Geist ruht nicht aus

Neue Sonettübersetzungen von Claus Eckermann und Alexander Giese

Von Felix SprangRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Sprang

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdichtung oder Übersetzung, Verfremdung oder Eindeutschung, philologische Akribie oder poetische Freiheit – zwischen diesen vermeintlichen Polen bewegen sich die gut siebzig Gesamtübertragungen der Sonette Shakespeares, die in deutscher Sprache vorliegen. Mit Claus Eckermanns und Alexander Gieses Übersetzungen reihen sich nun zwei weitere Gesamtübertragungen ein – und natürlich steht außer Frage, dass auch diese beiden Übersetzungen mit ihrer jeweils eigenen interpretatorischen Perspektive einen Beitrag zur Rezeption leisten; denn Eckermann und Giese gelingt es, eine jeweils eigene Tonart anzuschlagen und diese konsequent durchzuhalten. Beide Übersetzungen sind weit entfernt von Ulrike Draesners „Radikalübersetzung“ (2000), die auf eine Aktualisierung der semantischen Felder in Richtung Technik und Wissenschaft setzt und dabei Wortschöpfungen wie „tintenstrahl-füße“ hervorgebracht hat. Modernisierung ist hier nicht das Gebot der Stunde, vielmehr ist beiden Übersetzern daran gelegen, Shakespeares Klang- und Bildraum als eigenständige literarische Welt vorzustellen. Verglichen mit Christa Schuenkes Übersetzung (1999, 52011), die sich in den letzten Jahren als maßstäblich durchgesetzt hat, wirken beide Übersetzungen allerdings archisierend, wobei sich Eckermann an einem barocken, bisweilen manierierten Stilideal orientiert, während Giese das lyrische Ich als Stimme des Sturm und Drang entwirft. Insofern markieren beide Übersetzer stilistisch sehr deutlich, dass sie das Paradigma der romantischen Liebe, das dem frühneuzeitlichen Liebesdiskurs nur bedingt gerecht wird, als Rezeptionsrahmen für nicht geeignet halten.

Eckermanns Zugriff ist geradezu historisierend. Tongebend ist – trotz der fünfhebigen Jamben – ein barockes Dichtungsmodell, das antithetische Gegenüberstellungen und überhöhte Bildhaftigkeit auskostet: „confounding age’s  cruel knife“ (Sonett 63) wird zu „des welken Alters scharfer Klinge“, „But if that flower with base infection meet, / The basest weed outbraves his dignity“ (Sonett 94) wird zu „Doch wo die Blum auf welkes Siechtum stieß, / Schlägt ihren Wert gar Unkraut, öd und siech. “ Diese Bildhaftigkeit schafft Distanz, entrückt die Sonette aus der Alltagserfahrung und betont deren Literarizität. Keineswegs anbiedernd ist diese Übertragung: Eckermann will es seinen Lesern sichtlich nicht leicht machen, sie sollen beim Lesen oder Rezitieren nicht vergessen, dass sie sich in einem sprachlich-formalen Kunstwerk bewegen. Es gelingt jedoch nicht immer, die angebotenen Bilder mit Leben zu füllen: mir jedenfalls fällt es schwer, eine „Blum“ zu sehen, die „auf welkes Siechtum stieß“. Zugegeben, Sonett 94 gilt als besonders schwer zu übersetzen. Shakespeares lyrisches Ich ist hier enigmatischer als sonst: Das Herrschaftsideal, das mit botanischen Vanitas-Motiven ins Bild gesetzt wird, bleibt obskur, die Botschaft, die sich an den „fair youth“ richtet, unklar. Trotz dieser Ambiguitäten ist Shakespeares Sprache jedoch direkt und aggressiv: Shakespeare verweist mit „infection“ recht deutlich auf die Syphillis, wählt mit „outbraves“ eine ironisch gebrochene Konversion, die der konventionellen Gegenüberstellung von Blume und Unkraut einen kühnen Anstrich gibt. Es gelingt Eckermann nicht immer, diese Nuancen im Register und Lexikon zu retten.

