Wissen und Erinnerung sind dasselbe

Eine Vorbemerkung

Von Geret LuhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Geret Luhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dem 1942 verfaßten Romanbericht "Flucht in Frankreich" schildert der Schriftsteller Soma Morgenstern seinen Aufenthalt in verschiedenen französischen Internierungslagern, in Lagern, die man zu Beginn des zweiten Weltkriegs nutzte, um deutsche Exilanten und deutschsprachige Juden als fünfte Kolonne einzupferchen. Die Gefangenen, die in Morgensterns Bericht nicht nur den Schikanen der französischen Polizei, sondern auch Kälte und Hitze, Schmutz und Hunger nahezu schutzlos ausgeliefert sind, sitzen häufig in größeren Runden zusammen und sprechen miteinander. Einmal fällt während eines solchen Gesprächs die Bemerkung, daß in ihrem Lager "schon ein Lüftchen von Dachau" wehe. Abrupt erhebt sich daraufhin ein sonst stummer und in seinem Brüten abwesender Mann - "und mit scharfer Stimme stieß er zu uns herüber: 'Versündigt euch! Versündigt euch nur, meine Herren! Nur so weiter!' Und er ging sofort mit schnellen und harten Schritten von uns weg."

Zwischen einem Internierungslager in Frankreich und einem deutschen Konzentrationslager besteht für Soma Morgenstern bereits Anfang der 40er Jahre eine Differenz, die theologische Dimensionen hat. Die Unvergleichbarkeit des Leids ist absolut. Zugleich scheint die systematisch betriebene Judenvernichtung in seinem Buch bereits jenem Fiktionalisierungsverbot zu unterliegen, das noch über Jahrzehnte hinweg nur selten übertreten wurde. In Morgensterns Roman nämlich ist das deutsche KZ allein aufgrund dieser kurzen, die Grenze so wirkungsvoll markierenden Szene gegenwärtig: als Ort des Grauens, der sich der Beschreibung entzieht.

Die Hypostasierung der Shoah zum radikalen Bösen, das vom Menschen nicht begriffen werden kann, so fürchtete Hannah Arendt, werde die wissenschaftliche Aufarbeitung und Analyse des Holocaust behindern - eine Gefahr, auf die sie in ihrem Eichmann-Buch mit der These von der "Banalität des Bösen" reagierte. Der Weg, den das kulturelle Gedächtnis der Menschheit in den vergangenen dreißig Jahren beschritten hat, zeigt jedoch, daß Arendt sich täuschte: gerade weil die Menschen im Holocaust das absolute Böse erkennen, wurde er trotz aller Verdrängungsstrategien bei den Tätern und bei den Opfern nicht nur nicht vergessen, sondern rückt immer weiter in den Mittelpunkt des kulturwissenschaftlichen Nachdenkens der Menschen über sich selbst. Ein Phänomen, das Martin Walser aus deutscher Sicht jüngst etwas vorschnell als "Instrumentalisierung" ausgelegt hat, das literaturkritik.de als Rezensionsforum für Literatur und Kulturwissenschaft dagegen zum Anlaß nimmt, den Schwerpunkt dieser Ausgabe der "Erinnerung an den Holocaust" zu widmen.

