Alles ganz normal vor achtzig Jahren

Maria Leitners Roman über den Alltag im Nationalsozialismus

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Maria Leitner gehört zu den seit einigen Jahren neu entdeckten und lange verschollenen Autorinnen, die sich kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt haben. Dies ist vor allem dem Engagement von Helga und Wilfried Schwarz zu verdanken. Von beiden Editoren wurde der Band „Maria Leitner: Mädchen mit drei Namen. Reportagen aus Deutschland und ein Berliner Roman 1928-1933“ herausgegeben. Damit stehen dem Leser erstmals wieder Arbeiten von Maria Leitner zur Verfügung, die einen Einblick in das in vielen Zeitschriften und Exilpublikationen der Dreißigerjahre verstreute Werk der Autorin geben. Maria Leitner wurde 1892 in Ungarn geboren und war eine deutschsprachige ungarische Journalistin und Schriftstellerin. Sie stand dem linken politischen Spektrum nahe und engagierte sich in vielfacher Hinsicht gegen den Nationalsozialismus in Deutschland und den angrenzenden Ländern.

Der vorliegende Band enthält ihren Roman „Elisabeth, ein Hitlermädchen“ und eine Reihe von Reportagen, die sie teilweise inkognito und unter falschem Namen im nationalsozialistischen Deutschland recherchierte. Heute würde man sie eine investigative Journalistin nennen, die mit dem journalistischen Aufklärungswillen eines Günter Wallraff ihre Reportagen anging. Es entstanden Berichte über die „Giftküchen von Höchst“, über „Solingen – wo sie Waffen schmieden“ und über die „Chemische Hölle bei der IG Farben“. Dabei richtet sie vor allem immer ihren Blick auf die Arbeitssituation der Frauen, die der Ausbeutung durch die nationalsozialistische Industrie nahezu schutzlos ausgeliefert waren. In einem Bericht über das Saarland interviewt sie eine Schreibkraft, die mit kurzen Worten die Situation zusammenfasst: „Man kann uns ausbeuten, wie man will. Wenn wir uns über unbezahlte Überstunden beschweren würden, kämen wir auf die Liste. Das bedeutet: Arbeitslager. Eine Kündigungswiderrufsklage ist unzulässig. Wie sind Sklaven. Wie leben unter Zwang. Auch im Privatleben.“

In dem Roman „Elisabeth, ein Hitlermädchen“ setzt Leitner diese Erkenntnisse aus den Reportagen in Prosa um. Leicht geschrieben und für ein breites Publikum konzipiert, werden die Lebensumstände einer Schuhverkäuferin geschildert. Ihr Arbeitsalltag, der Glaube an die guten Absichten der Nationalsozialisten, erste Liebe und die Einschränkungen und Eingriffe, die sich der Staat in Arbeits- und Privatleben erlaubt, werden detailliert beschrieben. Dabei steht für Leitner eher die politische Aussage im Vordergrund als die literarische Gestaltung von Charakteren und Stoff. Wichtig ist allerdings, dass die Hauptfigur eine Entwicklung von einer nationalsozialistischen Mitläuferin zur kritischen Persönlichkeit durchlebt und gleichzeitig einen hohen Grad an Identifikationspotential aufweist. Dass Leitner hier auch ein über den Nationalsozialismus hinausweisendes Werk geschrieben hat, mag man nicht unbedingt vermuten, doch ersetzt man die Ideologie des Nationalsozialismus durch eine andere autoritäre Diktatur oder vielleicht sogar durch eine Diktatur des Konsums, treten plötzlich viele Parallelen zur Gegenwart auf. Vor allem ermöglicht ihr eingängiger, an ordentlichem journalistischem Handwerk geschulter Stil dem heutigen Leser viele Erkenntnisse über den Alltag des Nationalsozialismus.

Titelbild

Maria Leitner: Elisabeth, ein Hitlermädchen. Ein Roman und Reportagen (1934-1939).
Herausgegeben und kommentiert von Helga und Wilfried Schwarz.
AvivA Verlag, Berlin 2014.
393 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783932338649

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