Was macht den Menschen aus?

Über David Vanns verstörenden Roman „Goat Mountain“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit „Dreck“ hat David Vann vor knapp zwei Jahren einen Roman vorgelegt, der die Grenzen des Erträglichen mehr als einmal gestreift, manches Mal auch überschritten hat. Man wusste damals, dass man ein Buch eines Autors liest, der extreme Situationen entwirft und der seinem Personal in diesen Situationen wiederum extreme Reaktionen und Handlungen zuschreibt. Ein wahrhaft konsequenter Schriftsteller. Mit dem genannten Roman schien allerdings auch so etwas wie ein Endpunkt erreicht, die Schraube schien zu Ende gedreht. Doch weit gefehlt. Vann hat es mit seinem aktuellen Buch „Goat Mountain“ geschafft, seine Leser wieder zu verblüffen, zu schockieren, ja, sie ratlos zu machen. Dieser Roman, dessen eigentliche Handlung in wenigen Sätzen zusammengefasst werden kann, besteht zu weiten Teilen aus unglaublichen Thesen über das Alte Testament, die Bibel und den Glauben. Es wäre sicher von großem Reiz, diese gemeißelten Aussagen in einer mit Theologen unterschiedlichen Formats (offen, progressiv oder konservativ) besetzten Diskussionsrunde auseinander zu nehmen. Einstweilen kann hier lediglich über die Handlung, Form und Sprache des Romans berichtet werden.

Eine Männergesellschaft in der amerikanischen Wildnis: Geplant ist eine Art Initiation, denn der elfjährige Sohn und Enkel soll auf der jährlich stattfindenden Jagd seinen ersten Hirsch schießen, soll dadurch zum Mann werden. Außer ihm sind mit von der Partie sein Vater, sein Großvater und Tom, der die Gruppe seit Jahren als Koch, Jagdhelfer und Faktotum vervollständigt. Am Goat Mountain im Norden Kaliforniens hat die Familie ein großes Stück Land. Gleich bei der Ankunft erspähen sie eine fremde Gestalt, und schnell ist diese als Wilderer gebrandmarkt. Noch ehe das Buch und der Jagdausflug richtig begonnen haben, hat der Junge die besagte Gestalt auch schon erschossen.

Der erste Schock. Wie konnte es dazu kommen? Was hat ihn zu dieser überschnellen Entscheidung veranlasst? Warum war das Gewehr bereits geladen? Doch diese gewöhnlichen Fragen sind David Vanns Sache nicht, er macht aus dieser Konstellation eine Tragödie, wie man sie vielleicht einmal pro Dekade liest, wenn überhaupt. Denn fortan verstricken sich vor allem die Erwachsenen, diejenigen, die die Verantwortung tragen sollten, in immer abstruser werdende Handlungen. Vann kehrt die schwarzen Stellen ihrer Seelen nach außen, demonstriert, zu welch wahnwitzigen Reaktionen der Mensch in der Lage zu sein scheint. Vor allem dann, wenn er außerhalb des sozialen Gefüges ist, wenn er sich außerhalb juristischer Normen wähnt und sich selbst zum Richter meint aufschwingen zu können.

Diesen Part hat Vann vor allem dem Großvater zugeschrieben, der die völlig aus dem Ruder gelaufene Angelegenheit damit beenden möchte, indem er den Jungen, das Böse, den Übeltäter, den Mörder töten möchte. Damit wäre in seiner Logik die Schuld getilgt, das Angst einflößende Element des Todbringenden vernichtet. Naheliegend, dass sein Sohn, also der Vater des Jungen, diese Lösung mit der größten Empörung ablehnt, eher noch würde er seinen Vater umbringen, um seinen Sohn vor diesem zu schützen. Und mitten in dieser aberwitzigen und im wahrsten Sinne des Wortes aufgeladenen Situation kocht Tom Essen, wird wieder über die Jagd gesprochen. Derweil baumelt der in einen großen Sack gesteckte und an einem Baum aufgehängte Tote im Wind.

Wie gesagt: David Vann ist ein Mann für extreme Stoffe. Und er rührt damit an das ganz Ursprüngliche im Menschen, an Themen wie Schuld, Verantwortung, Lüge, Vernichtung. Fast völlig außer Acht gelassen wird bei alledem die Moral, die Männer besinnen sich manches Mal erst im letzten Moment, vermeiden nur unter größter Willensaufbietung eine weitere Eskalation der ohnedies schon grotesken Lage. Die Vernunft kommt nicht zum Zug, vielmehr folgen weitere Stationen des Irrsinns, wie etwa der Befehl des Vaters an seinen Jungen, den Toten zu begraben, was in den Bergen nahezu unmöglich ist. Und dann gibt es tatsächlich noch einen Hirsch, den der Junge erlegt, doch auch hier ist der Umgang mit der toten Kreatur so barbarisch und roh, dass einem bei der Lektüre der Atem stockt (auch wenn gesagt werden muss, dass sich die Jagdgesellschaft mit dem toten Hirsch ausführlicher, quasi empathischer beschäftigt als mit der Leiche des Wilderers).

All dies schreibt der 1966 in Alaska geborene und heute in Neuseeland lebende Autor in einer ganz eigenen Sprache. Sein Stil ist von Substantiven und eigenwilligen Beschreibungen geprägt, häufig vermeidet er Verben, wodurch es immer wieder Passagen gibt, die sehr stakkatohaft und kantig wirken. Gleich zu Beginn des Buches gibt es eine Art Litanei, eine Aufzählung, die etwas Gehetztes hat: „Staub wie Puder auf der Luft und der Tag eine rötliche Erscheinung. Geruch von Staub und Kiefern, Geruch von Wolfsmilch. Der Pick-up eine gelenkige Kreatur, der Kopf vom Körper weggedreht. Eine scharfe Kurve, und ich fiel beinahe über die Seitenkante.“

Dieses Ich, welches hier erzählt, ist der Junge. Das Buch wird aus der Rückschau des längst Erwachsenen erzählt, also dessen, der sich an das Schicksalsjahr 1978 erinnert. Und in diesem Erinnern liegt die Kunst des Autors und das Künstliche dieses Buches, denn die Exaktheit der Beschreibungen ist so frappierend, dass sofort klar wird: so können Erinnerungen nicht sein, so detailliert in Bezug auf Vegetation, Naturbeobachtungen, den Zustand der Kleidung, die Waffen, das Fahrzeug und die Möbel. David Vann verfügt über ein schier unglaubliches Repertoire an Wörtern, er scheut sich nicht vor großen und größten Sätzen, vor wuchtigen Beschreibungen („Wir fielen eine Ewigkeit, ich wurde zwischen Bergen zerdrückt, an die schwarze Erde geheftet von etwas noch Dunklerem…“). Doch mit Kraftmeierei hat das nichts zu tun, die Geschichte fordert vielmehr beinahe eine solch artifizielle Sprache. Und Vann kann umschalten, immer wieder gelingen ihm poetisch schöne Miniaturen, die zudem genaue Bilder evozieren („Zu kalt in dieser Nacht, um einfach so mitten auf der Straße zu schlafen. Zitternd stand ich auf, in einer vom Mond verwandelten Landschaft. Die Straße ein klarer weißer Pfad…“). „Goat Mountain“ ist ein Buch wie keines davor, ein Solitär, das zudem durch seine Widmung und seine Danksagung verwirrt.

Titelbild

David Vann: Goat Mountain. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
272 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424551

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