Diese wetterwendische Schwäche des Herzens

Wenn einer dem anderen Hörner aufsetzt: Zwei Neuerscheinungen über die Untreue heute und die Kunst des Ehebruchs in den Romanen Flauberts, Fontanes und Tolstois

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Treue ist das, was noch immer die meisten Paare sich einander versprechen, ganz optimistische sogar in Form eines öffentlichen Gelöbnisses. Denkt man an die schon von Theodor Fontane beklagte „Gebrechlichkeit und wetterwendische Schwäche“ des menschlichen Herzens, kann man über diese Unverdrossenheit eigentlich nur staunen. Gerade die Ehe erscheint dann als „Wette, das ganze Glück durch einen Kompromiss zu bekommen“ (Wolfgang Matz) – eine Wette, die in Zeiten boomender Dating-Portale und Seitensprungagenturen fast schon tollkühn anmutet, zumindest aber als hochspekulativ.

Wer aber glaubt, der Wert der Treue hätte keine Zukunft mehr, irrt. Sie feiert fröhliche Urständ gerade dort, wo man sie am wenigsten erwartet hätte: in den heimlichen Affären und Liebschaften. Auf diese Paradoxie stieß die brasilianische Anthropologin Mirian Goldenberg bei Feldforschungen in ihrer Heimat. Goldenbergs qualitativen Interviews mit über 1.300 Befragten aus der urbanen Mittelschicht zufolge gehen viele Geliebte davon aus, der Mann hätte mit seiner Ehefrau schon längst keinen Sex mehr – sei demnach ihr, der Geliebten, „treu“. Was freilich, wie die Befragungen untreuer Ehemänner zeigen, allzu oft nur eine weitere Illusion ist.

Schon seit 1990, seit dem Erscheinen ihrer Studie „A Outra“, „Die Andere“, untersucht Mirian Goldenberg das Phänomen der Untreue. Jede ihrer Arbeiten, etwa über die Krise der Männlichkeit in einer von Männlichkeitswahn geprägten Gesellschaft, wird in Brasilien breit diskutiert. Eine auf Deutsch erschienene Auswahl mit kürzeren Texten von und über Goldenberg bietet nun eine überfällige Einführung, leidet aber aufgrund etlicher inhaltlicher Wiederholungen an erheblicher Redundanz.

Zu den Ergebnissen der Sozialforscherin gehört, dass auch in der brasilianischen Machismo-Gesellschaft von heute Seitensprünge längst kein Privileg der Männer mehr sind: 47 Prozent der von Goldenberg befragten Frauen waren schon einmal untreu (von den Männern 60 Prozent). Dabei zeigt sich allerdings ein interessanter Unterschied: Männer führen als Gründe die Lust auf Abwechslung an, sie verweisen auf körperliche Anziehung oder berufen sich schlicht auf ihre ‚männliche Natur‘. Untreue Frauen dagegen geben meist ihren Ehemännern die Schuld: „Sie sehen sich nicht als Subjekt des Seitensprungs“, so Goldenberg, „sondern als Opfer fehlenden Begehrens seitens des Partners. Die Männer gehen fremd, weil sich die Gelegenheit ergibt, die Frauen, weil sie sich nicht begehrt fühlen. Sie testen aus, ob ihr Körper noch begehrt wird, weil ihr Mann sie nicht begehrt.“

Mit dieser Rechtfertigung treten moderne Frauen in die Fußstapfen der drei berühmtesten Ehebrecherinnen der Weltliteratur, die alle irgendwann beklagen, „es habe ihnen an wahrer, richtiger Liebe gefehlt“, wie Wolfgang Matz konstatiert.  Berühmt wurde Anna Kareninas Abrechnung mit ihrem ach so langweiligen Gatten, nachdem sie sich in die Arme ihres Liebhabers Wronski geflüchtet hat. Zu den vielen stupenden Einsichten in Wolfgang Matzʼ „Die Kunst des Ehebruchs. Emma, Anna, Effi und ihre Männer“ gehört nicht zuletzt eine Ehrenrettung Karenins. Verglichen mit Fontanes Instetten, der stoisch bis zum bitteren Ende dem gesellschaftlichen Komment folgt, oder Flauberts ewigem Einfaltspinsel Charles Bovary erweist sich Tolstois Karenin als der menschlich-mitfühlendste der drei gehörnten Ehemänner; die Selbstlosigkeit seiner Liebe verschlägt noch heutigen Lesern die Sprache.