Inwieweit die Shoah, obwohl man sich von offizieller Seite aus bislang nur zögerlich mit ihr auseinandersetzte, das geistige Antlitz der jüngeren Bundesrepublik geprägt hat, belegen die öffentlichen Skandale um Bittburg und um Fassbinders Müll-Stück, der Historikerstreit, die Debatten um Goldhagen und das Mahnmal und schließlich die Walser-Bubis-Kontroverse, die alle bisherigen deutsch-jüdischen Divergenzen der Nachkriegszeit summarisch in sich vereinigt. Um zu zeigen, wie intensiv die geistige Auseinandersetzung jenseits der Politik geführt wird, genügt schon ein kurzer Blick auf die jährliche Buchproduktion in Deutschland. Hätte ein vergleichbarer Schwerpunkt noch vor fünf Jahren zahlreiche belletristische Titel berücksichtigen können - Werke von Gila Lustiger, Robert Bober, Christoph Ransmayr oder Bernhard Schlink -, so überwiegen 1999 die geschichtswissenschaftlichen und kulturtheoretischen Publikationen. Zwar mag auch hier die Gefahr einer Übersättigung des Marktes drohen, doch fällt sie angesichts der Tatsache, daß viele dieser Bücher das Wissen über den Holocaust vergrößern, nicht ins Gewicht. Denn mit der Jahrtausendwende ist zugleich die Zeit gekommen, in der es altersbedingt bald keine lebenden Zeugen der nationalsozialistischen Verbrechen mehr geben wird. Die Erinnerung an die Shoah wird dann lediglich in dem Wissen über die Shoah bestehen, das die Menschen in den vergangenen sechzig Jahren zusammengetragen haben. In diesem Sinn, als Aufforderung, ist der Titel dieser Vorbemerkung zu verstehen: "Wissen und Erinnerung sind dasselbe".

Der Satz entstammt dem Golem-Roman des jüdischen Schriftstellers Gustav Meyrink und ist dort etwas anders gemeint. Es heißt da nämlich: "Allmählich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind dasselbe ..." Auch als eine solche, auf die Mechanismen des Gedächtnisses gerichtete Aussage ist der Bezug zu unserem Thema gegeben: wird durch sie doch die stetige Zunahme der Erinnerungsliteratur seit den 70er Jahren erklärt. So hat erst das Wissen vom Holocaust, wie es sich im kollektiven Gedächtnis auf Dauer vermehrte, die Überlebenden befähigt, den von Freud schon sogenannten "Reizschutz" des Bewußtseins zu öffnen und die Erinnerung aus der Tiefenverdrängung zu entlassen. Umgekehrt war der Erinnerungsprozeß ohne das kollektive Wissen kaum zu leisten, so daß es in den ersten Jahrzehnten nach der Shoah nur ganz wenigen Überlebenden gelungen ist, von den deutschen Verbrechen zusammenhängend zu berichten. Zu ihnen gehörte Primo Levi, der darauf hingewiesen hat, daß die Opfer derartiger traumatischer Ereignisse sich in zwei unterschiedliche Gruppen einteilen ließen: in Opfer, die das Erlebte en bloc verdrängten, und in Opfer, deren Erinnerung an die traumatische Kränkung erhalten bleibe und alle vorherigen oder späteren Erlebnisse überlagere. Er selbst habe der zweiten Gruppe angehört, ja sein Gedächtnis an die Lager sei so präsent, als habe er damals eine "Periode außerordentlich geschärfter Wahrnehmungsfähigkeit durchlebt", in der keine Einzelheit seiner Aufmerksamkeit entgangen sei.

Ganz anders hat Soma Morgenstern die französischen Lager erlebt: Denn nicht nur verliere man im Konzentrationslager seinen Besitz, seine Freunde und am Ende sein Leben, sondern vorher auch sein Erinnerungsvermögen: "Die Zeit, die in einem Konzentrationslager alles beherrscht, ist die Gegenwart", schreibt Morgenstern, "eine Überfülle von Gegenwart herrscht da. Nicht ein Spalt öffnet sich, um ein bißchen Vergangenheit oder Zukunft einzulassen. Darum verliert man auch das Gedächtnis. Man hat keine Zeit, der eigenen Eindrücke, der eigenen Gedanken, der eigenen Gefühle innezuwerden. Darum verfallen sie, kaum geboren, schon der Vergangenheit. Erinnern heißt finden. Finden kann man nur in der Vergangenheit. In der Gegenwart kann man nur verlieren. Und ein Konzentrationslager ist übervoll mit Gegenwart. Zum Wahnsinn voll ..." Ganz ähnlich ist es Grigorij Schur ergangen, dessen Aufzeichnungen aus den vierziger Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entdeckt wurden und nun unter dem Titel "Die Juden von Wilna" in deutscher Übersetzung vorliegen.

