Zwei seltsame Heilige

Constanza Cordonis Gang durch die Barlaam-und-Josaphat-Tradition des europäischen Mittelalters

Von Sabine Heidi WaltherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Heidi Walther

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Mittelalter gehörte die Legende von Barlaam und Josaphat zu den am weitesten verbreiteten Stoffen überhaupt, heutzutage ist sie jedoch nur noch Mediävisten ein Begriff. Immerhin noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts findet sich im Vollständigen Heiligen-Lexikon (1858) von Johann Evangelist Stadler und Franz Joseph Heim ein Eintrag zu den beiden Heiligen Barlaam und Josaphat:

„Der hl. Barlaam war vermuthlich ein Priester und Einsiedler in der Einöde von Sennaar, und wird von ihm erzählt, er habe, als Kaufmann verkleidet, den Josaphat, eines indischen Königs Sohn, zum Christenthum bekehrt. Nach dem Mart[yrologium] Rom[anum] wo diese Heiligen auch am 27. Nov. aufgeführt sind, werden sie bei den Indern verehrt, und soll der hl. Johannes Damascenus ihre wunderbaren Thaten aufgeschrieben haben. Doch wird die Schrift, in welcher diese Erzählung sich findet, nicht als ächt angesehen. […] Nicht als wollte ich behaupten, es sei alles darin erdichtet; läugnen, daß es jemals einen Barlaam und Josaphat gegeben habe, wäre vermessen. Das Zeugniß des römischen Martyrologiums, welches sie unter die Zahl der Heiligen setzet, erlaubt nicht daran zu zweifeln.“

Nachdem hier zunächst – offen – nur die Verfasserschaft des Johannes Damascenus an der griechischen Legende angezweifelt wurde, werden trotz der hier angeführten Autorität des römischen Martyrologiums bald auch die Zweifel an der Echtheit der Heiligen selbst lauter. Im Rahmen des größer werdenden Interesses an Indien stellten Gelehrte in den folgenden Jahren fest, dass die Erzählung über den indischen Prinzen Josaphat frappierende Ähnlichkeiten mit dem Leben des indischen Prinzen Gautama aufweist – dass wir es hier also mit einer christlichen Bearbeitung einer Lebensbeschreibung Buddhas zu tun haben.

Constanza Cordonis Arbeit, eine überarbeitete Fassung ihrer Dissertation (Wien 2010), widmet sich diesem weitverbreiteten Stoff des Prinzen Josaphat, der sich unter dem Einfluss des Einsiedlers Barlaam zum Christentum bekehrt. Die Arbeit zerfällt in zwei Teile: Der erste Teil behandelt zunächst den „Weg von Indien nach Europa“, dann die lateinische Tradition, die die Grundlage der europäischen mittelalterlichen Fassungen bildet, und schließlich die volkssprachlichen mittelalterlichen Traditionen. Im zweiten Teil der Arbeit greift die Autorin drei der vorgestellten volkssprachlichen mittelalterlichen Fassungen auf und unterzieht sie näherem Studium.

Im ersten Teil stellt Cordoni in einzelnen Kapitel die Fassungen in den jeweiligen Sprachen vor. Sie umreißt den Inhalt der jeweiligen Texte und zeichnet anhand der Forschungsliteratur die Forschungsgeschichte nach. Die erste christliche Fassung des Textes war das georgische Balavariani. Der griechische Text, der die Grundlage für die lateinische Übersetzung liefert, ist ein in Lokalisierung, Datierung und Verfasserschaft umstrittener Text. Inzwischen neigt man dazu – mit dem letzten Herausgeber Robert Volk –, den traditionell Johannes von Damaskus (8. Jh.) zugeschriebenen Text einem gewissen Euthymios (ca. 955-1028) zuzuschreiben, dessen Vermittlertätigkeit zwischen dem Georgischen und Griechischen auch anderweitig nachweisbar ist. Der Text wurde dann zwei Mal unabhängig voneinander ins Lateinische übersetzt. Die erste Übersetzung bleibt wohl wirkungslos, die zweite hingegen wird zur Vulgata, zur Grundlage der volkssprachlichen Übersetzungen im Mittelalter.

