Ein städtebauliches und architektonisches Gesamtkunstwerk

Zum 150. Eröffnungsjahr wird die Ringstraße in Wien in einem opulenten Text-Bild-Band vorgestellt

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 „Es ist mein Wille“, so dekretierte Kaiser Franz Joseph 1857 die Um- und Neugestaltung Wiens, die im Bau der Ringstraße gipfelte, jenem berühmten Boulevard, der sich nach beiden Seiten zum Donaukanal und Kai erstreckt und die Innenstadt großräumig umfängt. Nach dem Abbruch der Befestigungsanlagen wurde 1858 mit dem Bau der Ringstraße begonnen. Sie konnte in gut sieben Jahren vollendet und 1865 vom Kaiser eröffnet werden. Die bedeutendsten Architekten Europas leisteten einen Beitrag zu dieser Meisterleistung des Historismus. Denkmäler und Parkanlagen kamen hinzu – ein Gesamtkunstwerk war entstanden. Die Epoche des Historismus glaubte noch an die organische Fortsetzbarkeit der Vergangenheit in der Gegenwart. Für das Bauen der späteren Zeit wurde dann einerseits der Jugendstil (so das Secessionsgebäude von J. M. Olbrich oder die Stationen der Stadtbahn und das Postsparkassenamt von Otto Wagner), andererseits die klare, auf Ornamentik verzichtende Bauweise von Alfred Loos in Wien wegweisend. Die Ringstraße aber blieb nicht nur Sinnbild einer Metropole, der letzten im alten Europa, sondern auch Quelle eines neuen Lebensgefühls, sie prägte den sogenannten „Ringstraßenstil“.

In diesem Jahr, am 1. Mai 2015, jährt sich zum 150. Mal die Eröffnung der Wiener Ringstraße, und aus diesem Anlass ist ein wunderbarer Text-Bild-Band entstanden, der diesen 57 m breiten Prachtboulevard neu zu entdecken sucht. Dass dies so überzeugend gelang, ist in erster Linie der Wiener Fotografin Nora Schoeller zu verdanken, die in mehr als 100 großformatigen Fotografien, die sich über zwei Seiten hinweg erstrecken, den „Ring“ und seine Baudenkmäler aus neuer Perspektive zeigt. Panoramaartig vorgeführte Gebäudeensembles lassen weite Ausblicke zu. Ganze Straßenzüge wie einzelne Gebäude – Monumentalbauten, Palais, Wohnhäuser – deren Außen- und Innenansichten –, Denkmäler und Gärten visualisieren dieses einzigartige städtebauliche und architektonische Ensemble. Wir bekommen Palais und ihre Innenräume vorgeführt, die der Öffentlichkeit sonst nicht zugänglich sind. Die Fotografien von Nora Schoeller werden konfrontiert mit historischen Fotografien der dann abgerissenen Basteien, den Bauplätzen, den neu entstandenen Bauten rund um die Ringstraße und dem pulsierenden Leben auf der Straße, so dass sich aufschlussreiche Vergleiche von Damals und Heute ergeben.

In seinem Vorwort weist Alfred Fogarassy als Herausgeber des Bandes darauf hin, dass der Historismus der Ringstraße, der dann von den Pionieren des neuen Bauens um 1900 für verfehlt erklärt wurde, heute als „eine wichtige, ja notwendige und besonders fruchtbare Phase“ angesehen wird, „in der die Weichen für die moderne Architektur des 20. Jahrhunderts gestellt wurden“. Der Kunst- und Architekturhistoriker Andreas Nierhaus meldet sich dreimal zu Wort: In seinem Aufsatz „Die Hauptstraße des 19. Jahrhunderts“ geht er der Frage nach, von welchen Interessen der Staatsverwaltung, des Kaiserhofes und auch der Militärs die Planung und Umsetzung der Stadterweiterung geprägt war. „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Bauen“ hat er seinen zweiten Beitrag überschrieben, der die Architektur der Ringstraße im Gewand seiner historischen Stile – der Gotik, der Renaissance und des Barock – untersucht und ihr die ersten Vorstöße in die Moderne an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gegenüberstellt. Schließlich widmet er sich den „Inszenierungen der Ringstraßen-Gesellschaft“ und zeigt, wie Hochadel und Großbürgertum hier lebte, wie sie repräsentierte, sich in „kollektiver Selbstdarstellung“ in ihren Palästen oder in Festzügen zum Ausdruck brachte.

