Das Wunder der Welt

In seinem Roman „Grundriss eines Rätsels“ lässt Gerhard Roth sein auktoriales Alterego Philipp Artner sich selbst aufheben

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerhard Roth liebt es, die Welt in ihrer verwirrenden Komplexität zu erzählen. Darin mit eingeschlossen ist stets auch der Schriftsteller selbst als Autor und Protagonist. In seinem neuen Roman Grundriss eines Rätsels heißt dieser Philipp Artner. Er trägt biographische Züge von Roth, und ist doch eine eigenständige Kunstfigur.

Weil sein Haus am Wiener Heumarkt umgebaut wird, sieht sich Artner gezwungen, der Lärmbelästigung zu entfliehen. Er macht sich auf die Pirsch durch die Stadt. Für Artner ist die Welt ein Text: „eine endlose Schrift, ein Buch, das sich selbst immer weiter schreibt“. Dergestalt lädt sie zum „Lesen“ ein. Jede Erscheinung konnte „Schriftzeichen sein, selbst der Vogelschwarm schreibt Worte in den Himmel“.

Auf seinen Streifzügen besucht Artner auch die Psychiatrische Klinik in Gugging mit ihren wunderlichen Künstlern (die Roth schon mehrfach porträtiert hat), oder er begegnet einer rumänischen Touristin, die ihn bei der Wotruba-Kirche verführt. Schließlich endet die Flucht vor dem Lärm abrupt, als Artner am Heumarkt mitsamt Haus und Mobiliar in die Luft fliegt. Sein eigener Kopf explodiert just in dem Moment, als er dachte, „er verstehe nichts und habe vermutlich nie etwas verstanden“. Durch diesen Unfall wird auch sein letztes Manuskript vernichtet, ein Roman, in dem Artner „die sichtbare und die unsichtbare Wirklichkeit – wie die Klein’sche Flasche – zugleich außen und innen“ abbilden wollte, als ein Kontinuum, bei dem man nicht weiß, „welche der beiden Seiten die äußere und welche die innere sei“.

Damit beginnt das zweite Leben des Autors Artner als Projektionsfigur. Der Doktorand Vertlieb Swinden nimmt sich Werk und Person vor, indem er sich Artner, als ein germanistischer Stalker, anverwandelt und einverleibt. Swinden reist in die Südsteiermark, wo Artner zeitweise lebte. Er trifft Artners Geliebte Pia und ihrem gemeinsamen Sohn Gabriel, und schleicht sich in beider Leben ein. Hier auf dem Land verdichten sich die „Nebensächlichkeiten“ zeichenhaft. Das Land ist keine Idylle, sondern ein konzentrierter Kosmos, in dem sich der Rechtsextremismus zuspitzt und Ausländermorde ereignen. Die trügerische Stimmung wirkt gespenstisch, und nichts vermag die offensichtliche Entvölkerung des Landstrichs vergessen zu machen. Allmählich beginnt Swinden zu ahnen, dass sein Leben irgendwie fremd bestimmt sein könnte – bis er Gewissheit erhält, dass er nichts weiter ist als „eine Figur Artners“. In dem angeblich zerstörten letzten Manuskript, von dem er bei Pia eine Abschrift findet, beschreibt Philipp Artner wortwörtlich, was Vertlieb Swinden in diesem zweiten Kapitel von Gerhard Roths Roman erlebt. Swinden vernichtet den Text, dann erleidet er einen Nervenzusammenbruch.

Gerhard Roths Spiel mit Wahn und Wirklichkeit – ein zentraler Topos in seinem Werk – verdichtet sich zu einem subtilen Gewebe aus ästhetischen Betrachtungen und allzu menschlichen Geschichten. Die Natur und ihre schleichende Zerstörung, die menschliche Gemeinschaft mit ihren Schwindeleien und Halbwahrheiten, das großartige kulturelle Erbe in Form von Landkarten, Kunst und Büchern – alles ist Teil eines Kosmos, dessen Gesetze lesbar sind wie ein geheimer Text in fremden Zeichen. Präzise in der Sprache, verbindet Roth die disparaten Themen auf eine geradezu traumwandlerische Weise. Die wiederkehrenden Motive – Affen, Melvilles „Moby Dick“ und andere – erhalten etwas Zwingendes, ohne dass sich exakt benennen ließe, welche tieferen Absichten der Autor mit ihnen verfolgt. Die Erzählung selbst erhält etwas Rituelles, sie erweckt den Eindruck, als ob ein unbekannter Schreiber – der tote Artner? – das Geschehen von außen betrachtet und registriert. Dennoch kommt die Erzählung den geschilderten Personen nahe.

Nach Artners Verschwinden und Swindens Nervenzusammenbruch geht die Erzählperspektive zuerst auf Pia über, dann auf ihren und Artners Sohn Gabriel, schließlich auf Artners Witwe Doris. Die Themen werden aus anderer Optik variiert und mit losen Enden weiter erzählt – bis Artner im letzten Kapitel zurückkehrt.

