Expansion und Fragmentierung

Der Historiker Peter Burke nimmt in „Die Explosion des Wissens“ eine Auslegeordnung vor

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wend‘ das [Genital] der Frau nach draußen – nach drinnen, gleichsam, und gefaltet zweimal das des Mannes, und finden wirst du gänzlich Gleiches bei den beiden.“ Diese Beschreibung des griechischen Arztes Galen bestimmte während Jahrhunderten die Vorstellung vom menschlichen Geschlecht und prägte somit das diffuse Wissen über die Zeugung. Doch erst im späten 17. Jahrhundert erlaubte es die Mikroskopie, ein Ei vom Spermium zu unterscheiden, danach dauerte es nochmals zwei Jahrhunderte, bis Oskar Hertwig 1876 den Zeugungsvorgang exakt demonstrieren konnte. Es ist so eine Sache mit dem Wissen. Auch wo wir keine exakten Kenntnisse haben, legen wir uns eine Erklärung zurecht.

So genau geht Peter Burke in seinem neuen Essay Die Explosion des Wissens nicht ins Detail. Als Fortsetzung von Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft unternimmt er darin eine Tour d’horizon über die Ausbreitung, Vertiefung und Vervielfältigung dessen, was sich seit der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert an Wissen, Informationen und Fertigkeiten angehäuft hat. Burke gibt sich dabei als „Pluralist“ zu erkennen, der unterschiedliche Kenntnisse und Meinungen für wünschenswert hält, „denn Verständnis erwächst erst aus dem intellektuellen Dialog, wenn nicht gar aus dem Konflikt“. Dieses weit gefasste Wissen, betont der Autor, beinhaltet sowohl eine theoretische (knowing that) wie eine praktische Komponente (knowing how). Wie das Beispiel von der Zeugung bezeugt, kann das how oft längst bekannt sein, wenn das that noch im Dunkeln liegt.

In einem ersten Teil gibt Peter Burke einen Abriss über die Primärtugenden des Wissens: Sammeln, Analysieren, Verbreiten und Anwenden, wobei sich deren Felder notgedrungen überschneiden. Um die Welt überhaupt erst geographisch zu fassen, wurden Erdteile exploriert, die Küsten vermessen, indigene Völker entdeckt. Dabei übernahmen auch militärische Feldzüge eine wichtige Rolle, wie der deutsche Anthropologe Adolf Bastian um 1800 feststellte: Sie „können für die wissenschaftliche Forschung fruchtbar sein und lassen sich zu diesem Zwecke nutzen“. So wurden unter dem Schutz von Armeen fremde Kulturschätze „gesichert“ – oder geraubt, je nach Standpunkt. Burke zählt die wichtigsten Etappen dieser Entdeckungen auf, die zeitlich parallel von technischen Erfindungen und kulturellen Errungenschaften begünstigt und begleitet wurden. Auch begrifflich wurde das Feld laufend arrondiert.

Dabei geht Peter Burke eher aufzählend vor, doch gerade daraus lässt sich ermessen, wie immens „unser“ kollektives Wissen im Laufe der Zeit geworden ist – auch wenn im Besitz anzeigenden „unser“ ein beträchtliches Quantum an westlichem Hochmut und kolonialistischer Willkür steckt. Notgedrungen rief all das gesammelte Wissen nach Archiven, Instituten und Museen, bevölkert von neuen Berufsgruppen, die Forschungspraktiken entwickelten und das institutionelle, technische und soziale Knowhow ausfächerten. Die „Analyse“ rückte ins Zentrum des Interesses, dann auch die Verbreitung dieser Fülle an Wissen. Burke geht den einzelnen Techniken vom Messen zum Interpretieren und von der Verbreitung zur Anwendung nach. Im Gefolge dessen bildete sich bald auch die Wendung vom „nützlichen Wissen“ heraus. Die Praktikabilität von Knowhow wiederum rief nach Patenten und erfand neue Arbeitsprozesse wie den Taylorismus.

So hängt alles mit allem zusammen. Wissen muss geteilt werden, damit es wirksam werden kann, wodurch wieder neues Wissen generiert wird. In diesem Prozess der stetigen Erweiterung wurde freilich bald evident, dass neues Wissen den Verlust von altem Wissen impliziert. In seiner kurzen Exploration der vorwiegend abendländischen Wissensräume und -sphären erkennt Peter Burke mehrere solcher Kräfte, die dem stetigen Akkumulieren von Wissen entgegenlaufen. Die Geschichte, sagt man, ist die Geschichte der Sieger. Die Kultur der Verlierer gerät darob in Vergessenheit. Vormoderne Kenntnisse verschwinden, alte Fertigkeiten gehen verloren, fremdes Wissen wird assimiliert und domestiziert. Es ist allerdings nicht leicht zu bestimmen, wer im modernen „Informationsfeudalismus“ letztlich Gewinner und wer Verlierer ist. Der globalen Expansion von Knowhow und Information antwortet eine Fragmentierung in minimal abgesteckte Wissensclaims. Die immense Fülle an Information erzeugt ein Defizit an Aufmerksamkeit für vertieftes, also verstandenes Wissen. Der Primat von Experten im öffentlichen Diskurs schließlich ruft Widerstand hervor in fundamentalistischen (Glaubens-)Bewegungen, die sich auf simple „Wahrheiten“ abstützen. Nicht selten resultiert aus der gesellschaftlich politischen Förderung von Bildung und Wissen eine Verfestigung, die Innovation und Neugier gar nicht mehr zulässt, weshalb es oft Außenseitern überlassen bleibt, alt gediente Paradigmen zu hinterfragen und aufzulösen. In dieses Feld gehört auch, was der Wissenssoziologe Robert Merton den „Matthäus-Effekt“ genannt hat: Leistungen von unbekannten Forschern werden denen zugesprochen, die über Bekanntheit verfügen – daher kommen Frauen in der Wissensgeschichte ebenso selten vor wie Arbeiter. Doch was wäre Charles Babbage ohne Ada Lovelace gewesen?

Peter Burkes Essay bietet keine Theorie an, und er überrascht nicht mit verblüffenden Schlussfolgerungen. Er ist, wie der Autor selbst im Vorwort schreibt, eher eine „impressionistische“ Bestandsaufnahme, die das weite Feld des Wissens und der Wissenskultur abstecken will. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Gerade in Anbetracht der Google-Falle („McDonaldisierung des Wissens“ oder „McKnowledge“) lohnt es sich hin und wieder zu vergegenwärtigen, welche Fortschritte an Wissen uns in den letzten 250 Jahren zuteil geworden sind – oder anders gesagt: gegen welche Mengen an (Nicht-)Wissen wir uns täglich erwehren müssen. Wissens- und Aufmerksamkeitsmanagement mögen Zauberbegriffe aus der neuen Ökonomie sein, sie sind zugleich Anforderungen, die uns im gewöhnlichen Alltag herausfordern und ständig zu Reaktionen zwingen.

Das Buch ist im Original 2012 erschienen, doch Burke hat es sich nicht nehmen lassen, für die deutsche Ausgabe einen Abschnitt über Edward Snowden und die Entdeckung jener geheimdienstlichen Hypertrophie einzufügen, die mit lauter Informationen bloß noch öde Wissenswüsten erzeugt.

Titelbild

Peter Burke: Die Explosion des Wissens. Von der Encyclopédie bis Wikipedia.
Aus dem Englischen Matthias Wolf unter Mitarbeit von Sebastian Wohlfeil.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014.
385 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783803136510

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