Die Fotohistorikerin Monika Faber, die in den Archiven eine Unzahl historischer Fotografien recherchiert hat, untersucht die Rolle der Fotografie bei der Planung, Gestaltung und Erschließung der Ringstraße. In einer weiteren Studie beschäftigt sie sich mit dem Thema „Unterhaltung und Alltag einer eleganten Vergangenheit“. Die Ringstraße diente als Kulisse für öffentliche Ereignisse, Militärparaden, Denkmalsenthüllungen; mit Kaffeehäusern und eleganten Geschäften ausgestattet, war sie die Flaniermeile für prominente Besucher und natürlich für die Wiener selbst. Auf Ansichtskarten und in „Schnappschüssen“ wurde hier das „Zusammentreffen unterschiedlicher Welten“ festgehalten. „Angst vor der Leere?“ fragt die Kunst- und Kulturhistorikerin Eva-Maria Orosz und beschreibt das zeittypische Bedürfnis der elitären Ringstraßen-Bewohner, ihre gesellschaftliche Stellung durch eine prunkvolle, extravagante Ausstattung der Boudoirs, Salons oder Säle zu demonstrieren. Frederic Morton, ein Kenner der Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie, gibt persönliche Erinnerungen an die Ringstraße und an das Café Landtmann wieder, an ein Wien, aus dem er 1939 mit seiner Familie emigrieren musste.

Als „Seismograph der Stadtgeschichte“, als „Bühne und umstrittener Raum“, als inszenierte Geschichtslandschaft wird die Ringstraße von dem Zeithistoriker Siegfried Mattl vorgeführt. Welchen Einfluss hat sie auf das avancierte Denken im 20. Jahrhundert ausgeübt? Die Zusammenstöße mit der Polizei und die Brandschatzung des Justizpalastes am 15. Juli 1927 verhalfen Elias Canetti zu Einsichten, die er in seinem Buch „Masse und Macht“ niederschrieb. Der „Ring“ war Schauplatz gegensätzlicher politischer Demonstrationen und Manifestationen, aber auch ein Raum der „Vergemeinschaftung“, der die sozial getrennten Teile der Bevölkerung zu einer Gesellschaft des Spektakels zusammenführte. Er war Fun-Meile, Festzugs- und Paradeort, Arena für Stadtmarathons und Open-Air-Festivals, auch Plattform der Gegenkultur: der Love Parade, der Regenbogenparade, der FreeRePublic, jener antikommerziellen linken Demonstration der jüngsten Zeit in Form einer Musikparade.

Schließlich führt uns der Landschaftsarchitekt und Gartenhistoriker Jochen Martz durch die Parks und Gärten des Ringstraßen-Areals, wobei er auch die zahlreichen Denkmäler als besondere Sehenswürdigkeiten mit einbezieht.

Die Ringstraße, diese bedeutendste städtebauliche Gesamtleistung des 19. Jahrhunderts, enthält alle Phasen und Stilrichtungen des Historismus, schließt aber auch die Architektur des Vormärz ebenso ein wie den Nach-Historismus. Was man vielleicht in diesem Band vermissen könnte, wäre die gezielte Beschreibung einzelner Monumentalbauten der Ringstraße, sie muss man sich erst aus den Texten und Fotografien zusammensuchen. Deshalb sollen wenigstens einige hier hervorgehoben werden. Bei der Votivkirche handelt es sich um das erste Bauwerk an der dann erst später entstehenden Ringstraße, das nach Plänen des Architekten Heinrich Ferstel 1856 bis 1879 zum Gedächtnis an die Rettung des damals 23-jährigen Kaisers Franz Joseph 1853 vor einem Attentat errichtet wurde. Von einem Freiraum umgeben, so ihren „Insel“-Charakter betonend, hat sie also eine zweifache Funktion: durch die Sakralität und ihren Denkmalscharakter. Formal beeinflusst wurde sie von der französischen Kathedralgotik mit Zweiturmfront, Chorumgang und Kapellenkranz.

