Literatur aus Einfällen

Der Ukrainer Andrej Kurkow überschlägt sich in seinem Roman „Jimi Hendrix live in Lemberg“ vor Kuriositäten

Von Alexandra SauterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Sauter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein legendärer Rockstar in einer von der Welt vergessenen Stadt? Zwei Namen, deren Verbindung keine Vorstellung weckt: Jimi Hendrix und Lemberg wollen gedanklich nicht so recht zusammenpassen. Den Gitarristen kennen selbst jene, die erst Jahrzehnte nach seinem Tod musikalisch erwachten. Lemberg aber bleibt – obwohl die Ukraine seit einem Jahr zum Repertoire jeder Nachrichtensendung gehört – ein unbekannter Ort.

Andrej Kurkow, einen der bekanntesten Autoren der Ukraine, kümmern offenkundige Gegensätze wenig. Der in Petersburg geborene und auf Russisch schreibende Kurkow hat sich in „Jimi Hendrix live in Lemberg“ von seiner Heimatstadt Kiew aus in eine unbekanntere Gegend begeben, dorthin, wo sich einst Religionen und Ethnien mischten, wo die kleineren Sprachen Europas gesprochen werden, wo gilt: Welt geschieht woanders. Gegensätze jeglicher Art vereint Kurkow bei dieser literarischen Unternehmung ohne Anstrengung und Scheu.

Jeden September pilgern Alik und andere Althippies auf Lembergs Lytschakiwski-Friedhof und gedenken vor einem Eisenkreuz ihres Idols: Jimi Hendrix selbst fand in seinem kurzen Leben nie den Weg in die Ukraine und hätte zur Zeit des Kalten Krieges wohl auch kaum ein Gastspiel in Lemberg erwogen. Doch Alik und seine Freunde wissen als wenige, dass es nach Hendrix’ Ableben zumindest eine seiner Hände auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs geschafft hat. Die rechte, die linke? Nicht einmal die Verantwortlichen können es genau sagen. Zu verdanken haben die Hendrix-Fans die Wundertat nämlich keinem anderen als dem KGB, wie Alik nun erfährt: Einst spionierte der Ex-Hauptmann Rjabzew Alik fleißig aus, heute sucht er dessen Freundschaft und offenbart allmählich seine großen geheimen Taten. Ist es die Einsamkeit, die Rjabzew zu Alik treibt, ist es die spärliche Rente, die dazu führt, dass er nachträglich schlecht auf seinen ehemaligen Arbeitgeber zu sprechen ist? Von allem ein wenig. Doch ausführliche Erklärungen für Verhalten und Befinden seiner Figuren sind Kurkows Sache nicht: Wieso sich dem Innen widmen, wenn außen so viel geschieht? Hendrix’ Hand ist denn auch nur ein Baustein, aus dem Kurkow einen ereignisreichen Plot zimmert.

Zusammen finden Alik und Rjabzew vor allem seltsamer klimatischer Phänomene wegen. Was ist mit Lembergs Wetter los? Die Luft ist feucht, auf den Straßen breitet sich Meeresgeruch aus und Möwen fliegen über den Himmel der von allen europäischen Meeren weit entfernten Stadt. Eine dieser Möwen fliegt ins Fenster der hilfsbereiten Oxana, der ihr Freund Taras und der polnische Friseur Jerzy Astrowski zu Hilfe eilen. Ähnlich wie Alik und Rjabzew knüpfen Taras und Jerzy eine Bekanntschaft trotz anfänglicher Abneigung. Der depressive Jerzy nimmt seinem Nachbarn eine tägliche Unachtsamkeit übel: Wenn Taras frühmorgens von der Arbeit nach Hause kommt, tritt er meist müde auf die defekte fünfte Stufe im Treppenhaus. Erst Oxana vermittelt resolut im Konflikt die naheliegende Lösung – eine Reparatur – und rüttelt Jerzy nebenbei durch ihr energisches Auftreten wach. Während Jerzy aber trotz neu entdeckter Körperhygiene und Friseurtalents mit Annäherungsversuchen bei Oxana Ausdauer zeigen muss, entwickeln sich für Taras Geschäft und Privatleben bestens. Bei Dunkelheit, wenn die Straßen frei sind, fährt Taras in einem alten Opel Patienten aus dem Ausland über Lembergs holprige Pflastersteine. Gallensteine lösen sich bei der mobilen Massage zuverlässig, und so fließen verlässlich Dollars und polnische Złotys in Taras’ Taschen. In der Geldwechselstube bandelt Taras mit Darja an, die nicht der nächtlichen Kälte wegen, sondern aufgrund einer Geldallergie Handschuhe trägt.

„Jimi Hendrix live in Lemberg“ quillt über vor diesen und weiteren Kuriositäten. Dass der Geheimdienst für manche Merkwürdigkeit in der Gegenwart herhalten muss, erstaunt vielleicht am wenigsten. Zumindest im Nachgang erweist sich der KGB für Literaten heute durchaus als nützlich. Origineller ist Kurkow, wenn er die realen Alltagsphänomene in seinem absurd-heiteren Roman ins Komische wendet. Die maroden Lemberger Straßen funktioniert Kurkow zur „Einnahmequelle“ um und zeigt, dass weiter gilt, was oft allein dem Kommunismus zugeschrieben wird: Bis in die Gegenwart braucht es die Mischung aus Phantasie und Geschäftssinn wie bei Taras, um durchzukommen. Kurkows Charaktere sind alle typisch – oder stereotyp, nimmt man es mit der Formulierung genauer als Kurkow mit seiner Figurenzeichnung. Jeder und jede dieser Lemberger Persönlichkeiten hätte im Grunde ihre eigene Geschichte verdient. Dann aber hätte der Ausflug in die Westukraine Kurkow sicher mehr Mühe gekostet. Kurkow flicht einen langen, doch trotz aller Einfälle letztlich losen Plot aus zwei Handlungssträngen. Am Ende führt das Geschehen auch zur konkreten Lösung der Frage: Was ist mit Lembergs Wetter eigentlich los? Hinter der Antwort ein weiterer Einfall.

Mit dem Roman „Pinguin auf dem Eis“ wurde Andrej Kurkow Ende der 1990er-Jahre bekannt: Ein vereinsamter Autor, der sich einen Pinguin als Haustier hält, erlebt schließlich einen Erfolg, als er Nekrologe auf noch lebende Persönlichkeiten verfasst. Kafkaesk und leichter Hand ging Kurkow in diesem Roman die kriminelle Umbruchszeit in der ehemaligen Sowjetunion an. Literarisch hat sich der Autor seitdem kaum umorientiert: Erklärt er die Handlungen seiner Figuren, tut er das meist recht brüsk oder formuliert das Selbstverständliche. Auf Plausibilitäten und geschmeidige Übergänge verzichtet er. Der Raum für Interpretationen und Rückschlüsse auf tatsächliche Gegebenheiten bleibt so weit und liegt völlig beim Leser. Denn trotz aller Absurditäten: Um die Gegenwart seines Landes geht es Kurkow schon. Doch in „Jimi Hendrix live in Lemberg“ passiert vielleicht einfach zu viel – manches tatsächlich amüsant, anderes eher gewollt lustig –, als dass man sich am Ende der Lektüre noch der Suche nach einer Antwort widmen möchte: Was hat das alles mit Lemberg zu tun?

Titelbild

Andrej Kurkow: Jimi Hendrix live in Lemberg. Roman.
Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing.
Diogenes Verlag, Zürich 2014.
405 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783257068719

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