Möglichkeit statt Utopie

Michael Schindhelms „Lavapolis“ ist eine politische Heterotopie, die so realistisch erscheint, dass sie jeden Pessimisten enttäuschen muss

Von Sabrina WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabrina Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alles ist möglich. So jedenfalls lautet die Ausgangsvermutung des Gedankenexperiments eines Gegenortes, der scheinbar einander widersprechende Ideen und Möglichkeiten in sich vereint. Matthias Schindhelm entwirft eine Heterotopie namens Lavapolis. Diese „Wunderinsel im Mittelmeer“ will eine Alternative sein im „stürmischen Weltmeer des entfesselten Geldkapitalismus“. Dieser Ort ist das Plädoyer für einen Lebensraum, der seinen Namen insofern verdient, als er tatsächlich ein Raum zum Leben sein will. In den Worten eines Inselbewohners bedeutet das: „Lebensräume sollen einem das Gefühl geben, in ihnen aufgenommen zu sein.“ Dort nehme jeder „den Platz ein, den man sich selbst ausgesucht hat“.

Welcher Platz das für jeden Einzelnen sein soll und kann, davon erzählen die Inselbewohner, die hier nach einander zu Wort kommen. Nach Alter und Herkunft unterscheiden sie sich genauso wie nach ihren jeweiligen politischen Überzeugungen und moralischen Wertvorstellungen, unter ihnen die französische Dichterin Simone, die beiden illegal auf der Insel lebenden Aktivisten Karen und Friday – sie aus den USA, seine Herkunft unbekannt –, der Unternehmer und dreifache Familienvater portugiesisch-brasilianischer Abstammung namens Fabio, der britisch-mazedonisch-stämmige Journalist Stascha oder auch der bereits 103-jährige „Kolonist der ersten Stunde“, Diamantis. Sie und andere sollen einen Querschnitt durch unsere globalisierte Gesellschaft repräsentieren, wenn sie von ihren Visionen und Motiven berichten, ihr altes Leben verlassen zu haben, um auf der Insel einen Neubeginn zu wagen. So unterschiedlich dabei die einzelnen Positionen auch sein mögen, sie alle eint das Unbehagen an einer Gegenwart, die das Menschliche und seine ureigenen Bedürfnisse mehr und mehr zu verdrängen scheint. Es gibt keine Erzählstimme, die eine Wertung der einzelnen Positionen und Wertvorstellungen vornimmt, stattdessen wird hier Raum für noch so unterschiedliche, sich teils widersprechenden Ideale gegeben.

Das ist das eigentlich Spannende an diesem Experiment: Nicht etwa eine starre Heterotopie, die in einem Außen und Dagegen verbleibt, sondern eine „dynamische Heterotopie“ zeichnet Schindhelm hier, die sich unentwegt verändert und erneuert. Dadurch gelingt es, die vermeintlichen Widersprüche aufzulösen, indem sie nicht etwa als störend oder gefährdend erscheinen, sondern sich vielmehr als konstitutiv für diesen Ort erweisen.

Die geistigen Väter seines Gedankenexperiments nennt der Autor selbst am Ende seines Buches: Foucault, Benjamin und Baudelaire. Und dies sei vorweg genommen: Im Vorteil ist derjenige Leser, dem die Ideen dieser Denker zumindest in Grundzügen geläufig sind. Denn nicht nur ist Schindhelms dichte Darstellung äußerst voraussetzungsvoll, sondern zuweilen auch sehr akademisch-wissenschaftlich in Ton und Wortwahl. Doch es lohnt sich, sich mit diesen Ideen zu beschäftigen.

Um nur einige der zentralen Gedanken herauszugreifen, sei auf den letzten Abschnitt des Buches verwiesen, der den Erzählungen der Inselbewohner folgt. Unter der Überschrift „Meist gelesene Artikel“ geben hier kurze Texte Auskunft über das konkrete Konstrukt der Insel. Ihre Regierungsform, so erfährt der Leser, nennt sich „populistische Demokratie“. Dort haben politische Parteien ausgedient, stattdessen wählen die Bürger Programme und Themen, die jeweils durch einen Vertreter repräsentiert werden. Weitere Artikel widmen sich der „intensiven Einwanderungspraxis“ unter der Prämisse eines Weltbürgertums, das keine nationalen Grenzen mehr kennt, oder der Wirtschaftsentwicklung und staatlichen Sozialfonds, die solche Arbeiten fördern, die, wie zum Beispiel Kultur oder Bildung, zu den „unrentablen Produktionszweigen“ zählen. Ihnen wird hier eine existentielle Bedeutung für die Entwicklung der Conditia Humana zuerkannt. Sowie überhaupt der feste Glaube an das alle und alles verbindende Humanum Ausgangspunkt und Motiv jeder Idee auf Lavapolis ist. Seinen juristisch institutionellen Ausdruck findet diese Grundvoraussetzung in der Charta der Grundrechte der Insel: Die real existierende Erklärung der Vereinten Nationen wurde hier um das Prinzip der „universellen Solidarität“ ergänzt. Gerade dieses Prinzip – „das Gemeinsame kommt vor der Differenz“ – unterstreicht den unerschütterlichen Glauben der Insulaner an das Humanum.

