Verfallsdatum: 18 Jahre

Lola Lafons Roman über die rumänische Turnlegende Nadia Comăneci

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 18. Juli 1976 geschah Außerordentliches: Die erst 14-jährige Nadia Comăneci erreichte an den Olympischen Spielen in Montreal am Stufenbarren als erste Turnerin überhaupt die Höchstnote 10. Die elektronische Anzeige war auf diesen bis anhin für undenkbar gehaltenen Fall gar nicht vorbereitet: Als die Jury ihr Verdikt gefällt hatte, blinkte eine irritierende 1,00 auf. Erst nach einem Augenblick der Verwirrung begriff das Publikum, dass hier Historisches geschehen war. Ein neuer Star war geboren, die „kleine Fee von Montreal“!

Die französische Schriftstellerin Lola Lafon, die einen Teil ihrer Kindheit in Bukarest verbracht hat, erzählt in ihrem Roman „Die kleine Kommunistin, die niemals lächelte“ die ungewöhnliche Biografie der rumänischen Ausnahmeturnerin nach. Zwei Angelpunkte prägten dieses Leben: Die Olympischen Spiele, an denen Comăneci insgesamt drei Gold-, eine Silber- und eine Bronzemedaille gewann. Und das Jahr 1989, als die junge Frau, die ihre Karriere schon längst beendet hatte, kurz vor dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes von Nicolae Ceauşescu über die grüne Grenze nach Ungarn und weiter in die Vereinigten Staaten floh. Dazwischen erlebte Comăneci eine kometenhafte Karriere, die nur wenige Jahre dauerte.

Lola Lafon versteht ihr Buch als Roman und stellt dies in einer Vorbemerkung auch sofort klar. Sie schildert die allgemein bekannten Fakten von Comănecis Leben mehr oder weniger chronologisch, blickt dabei aber hie und da auch zurück. Daneben erfindet die Autorin einen Austausch zwischen Comăneci und ihr selbst, dem sie die Form von Telefongesprächen und schriftlicher Korrespondenz gibt. Damit bezweckt sie zweierlei: Sie will die Lücken füllen, wenn die Fakten nichts mehr hergeben und die Heldin schweigt. Und sie versucht – wenn auch stets tastend und fragend, mit aller gebotenen Vorsicht –, die Lebensgeschichte der Nadia Comăneci zu interpretieren.

Dieser Ansatz könnte gewiss auch scheitern – dann nämlich, wenn die Autorin den Anspruch verfolgte, eine gültige Version durchzusetzen. Doch der Autorin geht es viel eher darum, relevante Fragen zu Comănecis Leben und Karriere aufzuwerfen. Dabei spekuliert Lafon durchaus; sie tut dies aber im allerbesten Sinn: Sie entwickelt Annahmen und formuliert Hypothesen. Sie lässt diese stehen oder verwirft sie wieder, um sogleich wieder neue Aspekte in den Blick zu nehmen. Lafon lotet Comănecis „Geschichte“ bis in deren fernsten Winkel aus und versucht das zu ergründen, was sich aus den Fakten nicht von selbst ergibt.

Immer wieder interessiert sich Lafon für das eine Thema: Wem gehörte letztlich der Körper dieser Turnerin? Der kleinen Nadia selbst, die ein noch so junges Mädchen ist, als sie in die Turnschule aufgenommen wird? Dem ehrgeizigen Trainer, der mit Nadia seine eigenen Ziele verfolgt, ihr ein Leben erfindet, mit Drill und genau kalkuliertem Essprogramm? Dem kommunistischen Staat Rumänien, unter dessen Flagge die Sportlerin bei internationalen Wettkämpfen auftritt und der sich gerne mit ihren Leistungen schmückt? Oder aber der Presse auf der ganzen Welt, welche die wundersame Karriere der jungen Rumänin zunächst enthusiastisch begleitet, ihr aber schon bald ein „Verfallsdatum“ mit 18 Jahren prognostiziert, weil sich ihr Körper zu verändern beginnt, weil sie biologisch zur Frau wird? – Natürlich ließen sich solche Fragen angesichts sehr vieler Sportlerkarrieren stellen. Lafon zeigt jedoch, wie sich mit Nadia Comăneci gewissermaßen eine einmalige Konstellation ergibt, in der sich diese Frage geradezu beispielhaft verdichten.

Lafon zitiert immer wieder die damalige Berichterstattung über das rumänische Ausnahmetalent und zeigt sich selbst verblüfft darüber, auf welch penetrante, ja unverschämte Art und Weise Nadia Comănecis Wandlung vom Kind zur Frau mitunter kommentiert wird: So beklagten die Journalisten ausführlich den Wegfall des kindlichen Reizes, als das Mädchen allmählich zur Frau wurde. Kein Wunder, dass die verstörte Nadia selbst die einsetzende Menstruation zunächst als Tragödie, als Krankheit wahrnahm, die ihre Karriere bedrohte.

