Big Data

Roland Weidle führt ein in die englische Literatur der Frühen Neuzeit

Von Sonja FielitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sonja Fielitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Roland Weidle macht es sich in seinem Einführungsband zur Aufgabe, auf insgesamt knapp 250 Textseiten eine der produktivsten und komplexesten Epochen der englischen Literatur- und Kulturgeschichte zu erfassen, und die Herausgeber der Reihe hätten ihm dieses Projekt nicht anvertraut, wenn er nicht zu den renommierten Fachwissenschaftlern (m/w) auf dem Gebiet der Frühen Neuzeit in England zählen würde. Und Weidle hat in der Tat ein beeindruckendes Buch mit einer Fülle von Details und Daten vorgelegt, die dieses zu einem wichtigen Nachschlagewerk werden lassen dürften.

Insbesondere in Zeiten, in denen die historischen Text- und Kulturwissenschaften sowohl durch die Umwidmung von Lehrstühlen wie auch die Bolognisierung der Universitäten immer mehr in den Hintergrund gedrängt und nicht selten als verzichtbar angesehen werden, ist der vorgelegte Band besonders zu begrüßen. Des Weiteren wird die Beschäftigung mit der Frühen Neuzeit oft von William Shakespeare dominiert, so dass es umso verdienstvoller ist, einer interessierten Leserschaft die gesamte Epoche mit ihren zahlreichen Autoren und vielfältigen Texten verschiedener Gattungen näher zu bringen. Bei Weidle figuriert Shakespeare tatsächlich nur als ein Autor von vielen, dem er je ein angemessenes Unterkapitel von fünf Seiten im Rahmen der Tragödien und der Komödien widmet. Etwas zu stark auf wirtschaftliche Fakten reduziert mag erscheinen, seinen Erfolg auf „eine dreifache Absicherung der Lord Chamberlain’s Men als Miteigentümer am Theater, als Anteilseigner und als Autoren von erfolgreichen Dramen“ gegründet zu sehen. „Kein Wunder also, dass jemand wie Shakespeare, der alle drei Kriterien erfüllte, am Ende seines Lebens ein stattliches Vermögen besaß.“ (S. 169-170)

Weidles Studie widmet sich (nach dem Vorwort) in sechs Kapiteln zunächst einer begriffsgeschichtlichen Annäherung an die Epoche (Kap. 1), gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen (Kap. 2), den poetologischen Grundlagen (Kap. 3), sowie, als Hauptteil des Buches, der Gattungstrias von Lyrik (Kap. 4), Drama und Theater (Kap. 5) und Prosa (Kap. 6). Generell geht es ihm darum, ein Bewusstsein für Problematiken (wie etwa Epochenbegriffe) zu schärfen und (mit der etablierten Gattungstrias) ein Ordnungsangebot innerhalb der Vielfalt der Erscheinungen zu bieten. Wiederholt betont er, dass im vorgegebenen Rahmen Vieles nur verkürzt dargestellt, Schwerpunkte gesetzt, und auf bestimmte Phänomene lediglich verwiesen werden könne. Als Zielgruppe werden „Studierende, die sich eingehender mit der Literatur der Frühen Neuzeit vertraut machen wollen“, sowie „Nicht-Anglisten“ genannt. Das Buch wolle „nicht nur einen Überblick über die wesentlichen Autoren, literarischen Formen und Werke der Epoche vermitteln, sondern auch Lust auf die Literatur der englischen Frühen Neuzeit machen. Daher wurde bewusst auf Aufzählungen und Aneinanderreihungen von Werken verzichtet und biografische Informationen zu den Autorinnen und Autoren wurden (bis auf wenige Ausnahmen) auf ein Minimum reduziert.“ (S. 11)

Wie Weidle in seinem Vorwort ausführt, sieht er sich dem Ansatz des New Historicism verpflichtet: „Diese Einführung möchte die Literatur der englischen Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der sich in dieser Zeit ereignenden gesellschaftlichen Umwälzungen und Entwicklungen vorstellen. Dabei sollen die historischen Entwicklungen und Ereignisse nicht nur als Folie verstanden werden, vor deren Hintergrund sich dann die literarischen Formen herausbildeten, vielmehr wird die Beziehung zwischen literarischen Ausdrucksformen einerseits und gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Entwicklungen andererseits als eine wechselseitige, sich gegenseitig beeinflussende verstanden…. Das Theater bildete also nicht nur die Wirklichkeit ab, es konstituierte diese auch.“ (S. 9-10) Möglicherweise ist dieses Ziel über die Fülle an Material, die Weidle in seinem Buch darlegt, passagenweise etwas verloren gegangen, aber die Absicht wird doch durchwegs deutlich. Insgesamt führt der Verfasser seine Leser kompetent mittels zahlreicher Zitate aus Primär- und Sekundärliteratur in die Texte der Frühen Neuzeit aus verschiedenen Gattungen und diversen Autoren ein, wobei das Buch generell eher dokumentarisch angelegt ist.