Wer denkt, über „Madame Bovary“, „Anna Karenina“ und „Effi Briest“ sei längst alles gesagt, sieht sich schnell überrascht. Die Lektüre von Matz‘ Literaturstudie erweist sich als aufregendes Sich-Hineindenken in längst kanonisch gewordene Texte, in fiktive Figurenpsychen und Beziehungen. Das beginnt schon mit der Motivation: Während sich Emma nach der Sünde verzehrt und Effi einfach nur spielen will, hält Anna sich zunächst für unverletzbar – und wird vom Leben eines Besseren belehrt. 

Das von Matz angestellte Vergleichen und Befragen aller Beteiligten, darunter auch der Liebhaber und Autoren, fördert immer neue Überraschungen zutage. Wer hätte etwa gedacht, dass ausgerechnet die unschuldig anmutende, junge Effi am Schnellsten zur Tat schreitet: „Anna fällt nach acht Jahren Ehe, Emma nach vieren, Effi aber bereits nach einem einzigen.“ Weshalb die übliche Deutung von Effi als einer von freudloser Ehe enttäuschten jungen Frau nicht zu halten sei, so Matz.

Viele aufschlussreiche Fragen stellt der Münchner Lektor und Übersetzer, der seine neue Studie als Fortsetzung von „1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter“ (2007) versteht. Zum Beispiel: Warum verwendet Flaubert im Titel die bürgerliche Anrede, Fontane aber den Mädchennamen der Heldin? Was passiert eigentlich nach dem Seitensprung? Warum verwirklicht nur Anna den romantischen Traum von der gemeinsamen Flucht? Wie gehen die Romane mit den Liebhabern um? Ist der Tod der drei Heldinnen wirklich als Strafe zu verstehen? Und schließlich: Warum ist „Emma Bovary“, obwohl als erstes veröffentlicht, der modernste der drei Romane – und „Effi Briest“ der schwächste?

Früh beantwortet Matz die Frage, warum alle drei Romane von untreuen Frauen handeln, während doch gemeinhin die Männer als die Wackelkandidaten einer Ehe gelten. In der bürgerlichen Ehe blieb ein untreuer Ehemann immer noch ein Ehemann, so Matz, eine untreue Frau dagegen riskierte, buchstäblich alles zu verlieren. „Nur für die Frauen ist Ehebruch ein Spiel ums Ganze, um Leben und Tod. Genau das ist es, was der große europäische Roman braucht: das Spiel ums Ganze, um Leben und Tod.“

Heute, wo die Scheidung das Duell ersetzt hat, sei der Ehebruch dagegen so banal geworden, dass er aus dem Roman nahezu verschwunden sei. Auch als Indikator für gesellschaftliche Veränderungen tauge er kaum noch. Als Beleg dient Matz Arno Geigers Roman „Alles um Sally“, in dem geschildert wird, wie sehr Untreue heute zur Privatsache zweier Individuen geworden ist: „Deine Frau treibt’s mit deinem besten Freund? Ja, wenn’s dich stört, musst du was tun, wenn nicht, dann lass es bleiben. Und wer weiß schon so genau, ob es ihn stört?“ Da würde Mirian Goldenberg wohl zustimmen.

Titelbild

Wolfgang Matz: Die Kunst des Ehebruchs. Emma, Anna, Effi und ihre Männer.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
320 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835314597

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Titelbild

Mirian Goldenberg: Untreu. Beobachtungen einer Anthropologin.
Herausgegeben von Florian Stoll und Thomas Leithäuser.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Mechthild Blumberg.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2014.
230 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783867644785

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