"Schreib, schreib ...", notiert sich Schur, "was Du nicht aufschreibst, vergißt du ... Und die Geschehnisse, die sich gegenwärtig zutragen, sie ereignen sich so schnell und sind so erschütternd, daß sie, wenn du nicht heute sofort darüber schreibst, morgen bereits unvollständig und ungenau erscheinen; im Lichte von anderen, auf sie folgenden Ereignissen ist man gezwungen, sie mit anderen Augen zu sehen, sie rücken in den Hintergrund. Daher muß man alles sofort niederschreiben, später ist es vielleicht zu spät ..." Grigorij Schur hat alles niedergeschrieben, alles, was er von 1941 bis zu seinem Tod im Jahr 1944 - er wurde von der Gestapo mit etlichen hundert anderen Juden auf Lastkähnen aufs Meer hinaus gefahren und ertränkt - im Wilnaer Ghetto mit ansehen und erleiden mußte. Die meisten Berichte über die Untaten der Deutschen wurden nach dem Ende des Terrors verfaßt: von denjenigen Augenzeugen, die ihn überlebten. Der Bericht über "Die Juden von Wilna" stellt als eine Art Tagebuch des Grauens in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar. Fassungslos läßt es einen zurück; gerade in Deutschland sollte man Schurs Buch lesen.

Wichtig sind die "Juden von Wilna" nicht zuletzt deshalb, weil sie das Vorgehen der Judenräte und der jüdischen Polizei im Wilnaer Ghetto auf eine Art schildern, die Hannah Arendts Kritik an den jüdischen Ghetto-Organisationen, die den deutschen Henkern zur Hand gegangen seien, auf den ersten Blick recht zu geben scheint - bis man erkennen muß, daß die Erniedrigung von Juden zu Verrätern und Mittätern psychisch gesehen das vielleicht schlimmste Verbrechen der Nazis gewesen ist. "Doch wie kann man erzählen", fragt sich Grigorij Schur, "von diesem totalen Grauen, das nie aus dem Gedächtnis derjenigen auszulöschen sein wird, die es mitmachen mußten, und das auch noch die Herzen künftiger Generationen zum Stocken bringen wird? [...] Wie läßt sich auf diesen Seiten das Weinen der Kinder ausdrücken und wie die Schreie ihrer Mütter? Wie kann der Text den letzten Blick der Opfer festhalten? Und wie kann man dem Leser dabei helfen, sich das Gesicht des Unmenschen vorzustellen - der deutschen Gestapomänner, der litauischen 'Aktivisten', der Soldaten, die ihre Opfer verhöhnten?" Obwohl der Text all dies nicht immer leisten kann, das Herz des Lesers bringt er doch auf jeder Seite zum Stocken. Denn der deutsche Sadismus nimmt auf ihnen Formen an, die sich der normalen Vorstellungskraft entziehen. Für die "Juden von Wilna" gilt so, was die knapp der Deportation entronnene Schriftstellerin Grete Weil einst nach der Lektüre Primo Levis bemerkte. Lange habe sie sich eingebildet, ein Zeuge der NS-Verbrechen zu sein, doch nun wisse sie, daß sie sich die Untaten nicht wirklich habe vorstellen können: "Meine Phantasie war nicht krank genug."

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Daß die Zusammenarbeit, die den Juden von den Nazis aufgezwungen wurde, die Tragik der Katastrophe noch unterstreiche, bemerkt auch der Jerusalemer Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Jakob Hessing in seiner ausführlichen Rezension der "Deutsch-jüdischen Geschichte in der Neuzeit", die den Schwerpunkt von literaturkritik.de eröffnet. In den vier voluminösen Bänden wird die vom Mittelalter bis zum Holocaust reichende Geschichte des deutschen Judentums als das Scheitern eines großen Versuchs der Integration dargestellt, der unvorhersehbar in Auschwitz geendet habe. Ohne Zweifel liegt mit den vom Leo Baeck Institut herausgegebenen Bänden das Standardwerk zur deutsch-jüdischen Geschichte vor - auch wenn der Autor des die Ausgabe abschließenden Shoa-Kapitels ebenfalls vor dem Unsagbaren verstummen muß. Wie spannend und innovativ sich Geschichte schreiben läßt, berichtet Rolf-Bernhard Essig anhand von Martin Sabrows Buch über "Die verdrängte Verschwörung". Der Rathenau-Mord, so kann Sabrow belegen, wurde nicht einfach aus dumpfem Antisemitismus begangen, sondern war Teil einer geplanten Gegenrevolution, die ihre Befürworter in den höchsten Kreisen der Weimarer Republik hatte. Welche Ausmaße der Antisemitismus dennoch während der Republik-Zeit besaß, zeigt eindrücklich das wichtige Buch Dirk Walters über "Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik". In der von Waltraud Strickhausen vorgestellten Studie werden erstmals die Akten des Moskauer "Sonderarchivs" verwertet. Das Ergebnis: Die antisemitische Gewaltbereitschaft war während der 20er Jahre bereits viel größer, als man bislang angenommen hat. Auch hier also wegweisende Geschichtsforschung, die in diesem Fall über das Standardwerk, Hermann Greives "Geschichte des modernen Antisemitismus", deutlich hinausweist.