Im Zentrum dieser barocken Übersetzungsleistung steht eindeutig das Vanitas-Motiv: Siechtum, Verfall, Totenruhe, memento mori, carpe diem begegnen dem Leser allerorten. „Shakespeares Sonette, die zum Wahrhaftigsten gehören, das die englische Sprache hervorgebracht hat, vereinen die menschliche Fragilität mit den innersten Grundfragen der Philosophie und den äußeren Axiomen der Theologie“, heißt es im Klappentext. Und so ist es nur schlüssig, dass eine Vertonung von ausgewählten Sonetten in der Übersetzung Eckermanns mit dem Titel Der Zeit entgegen – Shakespeares Vanitas Sonette erhältlich ist. Diese „Vanitas Sonette“, gelesen von Jacques Breuer und gruppiert durch elegische Zwischenspiele des Komponisten Jim Matheos, beinhalten die Sonette 1-7, 11-19, 22, 25, 30-33, 49, 54-55, 59-60, 62-68, 71-74, 77, 81, 97, 104, 106-108, 116, 123-126, 138, 146. Diese Auswahl ist eklektisch, was an sich nicht problematisch ist. Die Reihenfolge der Sonette ist umstritten, die Vorstellung eines geschlossenen Zyklus gilt als überholt, aber die Auswahl – jeweils in Gruppen à 18 Sonetten gesprochen – leuchtet nicht recht ein. Bereits die erste Auslassung (Sonett 8, „Music to hear, why hear’st thou music sadly?“) wirft Fragen auf. Ist Sonett 8 weniger Vanitas-tauglich als Sonett 7? Beide thematisieren die Vergänglichkeit des Jünglings, auch wenn Sonett 7 mit seinen „mortal looks“ und seinem „unlookt on diest“ eine barocke Bildhaftigkeit bedient, die in Sonett 8 zugunsten einer Musiktheorie in den Hintergrund tritt – einer Musiktheorie jedoch, die Harmonie und Vergänglichkeit akzentuiert. Und sind nicht Sonette wie Sonett 151 („Love is too young to know what conscience is“), das die erotische Liebe als „rise and fall“ beschreibt, Teil der Vanitas-Konzeption? Heben nicht erst gerade diese Sonette die Gesamtdichtung aus einer stereotypen Vanitas-Mode heraus? Wenngleich also der Zugriff und die Auswahl den Blick auf Shakespeares Sonette unnötigt verengt, so verdeutlicht dieses Tondokument auf jeden Fall anschaulich, dass Eckermanns Übersetzungen metrisch und rhythmisch sprecherfreundlich sind und auf offene Ohren stoßen. Der Auswahl und der Konzeption als „Vanitas-Sonette“ geschuldet, spricht Breuer die Sonette mit Pathos und melancholischer Grundierung, aber es gelingt ihm auch, dem (Sprach-)Witz und der ungeduldigen Aggressivität, beispielsweise in Sonett 123 („No, Time, thou shalt not boast that I do change“), Ausdruck zu verleihen. Elisionen wie „Blum“, „Seel“, „Herschrin“, „andrer“ oder „verlorn“ wirken verfremdend im Schriftbild, in der Hörfassung jedoch fügen sie sich in das Gesamtbild einer metrisch stimmigen Dichtung.

Metrische Ausgewogenheit grenzt in Eckermanns Übersetzung jedoch bisweilen an Gleichtönigkeit. Im ersten Quartett des Sonetts 98, das nicht vertont wurde, lesen wir bei Shakespeare:

From you I have been absent in the spring,
When proud-pied April, drest in all his trim,
Hath put a spirit of youth in every thing,
That heavy Saturn laught and leapt with him.

Eckermann übersetzt:

Im Frühjahr wars, da ich Euch ferne ging,
Als schön staffiert und fein verziert April,
Der gab den Jugendgeist jedwedem Ding,
Daß Lachen, Springen selbst Saturn gefiel.

Was bei Shakespeare – auch rhythmisch-metrisch – ein dynamisch-ekstatischer Freudentaumel ist, bei dem sich der bereits von Chaucer besungene süß-regnerische April und der melancholische Saturn in den Armen liegen, erstarrt in Eckermanns Feder zu einer pastoralen Szene. Im folgenden, zweiten Quartett wird „make me any summer’s story tell“ zu „Sommers Ode aus mir ruft“. Der Ton der Übersetzung ist der elegischen Odendichtung oder der Pastoraldichtung näher als der kantigen, essayistischen Sprache, die Shakespeare seinem Jüngling in den Mund legt.