Breiten Raum räumt Lafon der Frage ein, inwieweit sich Kommunismus und Kapitalismus nicht auch ähnelten, wenn es um den Umgang mit Sport ging. Gehörten die Sportler nicht in beiden Fällen zu einem großen Teil auch dem „System“, das sich seine Athleten zu Repräsentationszwecken quasi hielt? Lafon erinnert dabei auch an eine unterdessen vergessen gegangene Episode aus der politischen und der Sportgeschichte: Obwohl Rumänien Mitglied im Verteidigungsbündnis „Warschauer Pakt“ war, hatte es unter Nicolae Ceauşescu 1968 nicht am Einmarsch in Prag teilgenommen. Ceauşescu verfolgte zu jener Zeit innerhalb des sowjetisch kontrollierten Ostblocks einen relativ eigenständigen Kurs – was ihm übrigens in den 1970er Jahren das Wohlwollen des Westens einbrachte. Ceauşescu war der Meinung, die rumänischen Turnerinnen stünden nicht nur mit dem kapitalistischen Westen in einem Wettstreit; nein, Nadia und ihre Mannschaftskolleginnen sollten auch den verhassten sowjetischen Turnerinnen die Show stehlen. Gleichwohl fragt sich Lafon aber auch, welchen Anteil Nadia Comănecis eigene Entscheidungen an ihrer Karriere haben mochten. Die Autorin scheint jedenfalls zur Ansicht zu neigen, dass es wohl zu einfach wäre, die Turnerin bloß als einen Spielball der Funktionäre zu betrachten.

Wie gewissenhaft Lafon Comănecis Geschichte aufzuarbeiten versucht, zeigt die ganze Reihe weiterer Themen, welche die Autorin anspricht: Im Roman geht es beispielsweise auch um das Verhältnis von Provinz und Zentrum im damaligen Rumänien. Alles Wesentliche konzentrierte sich damals in Bukarest – im Besonderen waren dort auch die Funktionäre und Minister zu finden, denen man hofieren musste, wenn man sich ihre Unterstützung sichern wollte. Doch Trainer Béla Károly hat seine Turnschule im moldauischen Städtchen Oneşti aufgebaut – wo er schon bald ganz zufällig auf Nadia Comăneci aufmerksam wurde. Überhaupt verliert Lafon auch die Person des Trainers nicht aus dem Blick: Károly und seine Frau, mit der er die Schule leitete, gehörten der ungarischen Minderheit in Rumänien an. Lafons feines Ohr hat in der Geschichte von Nadia Comăneci auch die ethnischen Animositäten registriert, die bisweilen mitschwangen: Ceauşescu und die Bukarester Sportelite mochten die Károlys nicht, hielten diese für ungarische Emporkömmlinge. Ceauşescu hat in den 80er Jahren im Zuge einer Rumänisierungskampage die nationalen Minderheiten übrigens sprachlich zu „mitwohnenden Nationalitäten“ deklassiert.

Auch auf die mögliche Rolle der gefürchteten Geheimpolizei Securitate in Comănecis Biografie geht Lafon ein, denn die Turnerin wurde eine Zeitlang auch überwacht. Und nicht zuletzt interessiert sich Lafon auch für Comănecis kurze Beziehung zum Sohn des Dikators, Nicu Ceauşescu, gegen Ende der 80er Jahre, über deren genauen Charakter bis heute heftig spekuliert wird. Hier kommt auch Lafon nicht weiter – sie scheitert gewissermaßen an der Verschwiegenheit der „fiktiven“ Nadia in ihrem Roman. Gerade das wird aber zum Beweis für Ihre Souveränität im Umgang mit dem Material.

Das vielleicht eigentliche Thema des Romans, das zunächst weniger offensichtlich sein mag, ist aber wohl die Frage nach der Autonomie unseres Handelns. Aus welchen Beweggründen tun wir, was wir tun? Entscheiden wir selbst, oder reden wir uns das nur ein? Welchen Anteil hatte Nadia Comăneci an ihrem eigenen Leben? Was war der Beitrag der Eltern, der Trainer, des Staats, der Kommunistischen Partei? Und inwieweit hat selbst die Öffentlichkeit an dieser Biografie mitgewirkt?

Lafons Buch zeugt von großer Sensibilität ihrem Thema gegenüber, weil die Autorin die erwähnten Aspekte beleuchtet und deren grundsätzliche Bedeutung für die „Konstellation Nadia Comăneci“ erfasst. Lafon überzeugt aber auch in der Sprache ihrer Annäherung an das Phänomen Comăneci: Sie erfindet Wörter wie „Orchideen-Soldatinnen“ und probiert immer neue Beiwörter und Bezeichnungen aus. Sie zitiert dabei auch die damalige Berichterstattung in den Medien. Lafon lässt die Begriffe stehen und schillern: „Karpatenfee“, „Lolita“, „kommunistischer Roboter“, „Elfe“. Die Leser müssen letztlich selbst entscheiden, was denn nun Nadia Comănecis eigentliches Wesen ausmachte.

Lafon hütet sich glücklicherweise vor eindeutigen Festlegungen. Und dies mag in der Tat als größter Vorzug ihres Romans gelten. Nadia Comăneci erscheint vor uns Lesern in ihrer ganzen Vielschichtigkeit. Sie war gewiss nicht nur ein Produkt des Systems; aber sie ist sicher auch nicht die freie Persönlichkeit gewesen, die sie vielleicht hätte sein können oder wollen. Lafon beantwortet die Frage nicht endgültig, wie fremdbestimmt oder wie autonom diese Biografie war. Doch sie liefert hierzu viel äußerst bedenkenswertes Material. Die kleine Kommunistin, die niemals lächelte? Auch Lola Lafon weiß sehr wohl, dass dies nicht die ganze Wahrheit war.

Titelbild

Lola Lafon: Die kleine Kommunistin, die niemals lächelte. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Elsbeth Ranke.
Piper Verlag, München 2014.
280 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783492056700

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