Auf Lutz Hagestedts Blick in die neue Ausgabe der Zeitschrift "Exil" folgt eine begründete Warnung vor Kimberley Cornishs absurder Studie über die vermeintliche Beziehung zwischen Wittgenstein und Hitler. Hitlers Erfolg in Weimar wird von Volker Mauersbergers Buch über den "Fall einer deutschen Kulturstadt" untersucht, das den mit der Stadt Weimar gegebenen Widersprüchen zwischen deutscher Klassik und deutschen Konzentrationslagern nachspürt. Eine Besprechung von Saul Friedländers herausragender, den Werken Hilbergs an die Seite zu stellernder Studie über "Das Dritte Reich und die Juden", für die der israelische Historiker im letzten Jahr den Geschwister-Scholl-Preis erhielt, schließt den geschichtswissenschaftlichen Teil des Schwerpunkts ab, nicht ohne daß die auf die aktuellen Debatten bezugnehmende Preisrede Friedländers analysiert wird.

Die Rolle der Frau in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis ist immer noch mit einem Tabu belegt. Dieses Tabu hat jetzt, wie Eva Leipprand zeigen kann, Lukas Hartmann mit seinem Roman "Die Frau im Pelz. Leben und Tod der Carmen Mory" gebrochen. Ein Tabu war über viele Jahre hinweg auch der Anfang der 50er Jahre entstandene Roman "Eine Reise" von H. G. Adler - einer der ersten Texte, die das den Holocaust betreffende Fiktionalisierungsverbot mißachteten. Über die literarisch verfremdende Darstellung der Judenvernichtung in Adlers bedeutendem Roman, der jetzt erstmals seit fast vierzig Jahren wieder veröffentlicht wurde, hat Marcel Atze sich Gedanken gemacht. Dem Hinweis auf Raya Kruks Buch "Lautlose Schreie. Berichte aus dunklen Zeiten" folgt Rolf-Bernhard Essigs Durchsicht von Gunnar Heinsohns wegweisendem "Lexikon der Völkermorde", einem leider nur allzu aktuellen Nachschlagewerk.

Nach einem weiteren, von Kim Landgraf gegebenen Hinweis auf Anna Maria Jokls "Die Reise nach London", einem wichtigen und schönen Buch, das unter anderem ausführlich die Begegnungen Jokls mit Martin Buber und C. G. Jung beschreibt, ist der Leser eingeladen, sich auf Barbara Bauers Aufsatz "Kindheit zwischen Opfern und Tätern" einzulassen. Auf der Basis einer langjährigen Beschäftigung mit dem Thema gelingt es der Marburger Literaturwissenschaftlerin, durch einen auf die neueste Traumaforschung zurückgreifenden Vergleich mehrerer Autobiographien bestimmte psychische Entwicklungsstufen herauszuarbeiten, die bei Autoren der Jahrgänge 1927/28 gehäuft anzutreffen sind. Überraschenderweise liest sich Martin Walsers Roman "Ein springender Brunnen" aus dieser Perspektive als eine Antwort auf die Überlebensberichte mit ihm gleichaltriger jüdischer Schriftsteller. Ausführlich analysiert im Anschluß daran Waltraud Strickhausen zwei von Stephan Braese herausgegebene Forschungs-Bände über die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der deutschsprachigen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur, in denen vor allem die Verbindungen zwischen den verschiedenen gruppen- und kollektivspezifischen Gedächtnisinhalten und den jeweiligen literarischen Schreib- und Erinnerungsstrategien analysiert werden. Diese Strategien kehren als zentrales Thema auch in Dieter Lampings Buch "Von Kafka bis Celan" wieder. Wie weitgespannt Lampings Versuch ist, aus den vorhandenen Werken deutsch-jüdischer Autoren einen "jüdischen Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts" herauszulösen, beschreibt der Schweizer Literaturwissenschaftler Alfred Bodenheimer.