Wem die zahlreichen Gedanken in diesen Artikeln ein wenig zu kurz geraten oder eben nur angeschnitten erscheinen, der hat die Möglichkeit, sie weiter zu verfolgen und zu diskutieren. Denn Schindhelms Buch ist lediglich ein Teil eines umfassenderen, multi- oder cross-medialen Kunstprojektes – entsprechend ‚cross-medial’ wird auch im Buchtext zweimal auf die dazugehörige Internetseite http://www.lavapolis.com verwiesen. Auf der interaktiven Website kann man das Projekt nicht nur verfolgen, sondern mit der Registrierung und einem eigenen Account selbst Teil des Gedankenaustauschs werden.

Sicher provozieren einzelne Ansätze Widerspruch, und so manches kann und sollte kontrovers diskutiert werden – seien es nun die Kriterien der Einwanderungsbehörde oder auch die hier nicht weiter erläuterten Institutionen der Insel wie das „Vorhersagezentrum“ oder die „Universal-Agora“ –, doch dass dieses Buch oder vielmehr dieses Gesamtprojekt Lavapolis sie überhaupt formuliert und damit einer Debatte stellt, ist sein großes Verdienst. Denn so weiß auch Friday, eine Aktivistin im Buch: „Gut, das hier ist vielleicht tatsächlich eine Heterotopie. Aber überlebt eine Heterotopie? Das weiß niemand. Es lohnt sich allerdings auch nicht, den ewigen Bedenkenträgern zu Hause stumpf beizupflichten. Meine Freunde und ich, wir haben genug von diesem Pessimismus.“ Und Pessimismus ist die Sache dieses Autors sicher nicht, hier will einer eingreifen und verändern und glaubt dabei an die Kraft seiner Sprache und seiner Kunst.

So monierten Michael Schindhelm und die Schriftstellerkollegen Matthias Politycki, Thomas Hettche und Martin R. Dean in einem ganz ähnlichen Tenor bereits vor einigen Jahren den von ihnen so diagnostizierten Bedeutungsverlust wie die fortschreitende Substanzlosigkeit in der Gegenwartsliteratur. Als „Manifest für einen Relevanten Realismus“ wird heute in der Literaturgeschichte geführt, was die Schriftsteller 2005 in einem Artikel in der Zeit formuliert hatten. Die Autoren forderten eine Abkehr vom postmodernen anything goes hin zu einer relevanten Verbindlichkeit in der Gegenwartsliteratur – relevant insofern, als hier kritische „Zeitgenossenschaft“, so die Autoren, „von einem ästhetischen Standpunkt her“ betrieben werden sollte. Relevanter Realismus bedeutete für sie „aus dem Druck zeitgenössischer Erfahrung resultierendes Erzählen“. Wenn auch jeder der damals beteiligten Autoren in den vergangenen Jahren den mit viel Pathos formulierten Auftrag inzwischen relativiert und modifiziert hat, so bleibt es doch, so scheint es jedenfalls, der gleiche Impetus, der Schindhelm zu diesem heterotopischen Kunstprojekt Lavapolis antreibt.

Doch so ambitioniert, intelligent und kreativ Schindhelm hier, wie 2005 programmatisch gefordert, „um neue Utopien ringt“, so sehr zeigt Lavapolis die Gefahren einer Gradwanderung zwischen Realismus, ästhetischem Anspruch und moralischer Intention: Zuweilen scheinen Moral und Aufklärerintention des Autors holzhammerartig vorzubrechen, an anderer Stelle wieder wirkt der ästhetische Anspruch allzu enthoben. Und schließlich sei auch zu bedenken: Relevanz, die die Autoren 2005 forderten, setzt eine gewisse Verständlichkeit voraus. In dieser Hinsicht bewegen sich Kunstprojekte wie dieses immer an einer Grenze, bis zu der sie in ihrer manchmal selbstverliebt erscheinenden Intellektualität gerade noch so über einen eingeschworenen Kennerkreis hinaus rezipiert werden.

Titelbild

Michael Schindhelm: Lavapolis.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2014.
240 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783957570048

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