Schlaflose Nächte in Großbritannien

Der Skandal um Hilary Mantels Erzählband „Die Ermordung Margaret Thatchers” wirkt skurril – könnte aber ein Glücksfall sein

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Glaubt man dem konservativen britischen Politiker Conor Burns, sollte man dieser Tage keinesfalls die Abendsendung Book at Bedtime des BBC-Senders Radio 4 einschalten. Denn in dieser Woche wird aus einem Buch gelesen, das ihm so furchterregend erscheint, dass es den Zuhörer bis in seine Träume verfolgen könnte: „Leaving aside the distastefulness, it certainly seems to me to be an unfortunate choice for people who are on the verge of a restful night’s sleep.”

Die Rede ist von Hilary Mantels kürzlich auch auf Deutsch erschienenem Erzählband „Die Ermordung Margaret Thatchers“. Die Titelerzählung hatte schon im September des vergangenen Jahres für emotionale Reaktionen gesorgt: Enge Vertraute der 2013 verstorbenen ehemaligen Premierministerin Thatcher halten die Imagination eines tödlichen Attentats nicht nur für „shocking“ und „dangerous“, sondern auch für kriminell, weshalb man eine Strafverfolgung des fiktiven Anschlags gefordert hat. Besonders betroffen äußerte sich Lord Tebbit, dessen Frau bei einem tatsächlichen Attentat auf Thatcher schwer verletzt wurde und seitdem gelähmt ist. Jetzt erheben sich erneut Proteste: gegen die Entscheidung des öffentlich-rechtlichen Senders BBC, dem Buch auch noch eine weitere Plattform zu bieten. Tebbit gibt seiner Fassungslosigkeit unmissverständlich Ausdruck: „It is a sick book from a sick mind and it’s being promoted by a sick broadcasting corporation.”

Neben persönlichen Verletzungen offenbart die Aufregung auch kollektive Ängste und Tabus im Umgang mit der Geschichte des Landes. Eine Auseinandersetzung mit der Person Margaret Thatcher ist mithin ein Kampf um Deutungshoheit. Die Meinung mancher, dass die Erfolge der Ministerin und damit des Landes auf Kosten von Randgruppen und sozialer Gerechtigkeit gegangen sind, will man am liebsten gleich gesetzlich verbieten.

Hilary Mantels Erzählung – und erst recht der ganze Band – ist wesentlich differenzierter und vielschichtiger als die Rhetorik der Betroffenheit, die durch die englischen Medien geistert. Es wäre ein Glücksfall, wenn der Skandal viele dazu bewegt, sich selbst ein Bild zu machen und das Buch auch zu lesen. Sie werden keine eindeutigen Antworten finden, sondern vor allem viele interessante Fragen – darunter auch provokative.

Die betreffende Erzählung ist die letzte des Bandes und damit gut platziert, denn sie teilt mit den vorangegangenen neun Texten zahlreiche Aspekte und führt diese zum Teil zusammen. Obwohl die einzelnen Erzählungen für sich funktionieren, hilft die Lektüre des gesamten Bandes: Sie lehrt das Misstrauen gegenüber dem ersten Eindruck.

Häufig steht die Drastik der Handlung in starkem Kontrast zur Gelassenheit der Figuren, die als Unverständnis oder Abstumpfung zu verstehen ist. In „Das Komma“ geht es um die Freundschaft zweier Mädchen, von denen eines vernachlässigt und verwahrlost scheint und eines Tages verschwindet. Verständnislos haben die beiden zuvor durch ein Fenster beobachtet, wie in einer wohlhabenden Familie ein Bündel zärtlich umsorgt wird, das sie mangels eines besseren Wortes als „Komma“ identifizieren. Es mag sich um ein behindertes Kind handeln, aufgeklärt wird das nicht. Eine Mischung aus Neidgefühlen und Angst vor der Fremdartigkeit des Geschöpfs schürt die Lust zu Gewalt: „Ich werfe einen Stein drauf, dann sehen wir, ob es sprechen kann.“ Die Mädchen sind an Gewalt gewöhnt. So erzählt die eine der anderen von der Drohung ihres Vaters, sie in eine „Besserungsanstalt“ zu schicken: „‚Da verprügeln sie dich jeden Tag.‘ ‚Weshalb denn?‘ ‚Wegen gar nichts, sie tun’s einfach so.‘ Ich zuckte mit den Schultern. Es klang nur zu wahrscheinlich.“

Immer schwankt der Leser zwischen Identifikation und Distanz zu den Figuren. So wie sich diese in verschiedenen Situationen der Handlung von ihrem Gegenüber zugleich angezogen und abgestoßen fühlen, ergeht es auch dem Leser. Mal ist er Komplize, dann wiederum schreckt er vor dem Beschriebenen zurück. Insofern rufen die Texte zwar Unbehagen und zum Teil Ekel hervor, letzten Endes aber auch vor sich selbst. Gewalt beispielsweise hat in den Dialogen und Szenen solch hohen Wiedererkennungswert, dass eine moralische Empörung nur als Heuchelei bezeichnet werden kann.