Unzweifelhaft hat Weidle eine extrem materialreiche und solide Studie vorgelegt, die auch als Nachschlagewerk jedem Leser (m/w), der sich mit der Frühen Neuzeit in England befasst, ausgesprochen hilfreich und wertvoll sein wird. Ein gewisses Optimierungspotential dürfte es bei jeder Veröffentlichung geben, wobei mir selbstverständlich (aus eigener Erfahrung) bewusst ist, dass die Textsorte ‚Einführungsbuch’ ihre ganz eigenen Gesetze dessen hat, was (un)möglich ist. So beginnt Weidle vielversprechend mit einer differenzierten Abgrenzung von „Renaissance“, „Früher Neuzeit“ und „Humanismus“, so dass es im Folgenden dann doch überrascht, wenn die beiden Erstgenannten über weite Passagen offenbar etwas unreflektiert (S. 49, S. 152/153) bzw. sogar geradezu synonym (S. 61, S. 64, S. 89) verwendet werden. Ein Beispiel muss hier genügen: „Aufgrund der hohen Kindersterblichkeitsrate (man geht von 20 bis 50 Prozent für das Europa der Frühen Neuzeit aus) wurde lange Zeit vermutet, dass die Beziehung von Mutter und Kind in der Renaissance weniger intensiv und emotional war“ (S. 64). Zudem wird auf S. 23 die Epoche der Frühen Neuzeit auf „1500-1800“ festgelegt, wogegen auf S. 15 die Zeitspanne von 1485-1660 angesetzt wird.

Ob Weidles Buch „Lust“ (s. o.) auf die Beschäftigung mit der Literatur der englischen Frühen Neuzeit machen kann, vermag ich als Rezensentin, deren Arbeits- und Forschungsschwerpunkt ebenfalls in dieser Epoche liegt und die daher nicht das intendierte Zielpublikum sein kann, nicht zu sagen. Nicht ganz ideal scheint mir das (vom Verfasser nicht zu verantwortende) layout der Reihe mit einzeilig bedruckten Seiten in relativ geringer Schriftgröße. Die Illustrationen und die farbig unterlegten Zusammenfassungen am Ende eines jeden Kapitels lockern hier nur bedingt auf. Die Hervorhebungen ‚wichtiger’ Begriffe in Fettdruck wirken gelegentlich etwas aufdringlich, manchmal auch nicht unbedingt nachvollziehbar. Durchwegs störend ist in diesem Band die uneinheitliche Kommasetzung vor ‚und’ bei Subjektwechsel.

Inhaltlich scheint trotz der (oben zitierten) Absicht des Verfassers, möglichst wenige Daten und Auflistungen geben zu wollen, eben diese über einige Strecken verloren gegangen zu sein. Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang die Aneinanderreihung der Vitae von neun Vertretern des Humanismus (S. 20-24), des Weiteren die ausführliche Darstellung der historischen Umstände der Abspaltung der anglikanischen von der römischen Kirche (S. 35-38), sowie die Lebensdaten von Sir Thomas Wyatt (S. 94) und John Donne (S. 101). Für den Erkenntnisgewinn verzichtbar erscheinen u. a. die exakten Daten zu den Kosten der Lord Mayor’s Shows von 1556 bis 1613 (S. 157), die genauen Maße des Cockpit-in-Court (S. 175), sowie die Prozentzahlen (gemessen an der Gesamtbevölkerung) der Todesfälle der Bubonic Plague für einzelne Jahre (S. 231).

Wie aus diesen Ausführungen deutlich wird, ist Weidles Buch eher verlässlich denn ungewöhnliche Wege betretend und eine Fülle von Material bietend angelegt. Hierüber geht der (möglicherweise inzwischen überholte) Versuch der Literaturwissenschaft, eine Epoche als Ganzes zu fassen und ein gesamtheitliches Bild von dieser zu entwerfen, etwas verloren. Vielleicht erlauben uns aber die Zeiten von „Big Data“ eben diese Deutungsversuche nicht mehr. Die Deutungshoheit geht auf den Leser über, der sich sein eigenes Bild aus der Datenfülle machen kann. Diesem möglicherweise neuen Horizont der Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte im 21. Jahrhundert wird Weidles Studie sicher hervorragend gerecht.

Titelbild

Roland Weidle: Englische Literatur der Frühen Neuzeit. Eine Einführung.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2013.
280 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783503137732

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