Weiterhin erbaute Ferstel am Wiener „Ring“ im Stil der italienischen Hochrenaissance die mächtige Universität (1873-84). Ihr dreigeschossiger Massenaufbau wird dadurch gesteigert, dass die oberste Zone als Hauptetage ausgebildet wurde. Die notwendige Gliederung der langgestreckten Fassade übernehmen ein vorspringender Mitteltrakt, der eine Arkadenzone und eine Loggia besitzt und mit einem Tympanon bekrönt ist, und Eckrisalite, über denen sich gedrungene Kuppeln erheben.

Der erste Monumentalbau direkt an der Ringstraße war die Hofoper, ein in den historisierenden Formen der florentinisch-französischen Frührenaissance errichteter Prachtbau. Das riesige Theater mit fast zweieinhalbtausend Plätzen erscheint in den Formen der italienischen Hochrenaissance, der französischen Frührenaissance sowie mittelalterlicher Architektur. Die Hauptfassade betont ein von Arkaden und einer Loggia gegliedertes Risalit mit gedeckter Auffahrt, dessen Plastizität die Komposition beherrscht. Die aus dem Baukörper heraustretenden Zuschauer- und Bühnenräume haben ein gemeinsames Dach. Skulpturen auf der Attika bereichern den architektonischen Ausdruck. Die beiden Architekten Eduard van der Nüll und August Sicard von Sicardsburg, deren Stilmischung damals auf Ablehnung in der Öffentlichkeit stieß, erlebten die Eröffnung 1869 nicht mehr. Das große Stiegenhaus der Oper zeigt den „historistischen Aufbruch von der kompakten Substantialität zu einer gerüsthaften Gliederung, die allseitig vielfältige Raumdurchblicke gewährt“ (Klaus Eggert). Im Foyer des ersten Stocks entstanden die 14 Lünettengemälde mit Szenen aus Hauptwerken der jeweils darunter in Büsten dargestellten Opernkomponisten und die zwei Plafondbilder nach Entwürfen Moritz von Schwinds, der auch die Darstellungen aus der „Zauberflöte“ in den Lünetten und am Plafond der Loggia des Hauptgeschosses entwarf.

Friedrich von Schmidt hatte schon 1860 das neue Gebäude des Akademischen Gymnasiums entworfen, das dann am Beethovenplatz errichtet wurde. Aber seine bedeutendste Leistung an der Wiener Prachtstraße bestand in dem im neugotischen Stil gehaltenen, aber auch einzelne Renaissanceelemente und barocke Anklänge aufweisenden Neubau des Rathauses (1882-91). So monumental die gewaltige Hauptfront – der vorspringende Mitteltrakt gibt mit seinem 100 m hohen Hauptturm und den vier Nebentürmen dem Bauwerk eine bewegte Kontur –, so prachtvoll sind auch die beiden Stiegenhäuser in ihrer sich steigernden Lichtwirkung und Raumdehnung – wie die Parallelbeispiele in der Oper, dem Burgtheater und dem Kunsthistorischen und Naturhistorischen Museum.

Der aus Dänemark kommende Architekt Theophil von Hansen baute das Parlament (1873-83), einen zweigeschossigen Bau nach altgriechischem Vorbild, dessen Fassade in der Mitte und an den Ecken säulentragende Votivbauten beleben. Vor dem Parlament der eindrucksvolle Athene-Brunnen mit der Figur der Athene und den allegorischen Gestalten Elbe und Moldau, Inn und Donau, der Allegorie von Legislative und Exekutive. Zum Mittelportikus führt eine ausladende Auffahrtrampe. Die Baukörper der beiden halbkreisförmigen Sitzungssäle ragen aus der Komposition heraus, was an den Seitenfassaden zum Ausdruck kommt.