Die Attraktivität des Textes, die sich an der weiten Verbreitung sowohl des griechischen und lateinischen Textes als auch der späteren europäischen volkssprachlichen Fassungen zeigt, wird sicherlich durch die erzählerische und inhaltliche Reichhaltigkeit der Texte verursacht. Besondere Bedeutung kommt dabei einer großen Anzahl metadiegetischer Erzählungen zu, die zumeist exemplarischen Charakter haben und die der Text aus der arabischen Vorlage des georgischen Textes ererbt hat. Auf der Stufe des byzantinischen Romans wird der Stoff durch die Verwendung von allerlei Sekundärquellen weiter angereichert und auch mit weiteren – nun christlichen – Parabeln versehen, wodurch ein sehr bunter Text entsteht, der im Mittelalter offenbar als attraktiv angesehen wurde, wie man aus der weiten Verbreitung sowohl des griechischen und lateinischen Textes als auch der volkssprachlichen Fassungen folgern darf.

Die Abschnitte über die einzelnen Texte der französischen und provenzalischen, der spanischen und portugiesischen, der italienischen, der deutschen, der skandinavischen und schließlich der englischen Tradition fassen unter den Stichworten Überlieferung, Ausgaben, Autor, Datierung, Textbeschreibung und Quelle den Stand der Forschung zusammen. Man kann feststellen, dass die Form der Texte vielfältig ist: Es gibt Prosa- und Versfassungen, verschiedene Gattungen von Heiligenleben bis zum Roman werden diskutiert, ja es gibt sogar Dramen. Neben selbständigen Texten treten Kurzfassungen auf, die in längere Werke oder Legendensammlungen eingebettet sind. Cordoni gibt jeweils Incipit und Explicit der Texte und zitiert gelegentlich markante Passagen aus dem Text. Pointierte Beobachtungen und Urteile anderer Wissenschaftler werden (vielleicht etwas zu häufig) als Blockzitate übernommen.

Der zweite Teil von Cordonis Dissertation beginnt mit einem Referat verschiedener Arbeiten, die sich mit unterschiedlichen theoretischen Aspekten der Legendenforschung befasst haben. Zwar wird am Anfang angedeutet, dass bei der gattungstheoretischen Einordnung der Texte Schwierigkeiten bestehen, jedoch wird nicht sogleich explizit gesagt, worin genau diese Schwierigkeiten bestehen. Der Gang durch die einschlägige Literatur zur Definition und Eigenart der Legende bleibt ohne Zusammenhang zur Barlaam-und-Josaphat-Legende im Allgemeinen – was durch die Vielfalt der Texte wohl verständlich ist – aber auch ohne Bezug auf die im Folgenden behandelten drei Texte. Der Abschnitt endet mit der lapidaren Feststellung, dass die Einordnung der Texte wegen mangelnder Einheitlichkeit in die Gattung der Legende schwierig sei, dass aber dennoch in der Forschungsliteratur dieser Begriff meist verwendet wurde. Ebenso fände eine solche Einordnung im Mittelalter statt. An dieser Stelle zählt die Autorin dann plötzlich vier Punkte auf, die eine Einordnung der Texte unter die Legende schwierig machen. Diese Punkte hätten am Anfang des Abschnittes für eine Fokussierung des Forschungsüberblickes sorgen können.

Die abschließende Studie dreier volkssprachlicher Texte, die auf etwa 130 Seiten den eigenständig forschenden Teil dieser Dissertation ausmacht, behandelt zwei Versfassungen aus dem 13. Jh. und eine Prosafassung aus dem 14. Jh.: die mittelhochdeutsche Bearbeitung durch Rudolf von Ems (Barlaam und Josaphat), die altfranzösische Fassung des Gui de Cambrai (Balaham et Josaphas) und eine altkastilische anonyme Prosafassung (El libro de la vida de Berlan e del rrey Josapha).