Bereits der Klappentext macht deutlich, dass der Schwerpunkt des literarischen Unterfangens thematisch gewählt ist. Eckermann spürt mit seiner Übersetzung der Menschlichkeit nach, die er in Shakespeares Liebeskonzeption vorfindet. Im Vorwort verweist der Übersetzer auf das Augustinische „Tu quis es? Homo“ und Kierkegaards Verehrung für die Figurenentwürfe Shakespeares als „Menschen, die da reden“, um seine Begeisterung für den Sonettzyklus zu erläutern. Es sei doch die Unvollkommenheit, die Fehlbarkeit des Menschen, die sich in der Dichtung Shakespeares spiegele – sowohl auf thematischer wie auch auf künstlerischer Ebene. Auch wenn Eckermann nicht explizit auf Goethe verweist, so ruft er ihn doch unweigerlich auf den Plan: „Die Irrtümer des Menschen machen ihn eigentlich liebenswert“. Eckermanns Übersetzung propagiert diese philanthrophische Grundhaltung, der Fokus liegt auf den Zweifeln, der Zerissenheit des Menschen. Dieses Zweifeln und diese Zerissenheit sind jedoch metrisch zu gut verpackt. Zerissenheit findet sich auf der klanglich-rhythmischen Ebene kaum, sie wurde dem Diktum des Fünfhebers geopfert. Elisionen wie das zweisilbige „Herschrin“ schaffen nicht nur Verfremdungseffekte auf lexikalisch-typografischer Ebene, sie lenken den Blick und das Ohr auch auf eine allzu eingängige Metrik. So ist es zwar grundsätzlich begrüßenswert, dass hier nicht – wie bei der von der FAZ als „möglicherweise schlechteste Sonnets-Übersetzung aller Zeiten“ gescholtenen Übertragung – das Versmaß mit Füßen getreten wird. Eckermann schießt allerdings über das Ziel hinaus, die Übersetzung ist metrisch zu geschliffen. Wo beispielsweise bei Shakespeare im gereimten Schlusspaar des ersten Sonetts geschickt zwei Abweichungen vom iambischen Pentameter die (vermeintliche) Harmonie stören,

Pity the world, or else this glutton be,
To eat the world’s due, by the grave and thee,

glättet Eckermann metrisch:

Erbarme dich der Welt, verschlemme nicht,
Im Grab und dir, der Welten Teil und Pflicht.

Das ist rhythmisch schön – aber eventuell zu schön, um wahr zu sein. Was bei Shakespeare eine Warnung ist, verblasst bei Eckermann zur Sentenz. Das gilt auch für eine der rhythmisch interessantesten Passagen des Sonettzyklus, den Anfang des Sonetts 27: „Weary with toil, I haste me to my bed“. Auftaktbetont wird hier die Zeit bis zur Caesura gedehnt, während der zweite Teilvers in das iambische Paradigma fällt und das Tempo beschleunigt. Shakespeare schwankt zwischen Schwermut und Unrast, wo Eckermann mit einem gleichmäßigen Versmaß den Eindruck von kontrollierter Souveränität verbreitet: „Von Müh geschwächt eil ich zum Bette hin.“ Das klingt nicht nach zwei Seeln in einer Brust (fünfhebiger Jambus!), ein metrisch enervierendes „Dunkel war’s, der Mond schien helle“ wäre hier angebrachter. Zugegeben, bereits Karl Lachmann (1820) glättet den Vers („Ich eil’ ins Bett, ermüdet von Beschwer“), und auch Christa Schuenke scheint das metrische Spannungsspiel zu verschenken („Der Mühen müd, werf ich aufs Bett mich nieder“), sie gibt dem Vers jedoch mit der figura etymologica eine Behäbigkeit und mit der überzähligen unbetonten Silbe eine Kadenz, die dem schleppenden Gedanken entspricht. Semantisch fängt auch Eckermann das Paradox eines eilenden Geschwächten ein, metrisch und stilistisch jedoch veschenkt er Möglichkeiten, dieses Paradox hör- und fühlbar zu gestalten. So kann die Zeile nicht recht überzeugen, zu sehr steht das lyrische Ich unter der Anleitung des auf Metrik bedachten Dichters. Das gilt für die gesamte Übersetzung. Während Shakespeares Sprecher vor Verzweiflung tobt, sich seinem schwermütigen Leiden hingibt, ekstatisch seine Liebe feiert und dabei mit Konventionen der Sprache und Dichtung bricht, wirkt Eckermanns Sprecher hingegen gehemmt, gegängelt von seiner wohlkontrollierten Metrik und einem manierierten Dichtungsideal.

Alexander Gieses Übersetzung, deren Bildprogramm und Ton am Sturm und Drang orientiert scheinen, setzt auf eine gefühls- und ausdrucksstarke Sprache, die weniger kontrolliert und somit prosaischer wirkt. Das erste Quartett von Sonett 27 lautet hier:

Ich eile in mein Bett ermattet sehr,
Geliebte Ruhstatt wandermüder Glieder;
Im Kopf – die Reise, sie beginnt nunmehr,
Geist ruht nicht aus, liegt auch mein Leib danieder.

