Auf dem Besserwisserweg

Der Nachlass von Christa Wolf fördert auch Impressionen der Sowjetunion zu Tage

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit unermüdlicher Energie hat Gerhard Wolf, Jahrgang 1928, unter Mitarbeit von Tanja Walenski aus den bislang unveröffentlichten Reisetagebüchern seiner verstorbenen Frau Christa Wolf einen ansprechenden Band zusammengestellt, der zudem von erläuternden Kommentaren, Texten, Briefen und Dokumenten ergänzt ist.

Meist gemeinsam mit ihrem Mann hatte Christa Wolf die Sowjetunion in der Zeitspanne von 1957 bis 1989 insgesamt zehnmal besucht. Die entstandenen persönlichen Aufzeichnungen ermöglichen eine Blick hinter die Kulissen jener Christa Wolf, die im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre zu einer der bekanntesten DDR-Schriftstellerinnen geworden war, deren Stimme über die Grenzen hinweg Aufmerksamkeit gefunden hatten.

Ihre Tagebucheinträge bilden neben persönlichen Eindrücken zugleich auch jene gesellschaftlichen wie politischen Wandlungen ab, denen die Länder des „real existierenden Sozialismus“ ausgesetzt waren. Christa Wolfs Selbstverständnis als Autorin blieb davon nicht ausgenommen. Bereits während ihrer ersten Reise nach Moskau und Armenien im Juni 1957 inspirierte sie dieser Aufenthalt zu Fragen, die sich letztlich durch ihr künftiges Lebenswerk hindurchziehen werden: „Welches sind die Kriterien für ‚Menschlichkeit‘ in unserer Zeit? Was ist es denn, was den Menschen zum Menschen macht? Was ist also der Grundstein für die bessere Gesellschaft?“

Die Tagebuchnotizen berichten auch über die ernüchternde Konfrontation mit der realsozialistischen Wirklichkeit und nicht zuletzt die Freundschaften zu kritischen Köpfen in der Sowjetunion wie etwa den Literaturwissenschaftlern Efim Etkind oder Lew Kopelew. Am authentischsten sind Christa Wolfs Eintragungen, wenn sie ganz unmittelbar ihre Eindrücke wiedergibt: „Nächster Morgen, Gang zum Zentrum. Kälte. Hartes, klares Sonnenlicht. Eine sachliche, beschäftigte, wenig anheimelnde Stadt. Kleidung der Leute nachkriegsmäßig. Die vielen kleinen Kioske und Verkaufsstände an der Straße. Schlechte Äpfel, Birnen, Kohl, Weintrauben, Melonen. Manchmal etwas Bizarres durch die fast entlaubten Bäume. Die großen, erdrückenden, von Säulen umgebenen Amtsgebäude“. Dann springt ein vitalistischer Funke über und man verspürt Christa Wolfs neu gewonnene Lust am Schreiben. Neue Perspektiven erzeugen Veränderungen in der Wahrnehmung und bilden sich in der eigenen Schreibtechnik ab.

Zugleich sind Christa Wolfs Moskauer Notizen wie auch die Niederschriften ihrer Reisen innerhalb der Sowjetunion angefüllt mit Beobachtungen über Menschen. Sie hält Begegnungen mit Mitgliedern der DDR-Delegation beim III. Schriftstellerkongreß der UdSSR fest, schildert aber auch die Beziehung zu ihren russischen Freunden wie etwa Wladimir Steshenski, die nicht immer ohne eine gewisse emotionale Spannung gekennzeichnet sind. So hat Christa Wolf zum Beispiel Anna Seghers erst in Moskau näher kennengelernt und aus Anlass zum 100. Geburtstag von Maxim Gorki versammelten sich verschiedene Schriftsteller, darunter auch Max Frisch, auf dem gleichen Schiff zu einer gemeinsamen Wolgareise nach Nishni Nowgorod, das damals Gorki hieß.

Durch die zahlreichen Kontakte zu russischen Germanisten, Kulturfunktionären und Schriftstellern wird Christa Wolf mit der authentischen Stimmungslage im Lande konfrontiert. Das Politische und das Private mischen sich dabei. Klagen über viel zu enge Wohnungen gehen mit einer klaren Abgrenzung von Stalin und seinem politischen Kurs einher. In den 1960er-Jahren herrschten in den Moskauer Diskussionszirkeln immer noch die Hoffnungen auf den Tauwetterkurs politischer Lockerungen, der 1956 mit Nikita Chruschtschows Enstalinisierung zaghaft eingeleitet worden war. Wie werden sich wohl die deutschen Genossen dazu verhalten? In deutlicher Schärfe stellt Christa Wolf Anzeichen einer deutschen Überheblichkeit fest: „Überhaupt: Wir sind wieder mal sehr auf dem Besserwisserweg“. Sie bezieht sich hierbei ausdrücklich auch auf die DDR, wenn Sie zu seufzen scheint: „Unsere Unbeliebtheit im sozialist. Ausland wächst“.

Derlei kritische Bestandsaufnahmen kippen ins Tragische, wenn sie auf die Wahrnehmende selbst zurückfallen. Offenbar hat sich Christa Wolf das Befremden ihrer östlichen Freunde auch nicht immer vorstellen können. In einem abgedruckten Brief vom November 1969 an Lew Kopelew schreibt sie über Befindlichkeiten ihrer Generation in Deutschland. Sich selbst verortet sie in der DDR, „von der wir nun mal ums Verrecken nicht lassen können“.

Ohne Zweifel hat Christa Wolf zu Lebzeiten der DDR Menschen enttäuscht, wie es sich auch am Bruch der Freundschaft mit der kritischen Dichterin Sarah Kirsch zeigen lässt. Zugleich steht außer Frage, dass Christa Wolf und ihre Bücher in der DDR vielen ein wichtiger Halt war, nicht wenige hatten sich auf ihre verständige Hilfe verlassen können. Dem sogenannten „Streit um Christa Wolf“ in den Wende- und Nachwendezeiten um 1990 lag auch ein Missverständnis zugrunde. Nicht jene dünnen und nichtssagenden Protokolle der IM „Margarete“, die in jungen unerfahrenen Jahren zustande kamen, waren ausschlaggebend für viele, sich von Christa Wolf abzuwenden.

Für Misshelligkeit sorgten vielmehr Christa Wolfs Anspruch auf einen schonungslosen Umgang mit Wahrheit und dem eigenen Gewissen, der mit einer noch so kritischen Solidarität zu einem Staat nicht zu vereinbaren war, der seine Bürger mit Mauer und Schießbefehl von der Welt abnabelte. Ein offenes Eingeständnis hätte hier einlenkende Wirkung haben können. Stattdessen irritierte ihr merkwürdiges Beharren auf den Staat DDR, den die erdrückende Mehrheit des Volkes nicht mochte. Und auch nie gemocht hatte.

Titelbild

Christa Wolf: Moskauer Tagebücher. Wer wir sind und wer wir waren.
Reisetagebücher, Texte, Briefe, Dokumente 1957-1989. Herausgegeben von Gerhard Wolf unter Mitarbeit von Tanja Walenski.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
266 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424230

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