Unheil, Unzucht und Schnaps

Über Henrik Tikkanens Roman „Brändövägen 8. Brändo. Tel. 35“

Von Eileen EichstädterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eileen Eichstädter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Henrik Tikkanens Roman „Brändövägen 8. Brändo. Tel 35“, ein Klassiker der schwedischsprachigen Literatur Finnlands aus dem Jahr 1975, ist nun auch in Deutsch erhältlich. Der ungewöhnliche Titel des Romans verweist auf die Adresse der frühen Kindheits- und Jugendjahre des Autors – ein von Luxus geprägter Vorstadtteil Helsinkis – dabei ist dieses Buch nur der erste Teil einer mehrreihigen halb-autobiografischen Lebenserzählung. Der Übersetzer Karl-Ludwig Wetzig beschreibt den Roman als „fiktionalisierte Autobiografie“, Familienroman und Gesellschaftsroman in einem. Dabei ein Roman der besonderen Art.

Man tut sich schwer damit, zwischen Fiktion und realen Bekenntnissen zu unterscheiden. So ist Tikkanens Werk voll von heimtückischen Anspielungen auf die Finnland-Schwedische Geschichte und auf die schwedisch-sprachige Oberschicht, die sich ihre Identität durch Abgrenzung von der überwiegend Finnisch-sprachigen Mehrheit zu schaffen versucht. Der Ich-Erzähler beschreibt mit hartem Sarkasmus und beißender Ironie die Exzesse seiner Eltern und einer Gesellschaft, die so weit geht, einen ärmeren finnischsprachigen Mitbürger, der sich in ihrer Mitte ansiedeln möchte, mit Geld zu bestechen, um ihn zum Wegziehen zu bewegen. Diese Gesellschaft möchte unter sich bleiben, unter ihres gleichen. Darunter die Familie des Ich-Erzählers, sein Vater: ein selbstmitleidiger alkoholkranker Choleriker; die Mutter unnahbar schön und auch dem Alkohol verfallen. Als der Vater noch lebt, habe er ihn verachtet und seine Mutter vergöttert, das dreht sich im Lauf der Zeit um. Als Erbe seiner Eltern nennt er den Alkoholismus.

Die wahren Erzieher sind die Großeltern mütterlicherseits, Trostspenderin der Hund Inna, der ihm die körperliche Nähe gewährt, die ihm seine Mutter nicht geben kann. Inna ist auch das einzige Lebewesen – abgesehen der berühmten Persönlichkeiten und Nebenpersonen – das vom Ich-Erzähler mit Namen genannt wird. Die Namen der Brüder: egal. Über den Tod hinaus seien Namen nur für die Grabsteine wichtig, nicht für ihn. ‚Mutter‘ und ‚Vater‘ dienen als Rollenzuschreibung, denn was während des Lebens unpassend gewesen sei, werde nach ihrem Ableben passend.

Es ist ein einziges Verwirrspiel, die verwandtschaftlichen Beziehungen und Personen zuzuordnen, die in „Brändövägen“ eine Rolle spielen. Mal handelt es vom Urgroßvater väterlicherseits, dann von der Kindheit des eigenen Vaters, von seiner ersten Frau, der Zeit vor der Geburt des Ich-Erzählers, den Betrügereien und Party-Exzessen und mittendrin von Grauen des Zweiten Weltkrieges. Es wird deutlich betont: Alles ist subjektiv. Es könnte wahr sein oder auch nicht, das wird völlig dem Leser überlassen. Tikkanens Literatur ist eine Grenzgänger-Literatur: die Grenzen zwischen Ich-Erzähler und Autor, zwischen Fiktion und Realität verschwimmen, nicht umsonst ist er Mitbegründer der ‚Bekenntnis‘-Literatur.

Inhaltlich lässt sich der Roman in zwei Hälften einteilen: Die unschuldige Kindheit vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und die Jugend während des Krieges, die Zeit an der Front und zwischendrin immer die Geschichten aus unterschiedlichen Zeiten. Die zweite Hälfte ist deutlich düsterer, eingeleitet durch den Selbstmord des älteren Bruders, der nicht mehr in den Krieg will.

Neben vielem anderen immer wieder: die Behauptung gegen den Vater. Einen Vater, der die beiden älteren Halbbrüder schlägt, seinen jüngsten Sohn aber nie anrührt. Das lebenslange Thema: mit der Angst umgehen, den gleichen Mut wie der Vater haben, der sich einem angaloppierenden Stier entgegenstellt und ihn mit seiner Willenskraft und Ausstrahlung zum Stehen bringt.

Es ist mit Sicherheit kein leichtes Buch, und trotzdem schafft es Tikkanen, den Leser durch seine schwarze Komik zum Schmunzeln zu bringen. Die Entscheidung des Übersetzers Wetzig, in seinem Nachwort auf den Autor und die Stellung der schwedischsprachigen Minderheit in Finnland einzugehen, ist eine sehr gute Entscheidung, da dieses Wissen wesentlich für das tiefgehende Verständnis von Tikkanens Roman ist. Seinem Wunsch, dass hierzulande mehr von dem brillanten Satiriker und Sprachkünstler Tikkanen zu lesen ist, kann nur zugestimmt werden.

Titelbild

Henrik Tikkanen: Brändövägen 8 Brändö. Tel. 35. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Karl-Ludwig Wetzig.
Verbrecher Verlag, Berlin 2014.
152 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783957320148

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