Ausgiebig lieben heißt ausgiebig leben

Die Monothematik von Paulo Coelho bestimmt auch seinen Roman „Untreue“

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Linda ist 31 Jahre alt. Sie ist erfolgreich, verheiratet, hübsch und begehrt. Sie besitzt ein Haus in Genf. Sie lebt ein Leben in Routine, ohne Gefahren und versinkt dennoch immer weiter in einen Strudel aus Traurigkeit und Ängsten. Linda ist „hin- und hergerissen zwischen der Angst, dass sich alles verändern könnte, und der Angst, dass alles bis zum Ende meiner Tage gleich bleibt“. Die ewig gleichen Rituale jedes Tages, vom Zähneputzen bis zu den „Arbeitskojen mit niedrigen Trennwänden“ im Großraumbüro, nähren ihre Traurigkeit. Schließlich trifft sie einen Jugendfreund wieder, der inzwischen erfolgreicher Politiker ist, und beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit ihm. „Untreue“ heißt daher auch das neue Buch von Paulo Coelho. Dabei handelt es nur vordergründig vom Ehebruch, der aus der Ich-Perspektive Lindas geschildert wird.

Die „Untreue“ Lindas ist nur ein Versuch, ihren Depressionen zu entkommen, die sich wie eine Kralle um ihr Herz legen und immer fester zupacken, obwohl sie alle „Pflichten zu Hause und im Beruf“ erfüllt. Mit dem heimlichen Sex will Linda ihrem „faden Leben einen Kick geben“ und fällt immer tiefer in ein schwarzes Loch. Linda besucht drei Psychiater und findet schließlich Trost und Verständnis bei einem kubanischen Schamanen. Mit Beruhigungstabletten im Blut und zerrüttetem Nervenkostüm wird ihr bewusst, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzt. „Ich schleppe mich regelrecht dahin, obwohl es bergab geht“. Wut und Hass mehren sich in ihrem Inneren, bis sie sich selbst nur noch als Versagerin sieht. Vor diesen Ängsten warnt Coelho – „der Angst vor dem Unbekannten, dem Tod, dem Leben, den Grenzerfahrungen“.

Coelho ruft in seinen Büchern immer dazu auf, seinen eigenen Weg zu gehen, seine Träume zu leben und aus gewohnten Pfaden auszuscheren. Wer seine Träume nicht lebt und will, dass alles so bleibt wie es ist, der steuere unweigerlich auf Leid zu. Jeder Versuch, die Zeit anzuhalten, sei eine Vergeudung von Energien. In seinem autobiographisch gefärbten Roman „Aleph“ hatte Coelho die Liebe als ein außerhalb der Zeit stehendes Phänomen bezeichnet. Menschen blieben im Laufe ihrer Beziehungen nicht dieselben. Aber die Liebe sei Zeit und Raum zugleich in einem einzigen Punkt, den er Aleph nennt. Dieses Aleph konkretisiert er in seinem neuen Roman. Es ist die Ewigkeit, ein Gefühl von Kraft und Licht im Herzen, welches „alles umfassen kann, was schon geschehen ist“ und das Linda empfindet, als sie am Ende des Romans mit ihrem Mann einen Gleitschirmflug wagt und dabei aus ihrem Körper heraustritt: „Ich bin Licht, Raum und Zeit. Ich bin in einer anderen Welt.“

Damit reiht sich „Untreue“ in die Phalanx der Bestseller von Paulo Coelho ein, die sich stets um die Sinnsuche, die Suche nach Spiritualität und die Suche nach sich selbst und der Liebe drehen. Auch „Der Alchimist“ oder „Die Schriften von Accra“ handelten vom Umgang mit Erfolgen und Niederlagen im Leben, vom Alleinsein, der Angst vor Veränderungen, Schönheit und Liebe, Sinnsuche, Loyalität und Freundschaft: Monothematik. Immer wieder wird Coelho deswegen kritisiert. Es sei alles zu einfach, zu plump, seine Bücher ähnelten sich und kratzten nur an der Oberfläche. „Aleph“ hebe sich beispielsweise „weder in literarischer Weise noch vom Inhalt her“ ab und: „Die Menschen und Figuren sind aus dem Coelho’schen Kosmos nicht neu. […] Viel passiert nicht“, kritisierte Andreas Hudelist und hat damit Recht.

Die Beschränkung auf ein Thema kann allerdings auch als Stärke interpretiert werden. Mit jedem Buch wird das Lebenshilfe-Werk von Coelho weiter komplettiert. In der Tat wirkt „Untreue“ frisch und dennoch gleichzeitig kohärent; denn Coelho behandelt die Motive so frei wie möglich, die Verbindung zum Anfang, seinem ersten Weltbestseller „Der Alchimist“, ist aber jederzeit nachvollziehbar. Die wirklich wichtigen Fragen der Menschheit sind eben immer dieselben, meint Coelho und schrieb in „Aleph“: „Hier gibt es jede Menge Geschichten und obwohl sie alle schon oft erzählt wurden, lohnt es sich trotzdem, sie immer wieder neu zu erzählen.“

Unglaubwürdig wird Coelhos Story erst, als Linda zu ihrem Mann zurückkehrt, von Scham und Schuldgefühlen geplagt, der sie aufnimmt und ihr seltsam ruhig und verständnisvoll erklärt, dass Menschen nicht vernünftig sind und sich die Liebe ständig verändert: „Wer dies nicht begreift, ist dazu verdammt, wegen etwas zu leiden, das eigentlich dazu da ist, uns glücklich zu machen“, sagt er. Er gibt ihrer Liebe, die sich am Rande eines Abgrunds bewegte, wie selbstverständlich eine neue Chance. Und seine Frau will ihren Ehebruch nicht rechtfertigen, sich jedoch der Liebe neu zuwenden. Nach dem Gleitschirmflug mit seiner Grenzerfahrung und der Ahnung des Aleph, der Ewigkeit, ist für sie alles anders. „Während ich mich in der Luft befand, begriff ich, das von allem das Mächtigste meine Liebe zum Leben, zum Universum war.“ Sie erinnert sich an die schönen Momente in ihrer Beziehung, sie erkennt: „Ausgiebig lieben heißt ausgiebig leben.“ Ist das alles? In den „Schriften von Accra“ ergänzte Coelho: „Sei nur du selbst! Das allein zählt.“

So kann man in „Untreue“ durchaus eine Rechtfertigung für Affären erkennen. Nur die Liebe zählt, mit wem und wie auch immer. Gesellschaftliche Konventionen stellen keine Grenzen dar. Wer „Untreue“ liest, muss außerdem erzählerische Sprünge ertragen und darf sich nicht an einer allzu dünnen Geschichte stören. Wer nicht bereit ist, den schnellen Wandlungen von Coelhos Protagonisten zu folgen, wird keine Freude bei der Lektüre seines Romans empfinden. Die schmale Handlung ist eben nur die notwendige Bühne für eine Gedankenreise, auf die es sich einzulassen lohnt – wie bei den anderen Büchern, mit denen Paulo Coelho Erfolge feiert.

Titelbild

Paulo Coelho: Untreue. Roman.
Übersetzt aus dem Brasilianischen von Maralde Meyer-Minnemann.
Diogenes Verlag, Zürich 2014.
3145 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783257069082

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