Mantel lässt keine Helden sprechen. Ihre Figuren sind größtenteils voller unreflektierter Emotionen. Wenig von dem, was sie sagen, ist zuverlässig. Kunstvoll verweisen Leerstellen, Doppeldeutigkeiten und Ironien auf das Gemeinte. In „Harley Street“ wird die Erzählerin zu einer Kollegin eingeladen, die sich kurz zuvor als lesbisch herausgestellt hat: „Ich weiß noch nicht, ob ich hinfahre. Kommen Sie auf einen Bissen, so hat sie es ausgedrückt.“ Gerade weil die Erzählung auf diese Weise endet, wird die Doppeldeutigkeit des letzten Satzes besonders herausgestellt. Die Erzählerin offenbart Abscheu vor Homosexualität und eine irrationale Angst, davon angesteckt zu werden.  

Auch „Die Ermordung Margaret Thatchers“ ist ein Text mit vielen Ebenen. Eine reiche Londonerin lässt bereitwillig einen IRA-Terroristen in ihre Wohnung, den sie für den angekündigten Installateur hält. Als sich herausstellt, dass er plant, von ihrem Wohnzimmerfenster aus Margaret Thatcher zu erschießen, versucht sie nicht ihn davon abzuhalten – ist im Gegenteil sogar zu Fluchthilfe bereit. Wieder passt das sachliche, zuweilen komische Gespräch der beiden nicht zu dem grausamen Vorhaben. Und auch diese beiden sind nicht als Identifikationsflächen gedacht. Sie stehen jeweils für sehr begrenzte Perspektiven auf das Weltgeschehen – ihre völlig verschiedenen Gründe für die Ablehnung der Ministerin machen das deutlich. Mantel, bisher Autorin von historischen Romanen und zweifache Gewinnerin des Booker Preises, ist am Einfluss des Persönlichen, Subjektiven auf historische Ereignisse besonders interessiert. Mehr als um Thatcher geht es deshalb um die Begegnung zweier Menschen, in deren Erleben sich Individuelles und Politisches vermischt.  

In den Text ist schon eine Selbstreflexion und -legitimation integriert. Kontrafaktische Geschichtsschreibung muss in der Literatur erlaubt sein: als Anregung zu Reflexion und Raum für Fantasie, ja Fantastik. Die Beschreibung der Tür in der Wand steht in einem emphatischen Sinn für ebendiese Freiheit der Kunst: „Wer hat die Tür in der Wand nicht gesehen? Es ist der Trost der schwachen Kindes, die letzte Hoffnung des Gefangenen. […] Es ist eine besondere Tür, die nicht den Gesetzen von Holz und Eisen gehorcht. Kein Schlosser kann sie versperren, kein Gerichtsvollzieher eintreten.“

Ohne dass eine konkrete politische Argumentation erkennbar wäre, fragt der Text nach möglicher Verständigung in sozial zerrissenen Gesellschaften, nach der Gewöhnung an drastische Gewalt und Voyeurismus, nach der Bereitschaft zu Solidarität und Verantwortung und nach den Strategien von Geschichtsschreibung. Als Subtexte lassen sich diese Themen schon in den vorangegangenen Erzählungen finden.

In der Öffentlichkeit werden die Ebenen von Mantels Erzählung gar nicht erst wahrgenommen. So bleibt die Kluft zwischen politischen und literarischen Interessen bestehen, die gegenseitiges Verständnis verhindert. Davon zeugt auch die Reaktion Hilary Mantels: „There is no need for me or any writer to justify or explain herself to people who have no interest in fiction except when it feeds their dim sense of being injured in some way.” Helfen könnte nur – um das noch einmal zu bekräftigen – selbstständiges Lesen. Man könnte auch Radio hören. Nicht jede durchwachte Nacht ist eine schlechte.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Hilary Mantel: Die Ermordung Margaret Thatchers.
Aus dem Englischen übersetzt von Werner Löcher-Lawrence.
DuMont Buchverlag, Köln 2014.
158 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783832197681

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