Da die Triade Universität, Rathaus, Parlament ein eindrucksvolles Gegengewicht brauchte, entschloss man sich zum Neubau des Burgtheaters gegenüber dem Rathaus. Auseinandersetzungen zwischen den Architekten Gottfried Semper und Karl Hasenauer behinderten den Bau – der eine war Anhänger der strengen Renaissance, der andere Vertreter des überladenen Barock –, bis sich Semper zurückzog und Hasenauer den Bau allein bis 1888 vollendete. Imposant die Vielzahl an symbolischen Figuren an dem 136,5 m langen Gebäude, in dessen Fassade die Halbkreisform des Zuschauerraums erscheint. Den leicht herausragenden Zuschauerraum überdeckt eine flache Kuppel, das Bühnenhaus ein Satteldach. Die Fülle der Details besonders im Inneren des Gebäudes zeigt die Kunstauffassung Hasenauers. Die beiden großen Treppenhäuser in den Seitenflügeln sind reich mit malerischem und skulpturalem Schmuck versehen, der fast ausschließlich von Gustav und Ernst Klimt, Franz Matsch und Viktor Tilgner stammt. Das Foyer schmiegt sich der halbrunden Fassade an und ist mit den Porträts berühmter Schauspieler geschmückt. Das Burgtheater war 1944 ausgebrannt und wurde 1955 wiederhergestellt.

Die beiden den Maria Theresia-Platz flankierenden Gebäude, das Kunsthistorische und das Naturhistorische Museum, die einander bis auf die Kuppelfigur völlig gleichen, prägen entscheidend den Gesamteindruck der Ringstraße. Sie wurden in der Zeit von 1872 bis 1881 im Stil der italienischen Renaissance von Semper und Hasenauer errichtet, wobei der erste für die Außenarchitektur und der zweite für die Innengestaltung verantwortlich war. Die Hauptinitiatoren für die Konzeption des Kunsthistorischen Museums waren Semper und der Maler Hans Makart. Die Kunstwerke der Vergangenheit sollten in einem stimmungsschaffenden Ambiente, in einer Auseinandersetzung mit der Architektur und der Kunst des Historismus präsentiert werden. Fast alle Wiener Kunstschaffenden waren an dem ikonologischen Programm beteiligt, welches das Universum der Künste in seinem metaphysischen Zusammenhang vorführte.

Die Neue Hofburg sollte nach den Plänen von Semper und Hasenauer aus drei Teilen bestehen: dem Hofburgflügel am Kaisergarten mit segmentförmigem Abschluss gegen den Heldenplatz, einem gleichartigen Flügel auf der Volksgartenseite und aus einem der Alten Hofburg vorgelagerten Mitteltrakt, der die beiden Flügel verbinden sollte. Doch nur der Hofburgflügel am Kaisergarten wurde gebaut, und wenn auch später noch Fortsetzungarbeiten am Burgbau erfolgten, die sich vor allem auf den Innenausbau konzentrierten, blieb das Projekt des „Kaiserforums“, das der Gipfel der Stadterweiterung geworden wäre, unvollendet.

Stadt- und Straßenpläne, Pläne der Stadterweiterung, Pläne und Entwurfsskizzen der Architekten ergänzen die reichen Bildteile des Bandes. Wie hat Wien noch zu Zeiten der Basteien ausgesehen, wie hat es sich durch den Bau der Ringstraße verändert, was ist durch den Zweiten Weltkrieg zerstört worden und wie wurde dieser einzigartige Straßenzug wieder hergestellt, darüber erfährt man in Text und Bild. Dabei wird auch nicht verschwiegen, dass, nachdem die Kriegszerstörungen vorerst beseitigt worden waren, seit 1945 auch vieles der Spitzhacke zum Opfer fiel.

So liegt hier ein Prachtband über das bedeutendste Architekturmuseum des Historismus vor, der gleichermaßen zum genussvollen Blättern, zum anregenden Schauen wie intensiven Lesen einlädt.

Titelbild

Alfred Fogarassy (Hg.): Die Wiener Ringstraße. Das Buch.
Fotos von Nora Schoeller.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2014.
264 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783775737722

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