Stutzig macht die chronologische Ordnung des Buches, die verworren anmutet. Angenommen, Artner stirbt ums Jahr 2010 herum – er hantiert mit einem iPhone, das ab 2007 auf den Markt kam –, dann spielen Gabriels Erinnerungen (Kap. 4) zwischen 2035 und 2040, auch wenn der Text keinerlei Hinweise auf die Zukunft gibt. Zeitlich dazwischen angesiedelt ist die Reise von Doris ins winterliche Japan (Kap. 5). Das mag kleinlich hochgerechnet sein, nicht zu übersehen ist indes, dass uns Gerhard Roth mehrfach und gerne aufs Glatteis der Wahrnehmung führt. Die bereits zitierte „Klein’sche Flasche“, mit der das 2. Kapitel überschrieben ist, wird von ihm formal realisiert, indem er die Handlung gleichsam in sich selbst hinein stülpt und so ein räumliches Kontinuum von Innen und Außen schafft. Das erinnert an den jüngst erschienenen Roman Seltsame Schlaufe von Rolf Niederhauser.

Schon im Vorspann wird mit einem Zitat von Andrej Tarkowski auf die komplexe Zeitstruktur angespielt: Zeit stellt demnach einen Zustand dar, in dem die menschliche Seele „zu Hause ist wie der Salamander im Feuer“. Alles geklärt?

Man mag es drehen und wenden wie man will – am Ende muss der Titel ernst genommen werden. Ein Grundriss bezeichnet die zweidimensionale Abbildung eines komplexeren, mehrdimensionalen Gebildes (Leben, Welt, Werk), das über diese abstrakte Skizze hinausweisend ein unentschlüsseltes Rätsel bleibt. Artner verschwindet, und hat sein Ende vielleicht nur erfunden mitsamt einer Mutmaßung darüber, wie er bei den andern in Erinnerung bleibt. Er hat schon lange über sein Ableben nachgedacht: „Es schien ihm als ein geradezu poetischer Akt, sozusagen im Leben zu sterben und im Leben ein Weiterleben nach dem Tod zu erfahren. Das erste Leben abzuschließen und das zweite Leben als Jenseits aufzufassen.“

Vielleicht ist er auch tatsächlich verschwunden, nurmehr schattenhaft als Objekt von Projektionen zurückbleibend: in der Person Swindens als Vorbild fürs eigene Leben bis hin zum Gefühl, die Autonomie an die vorgeschriebene Figur zu verlieren; bei Doris und Pia als geliebter und zugleich schwieriger Partner, dem sie beide zahlreiche Anstöße und Erkenntnisse verdanken; bei Gabriel als Vater, der den Sohn zur Liebe mit seiner Frau Doris verführt, damit er den Kreis schließe und gleich wieder durchtrenne; beim zuletzt wiederkehrenden Artner als literarische Figur seiner selbst.

Die Klein’sche Flasche hat weder Anfang noch Ende. Die Wirklichkeit ist kein logischer Prozess, sinniert Artner, „sondern ein zufälliges Gemisch aus Sichtbarem und Unsichtbarem“. Swinden erweitert diesen Gedanken, indem er nur an den Zufall glaubt, denn täte er es nicht, „müsste ich an Gott glauben und dass alles Vorbestimmung sei“. Aber ist Swinden nicht ein Geschöpf des Schöpfer-Gottes Artner? Eine Lösung für sein narratives Paradoxon bietet Gerhard Roth nicht. Gewiss bleibt einzig, dass der Schriftsteller seine Idee der Welt, so unzuverlässig und lückenhaft sie sein mag, literarisch zu realisieren vermag. Einerlei, ob er autobiographisch und wirklichkeitsgetreu schreibt: „Trotzdem verwandelte sich beim Schreiben alles in Erfindung.“

Wahn oder Wirklichkeit? Leben oder Inszenierung? Das Rätsel ist unlösbar. Mit Sicherheit aber erkennen wir in diesem rätselhaften Roman die sichere Handschrift Gerhard Roths wieder; seine präzisen, anspielungsreichen, sinnlichen Bilder, Lektüren, Pläne und historischen Assoziationen, die sich – ohne letzte Schlüssigkeit – zu einem Kosmos der Nebensächlichkeiten formen, der endlich vielleicht das Ganze wäre.

Es ist diese akkurate Wahrnehmung, die sich als persönliche Ästhetik im Sinn einer schillernden, anregenden „Aisthetik“ herausschält. So braucht es im Einzelnen keine gültige Antwort darauf, wie die sich wandelnden Leitmotive letztlich zusammenfügen, sie werden eins mit dem Schnee, der durch das ganze Buch die Landschaft bedeckt und unter sich aufhebt.

Titelbild

Gerhard Roth: Grundriss eines Rätsels. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014.
514 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783100660688

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