Auch Giese nutzt Abweichungen vom fünfhebigen Jambus äußerst spärlich, und doch wirkt seine Übersetzung luftiger, metrisch weniger streng organisiert. Verglichen mit Eckermanns Übertragung ist die Anrede direkter, der Sprachduktus lässiger, geradezu keck an manchen Stellen. Dieser Eindruck mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass Giese Wortwiederholungen nicht scheut. In Sonett 8 verwendet er beispielsweise viermal das Wort „süß/Süßes“ und sucht nicht nach Synonymen, im Sonett 152 begegnen uns „schwört“, „Bettschwur“, „Schwören“, „schwor“, „Schwüre“, „schwör’n“, „geschworen“, „schwören“. Gieses Liebender, aber auch der mahnende Freund zuvor, haben beide keine Zeit, nach trefflichen Worten zu suchen und ihre Ausdrücke zu modulieren. Diese Haltung zeigt sich besonders deutlich an Sonett 66, dem Meilenstein für deutsche Übersetzungen:

Bin alles müd’, nach Todesruh’ ich schrei,
Da doch Verdienst zum Bettler nur geboren,
Und nicht’ge Nullen sich freu’n an Narretei,
Und reinste Treu elendig falsch geschworen,
Und gold’ner Ruhm, schmachvoll wird er missachtet,
Und Mädchentugend rücksichtslos geschändet,
Und höchst Vollkomm’nes unverdient verachtet,
Und selbst Kraft in schwacher Herrschaft endet,
Der Kunst die Zung’ bindet die Staatsgewalt,
Und Narrheit doktorgleich treibt Wissenschaft,
Und echte Wahrheit wird verkannt als Einfalt,
Und wertvoll Gut gerät in schlimme Haft;
Müd dieser Welt ließ gern ich alles sein,
Wär nicht – stürb ich – mein Liebstes ganz allein.

Nicht großes Pathos, kein uferloser Zorn, sondern eine tiefgehende und gefasste Empörung spricht aus diesen Versen. Giese bricht mit der Anaphora in Zeile 9 und hebt mit seiner Anklage neu an. Und auch metrisch lässt sich dieser Sprecher nicht vereinnahmen: „geboren“, „geschworen“, „missachtet“, „geschändet“, „verachtet“, „endet“ wenden sich gegen das Diktat des Metrums. Somit ist diese Übertragung näher an den Übersetzungen von Lachmann (1820) und Gelbcke (1867) als an der zusatzfüßigen von Biermann (2004) oder der metrisch idealtypischen von Schuencke (1999) [Für eine ausführliche Rezension der Biermann-Übersetzung von Jürgen Gutsch siehe literaturkritik Nr. 10, Oktober 2004; ein Interview mit Christa Schuenke, das Christa Jansohn geführt hat, ist abgedruckt in literaturkritik Nr. 4, April 2014].

Im Vorwort verweist Giese explizit auf eine Reihe von „hervorragende[n] Nachdichtungen, wie z. B. die von Gottlieb Regis, Friedrich Bodenstedt, Stefan George, Friedrich Gundolf, Karl Kraus“ und staunt über den Mut, den er aufzubringen im Stande war, seine eigene Übertragung diesen an die Seite zu stellen. Bedenkt man, dass diese Übersetzung im 92. Lebensjahr des Verfassers veröffentlicht wurde, muss man von einem Alterswerk sprechen, der frisch-freche Ton dieses Alterswerks verdeutlicht jedoch auch, dass Alter nicht vor Jugend schützt. Vielleicht gilt für Shakespeares Sonette in der Übertragung Gieses im besonderen Maße, was auch für Shakespeares Kleopatra gilt: „Nicht kann sie Alter / Hinwelken, täglich Sehn an ihr nicht stumpfen / Die immerneue Reizung“.

Titelbild

William Shakespeare: Der Zeit entgegen - Shakespeares Vanitas Sonette [Tonträger]. Jacques Breuer liest Shakespeare.
NOA NOA Hörbuchedition, München 2012.
1 CD, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783932929793

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Titelbild

William Shakespeare: Die Sonette. Englisch und deutsch.
Übersetzt aus dem Englischen von Claus Eckermann.
Haag + Herchen Verlag, Hanau 2012.
328 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783898466486

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William Shakespeare: Shakespeare Sonette.
E-Book.
Übersetzt aus dem Englischen von Alexander Giese.
Aumayer Druck + Verlag, Munderfing 2013.
164 Seiten, 4,90 EUR.
ISBN-13: 9783902923011

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