In vier thematischen Kapiteln beschäftigt sich Cordoni hier mit der Umsetzung des Motivs der Wüste („In eremo“), den vermittelten Körperbildern („Der asketische Körper“), der Verwendung von Bibelzitaten und schließlich den eingelegten Binnenerzählungen (Apologe), einem Parabelkorpus, das wohl im Mittelalter wie heute die besondere Faszination der Barlaam-und-Josaphat-Texte ausmacht. Die ersten beiden Themen umfassen also Bereiche, die für die Konstruktion eines Heiligen wichtig sind und seine besondere Lebensform – Rückzug und Askese – betreffen. Die beiden anderen Kapitel befassen sich mit narratologischen Besonderheiten der Barlaam-und-Josaphat-Tradition, nämlich der reichen Verwendung biblischer Zitate und der Einfügung von Binnenerzählungen. Zu diesen Binnenerzählungen gehören bekannte biblische Parabeln wie das Gleichnis vom Sämann oder von den zehn Jungfrauen. Darüber hinaus gibt es aber auch eine Reihe außerbiblischer orientalischer Apologe wie „Die Todestrompete“, „Die vier Kästchen“ und „Der Mann in der Grube“, die orientalisches Erzählgut ins europäische Mittelalter vermitteln und die getrennt von der Legende vor allem Eingang in Exempelsammlungen und Predigten finden. Die biblischen und außerbiblischen orientalischen Apologe werden von Cordoni an den gewählten volkssprachlichen Texten dargestellt, jedoch nicht verglichen, da jeder Apolog anhand nur eines Beispieltextes erläutert wird.

Diese vier Detailstudien bestimmter Aspekte der Texte sind insgesamt eher knapp und deskriptiv geraten. Oftmals hat man den Eindruck, dass – wie hier schon exemplarisch für die Gattungsdiskussion gezeigt wurde – der Text von einer weiteren Überarbeitung profitieren hätte können. Leider stößt man auch im zweiten Teil auf viele Blockzitate, die den Lesefluss hemmen und öfter am Ende von Kapiteln an die Stelle eines im Kapitel erarbeiteten Ergebnisses treten. Manchmal findet man am Ende von Kapiteln auch längere Zitate aus den Primärtexten, was den deskriptiven Eindruck der Arbeit verstärkt. Gelegentlich werden auch Inhaltsangaben (z.B. der Apologe) wie Zitate formatiert, was durchaus irritiert.

Einige für die künftige Forschung nützliche Anhänge beschließen die Arbeit: darunter eine Inhaltsübersicht der Vulgata, ein Verzeichnis der handschriftlichen Überlieferung, eine Liste der metadiegetischen Erzählungen von Kitab, Balavariani und Byzantinischem Roman/Vulgata, eine Tabelle der Rezeption der Apologe in Werken außerhalb der Barlaam-und-Josaphat-Texte und schließlich eine Bibliographie.

Wie oben nicht zufällig formuliert, „zerfällt“ die Arbeit in der Tat in zwei Teile. Der erste Teil ist eher als ein Nachschlagewerk zu verwenden, denn selbst der am Stoff interessierte Leser wird bei einem 256-seitigen Referat des Forschungsstandes ermüden, zudem dieser Forschungsstand sich auf alle überlieferten Texte und nicht nur die im zweiten Teil analysierten bezieht. Da bisher jedoch nur ein Überblick über die lateinische und französische Tradition durch Jean Sonet (1949) vorlag, ist dieser Teil ein sehr nützliches Instrument, das künftigen Forschern die Arbeit wesentlich erleichtern wird. Man wünschte nur, dieser erste Teil wäre als ein separates Lexikon erschienen. Der zweite Teil besticht auf den ersten Blick durch sein komparatistisches Vorhaben, das leider zu selten fruchtbar gemacht wird, da kaum ein Vergleich mit der lateinischen Vorlage angestellt wird und auch selten die volkssprachlichen Fassungen wirklich miteinander verglichen werden.

Im Ergebnis wird der Leser über den Stand der Barlaam-und-Josaphat-Forschung sehr gut informiert. Der Charakter der mittelalterlichen Bearbeitungen und das Vorgehen der Bearbeiter werden deutlich. Dennoch bleibt der Eindruck eines nicht ganz gelungenen Buches, das besser in zwei getrennten Bänden erschienen wäre. Man spürt geradezu, dass der Autorin wohl über der Fülle des zusammengetragenen und erschlossenen Materials die Kraft für eigenständige Analysen im zweiten Teil ausgegangen ist. Trotz dieser Kritik halte ich die Dissertation für einen wichtigen Beitrag zur Barlaam-und-Josaphat-Forschung, den künftige Forscher mit Gewinn und mit großer Dankbarkeit für die geleistete Kärrnerarbeit des Zusammentragens und Sichtens der ungeheuren Materialmenge heranziehen werden.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Constanza Cordoni / Matthias Meyer (Hg.): Barlaam und Josaphat in der europäischen Literatur des Mittelalters. Darstellung der Stofftraditionen – Bibliographie – Studien.
De Gruyter, Berlin 2014.
497 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110341850

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