unbürgerlich, maßvoll revolutionär, feindlich der ‚mechanisierten‘, von Geschäft und Vergnügen beherrschten Umwelt“ beschrieben: „Wir betrachteten den Zionismus als die Losung einer Erneuerung von Grund auf. Rationalismus war uns ein negativer Begriff.“

Auch die Anklänge an das volkliche Denken der antifranzösischen und antinapoleonischen Romantik sind nicht zu übersehen, nur dass hier der deutsche Nationalismus in einen spezifisch jüdischen transformiert wurde. Kohn hatte an der Ausformung dieser Auffassungen, wie Romy Langeheine zeigt, erheblichen Anteil. Dabei dachte er zeitlebens in Dichotomien: Anfangs ging es um Orient versus Okzident, jener ein Ort der Sehnsucht, des Aufbruchs, der wahren Identität, dieser das Symbol für die Entfremdung der Juden von ihrer historischen Aufgabe, für die selbst verschuldete Abkehr von den Wurzeln des Volkstums und Volksglaubens, für den Irrweg der Assimilation.

Realisiert werden sollte dieses Programm in Palästina: im Sinne eines Kultur-, nicht im Sinne eines Nationalzionismus. „Ethischer Nationalismus“ war dafür eine Art Synonym. Eroberung im Geiste des Imperialismus sollte und durfte das Ziel nicht sein. Das hat Kohn immer wieder, auch gegen mannigfache Widerstände, betont. Zu allererst hieß das, einen modus vivendi mit der eingesessenen Bevölkerung zu finden. Das war das, was man unter „Araberfrage“ rubrizierte, deren Lösung freilich rasch an Grenzen stieß. Kohn schwebte ebenso wie Martin Buber ein binationales, auf gegenseitiger Achtung beruhendes Gemeinwesen vor. Dazu gehörte als Basis eines gedeihlichen Miteinanders nicht zuletzt Sprachunterricht in den Schulen, arabisch für die Juden und hebräisch für die Araber. Auf diese Weise sollte Verständnis für das Herkommen und die religiösen Überlieferungen des jeweils anderen geweckt und befestigt werden. Darin schwang allerdings immer die Erwartung mit, dass die Juden dereinst die Mehrheit der Einwohner stellen würden, das Hebräische dadurch Vorrang vor dem Arabischen haben würde.

An dieser Vision hielt Kohn unbeirrt fest. Daran änderte auch die fünfjährige Kriegsgefangenschaft in Russland nichts, während der sich seine zionistischen Positionen eher profilierten als abschwächten. Nach der Entlassung ging er über Paris und London nach Jerusalem, wo er seit 1925 als Beamter des 1920 gegründeten Keren Hajessod tätig war, eine Fundraising-Agentur, befasst mit der Finanzierung der jüdischen Aufbauarbeit in Palästina. Nebenher engagierte er sich im Brith Shalom, dem Friedensbund, der für das friedliche Mit- und Nebeneinander von Juden und Arabern eintrat.Kohn verband dies mit der Erwartung, seine bis dahin theoretisch formulierten Perspektiven nun in die Praxis überführen zu können. Ihm war es um nichts Geringeres zu tun, als eine neue Form des Zusammenlebens der Völker zu schaffen, Palästina sollte durch die Initiative der jüdischen Einwanderer Vorbild werden für eine, wie Langeheine formuliert, „transnationale“, die „Nationalitäten übergreifende politische Ordnung“. Das sei die eigentliche, zudem gottgefällige Mission des Judentums, war Kohn überzeugt. Als negative Folie figurierte Österreich-Ungarn, das deshalb zugrunde gegangen sei, weil es versäumt hatte, seinen Völkern rechtzeitig politische und kulturelle Autonomie zu gewähren.Mehrheitsfähig war dies alles nicht, die Resonanz auf seine Thesen und Schriften blieb begrenzt. Enttäuscht zog Kohn 1929 die Konsequenzen und brach mit dem real existierenden, in Palästina zunehmend nationalistisch gewordenen Zionismus, dem er fortan, auch später dem Staat Israel, mit kritischer Distanz begegnete. 1934 ließ er sich endgültig in den Vereinigten Staaten nieder, erwarb die Staatsbürgerschaft, erfüllte sich einen Lebenstraum und wurde Professor für Geschichte, zunächst am Smith College in Northampton, Massachusetts, danach am City College New York. Die Eingliederung in die amerikanische Gesellschaft und das dortige Hochschulsystem fiel ihm leicht, er war ein erfolgreicher, begehrter Redner und Publizist.

Das Werk, das zumindest den Spezialisten auch heute noch geläufig ist, war seine 1944 herausgebrachte Studie über die Idee des Nationalismus. Dessen universaler Gehalt, in der die Völker ihren je eigenen Wert bewahren und doch eingebettet sind in einer globalen, die Menschheit umspannenden Ordnung, wird „nun nicht mehr durch die jüdische Nation verkörpert“, konstatiert Langeheine, „sondern durch die amerikanische“. Die Dichotomie Orient – Okzident verwandelt sich eine solche zwischen dem (kommunistischen) Osten und dem (liberal-demokratischen) Westen. Zum „Neuen Kanaan“, das zuvor in Palästina beheimatet war, werden die Vereinigten Staaten. Das bleibt die Position auch in den Jahren nach dem Zusammenbruch des europäischen Faschismus, wird bestätigt und in der Epoche des Kalten Krieges elaboriert.

Bemerkenswert ist, dass Kohn über den von den Deutschen ins Werk gesetzten Judenmord in der Öffentlichkeit kein Wort verliert. Jedenfalls beteiligte er sich „an den jüdisch-amerikanischen Erinnerungsdebatten“ nicht, wohl deshalb, wie die Autorin vermutet, „um keine partikularen Loyalitäten auszudrücken, die seine Integration in die amerikanische Gesellschaft eventuell in Frage gestellt hätten“.

Titelbild

Romy Langeheine: Von Prag nach New York. Hans Kohns intellektuelle Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
248 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835315495

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