Mit verschiedenen Formen der sogenannten "Vergangenheitsbewältigung" beschäftigen sich die letzten vier Beiträge des Schwerpunkts. Harsche Kritik an dem bei Rowohlt erschienen Band "Mutter mochte Himmler nie" äußert Hanna Christiansen, die in dem Buch den Indikator einer inzwischen weitverbreiteten Schlußstrichmentalität erkennt. Daß sich NS-Spuren noch heute im Fernsehen aufdecken lassen, versucht die von Hans Krah herausgegebene Geschichte des NS-Films zu zeigen, die ihre wahren Stärken, wie Lutz Hagestedt konstatiert, jedoch in der Analyse der nichtindizierten historischen NS-Filme hat. "Nichtindiziert" blieben in der Bundesrepublik bekanntlich selbst die meisten NS-Verbrecher: so auch das Ergebnis der als Taschenbuch neu herausgegebenen Studie "Vergangenheitspolitik" von Norbert Frei, ein Buch, das Rolf Löchel einer Relektüre unterzieht. Zwei Dokumentationen zur Mahnmal-Debatte nimmt schließlich die Kunsthistorikern Barbara Welzel zum Anlaß, die Kontroverse um das "Mahnmal Mitte" noch einmal Revue passieren zu lassen, nicht ohne dabei selbst deutlich Stellung zu beziehen.

Vermißt man unter all den Publikationen den Band, der sich der "Erinnerung an den Holocaust" als einem Gesamtphänomen widmet, ist man einmal mehr auf nichtdeutsche Autoren verwiesen. Denn wer könnte sich dem Thema hierzulande so vielschichtig und intellektuell verantwortlich nähern wie Geoffrey Hartman in seinem Buch "Der längste Schatten. Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust"? Als Antwort auf das Bedürfnis nach einem historischen Schlußstrich reflektiert Hartman über all jene Fragen, die mit dem Gedenken an den Holocaust und mit der Tatsache, daß die Menschheit nichts aus ihm gelernt zu haben scheint, zusammenhängen. Vor allem seine Kenntnisse als Mitarbeiter des Videozeugen-Projekts in Yale kommen dem Dekonstruktivisten und großen amerikanischen Wissenschaftler dabei immer wieder zu gute. Ob es einst auch deutschen Intellektuellen gelingen wird, auf diese offene Art zum "Hüter einer abwesenden Bedeutung" (Blanchot) zu werden, bleibt abzuwarten. Unabhängig von dieser Frage wird literaturkritik.de sich bereits in der nächsten Ausgabe erneut dem Thema zuwenden: z. B. mit einer literarischen Analyse von Soma Morgensterns oben erwähntem, einzigartigen Romanbericht "Flucht in Frankreich" und mit einer Darstellung der neu edierten Schriften des bedeutenden deutsch-jüdischen Dichters und Exilautors Karl Wolfskehl, in dessen Werk Wissen und Erinnerung ebenfalls auf eine ganz besondere Art voneinander abhängen.

Titelbild

Geoffrey Hartman: Der längste Schatten. Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust.
Manesse Verlag, Berlin 1999.
280 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3351024886

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Wladimir Porudominski: Die Juden von Wilna. Die Aufzeichnungen des Grigori Schur 1941-1944.
dtv Verlag, München 1999.
224 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3423307234

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