Finis Musicae

Hermann Kurzke legt eine hervorragend kommentierte kritische Ausgabe von Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ vor

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Gedenkjahr 2014 machte einmal mehr die kriegslüsterne Haltung von Wissenschaftlern und Künstlern zu Beginn des Ersten Weltkrieges betroffen bis ratlos: Wie konnten hoch gebildete, humanistisch erzogene und militärisch meist recht unbedarfte Männer einer, wie es heute scheint, rüden Schlagedrauf-Mentalität genüsslich Ausdruck verleihen? Bekanntlich gehörte Thomas Mann mit Texten wie „Gedanken im Kriege“ zu dieser Phalanx, auch wenn er selbst sich in den letzten Jahrzehnten seines Lebens nur ungern an jene Epoche eines gewiss nicht ästhetisch zu nennenden Radikalismus erinnerte.

In einer weit ausholenden Denk- und Schreibbewegung begann sich Mann bald darauf seines politischen und künstlerischen Selbstverständnisses zu versichern; damit setzte bei ihm zugleich eine Distanzierung von jener wie von aller Radikalität ein – zugunsten der Fiktion einer deutsch-bürgerlichen ‚Mitte‘ zwischen den Ideologien, zwischen den Nationen. Dieser Denk- und Schreibprozess kann seit 2009 im Rahmen der Großen kommentierten Frankfurter Thomas-Mann-Ausgabe besser denn je verfolgt werden: Der beste Kenner von Manns Großessay „Betrachtungen eines Unpolitischen“, der Mainzer Literaturwissenschaftler Hermann Kurzke, legte eine textkritisch durchgesehene und erstmals auch ausführlich kommentierte Ausgabe dieses Texts vor, auf den nun, 100 Jahre nach seiner Entstehung, einmal mehr hingewiesen werden muss.

Hatte Thomas Mann fast die ganzen Kriegsjahre hindurch an dem noch Ende 1918 erschienenen Buch gearbeitet, so fand dieses nur eine reservierte bis kritische Aufnahme. Dem Autor war das Opus der Lebensmitte später eher unangenehm, wenngleich er sich stets zu ihm bekannte. Weder die Forschung noch die in den vergangenen Jahrzehnten stetig gewachsene Gemeinde der Mann-Leser konnte viel mit ihm anfangen.

Auf den knapp 650 Druckseiten nimmt Thomas Mann eine Revision seines Weltbildes vor, nicht ohne selbstquälerisch die eigenen Positionen bis in feine Verästelungen überhaupt einmal zu Papier zu bringen, um vor der Öffentlichkeit damit eine Generalbeichte abzulegen. Es ist das Rückzugsgefecht eines aristokratisch gedachten, gebildeten deutschen Bürgertums, das Mann gegen die drohende Gefahr des modernen, demokratisch gesinnten „Zivilisationsliteraten“ ausruft. Nicht die Politik, sondern die Musik wird dem unliterarisch-bürgerlichen Deutschland zugeordnet, das nach Manns Befürchtung mittlerweile auf dem Weg zu einem zivilisatorischen und „entdeutschenden“ Radikalismus war – „Finis Musicae“ also.

Da mag es um die eigene Positionierung vor dem Hintergrund der wichtigsten Gewährsleute gehen – als da wären Nietzsche, Schopenhauer, Wagner und andere – und damit um den Versuch des Erfolgsromanciers, auch als Essayist einiges Gewicht zu erlangen. Natürlich steht auch der berüchtigte Seelenkampf mit dem und gegen den einst ästhetizistisch-aristokratisch, jetzt dandyesk-demokratisch gesinnten Bruder Heinrich auf der Tagesordnung. Doch lassen sich, etwa gleich in der ausführlichen, kurz vor der deutschen Niederlage abschließend verfassten Vorrede, auch unzweideutige Worte vernehmen: „Ich bekennne mich tief überzeugt, daß das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können, aus dem einfachen Grunde, weil es die Politik selbst nicht lieben kann, und daß der vielverschrieene ‚Obrigkeitsstaat‘ die dem deutschen Volke angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt.“

Biographische und weltpolitische Zäsur fallen hier trotz allem zusammen. Die so dezidierte Abwendung vom Ästhetizismus und die Verteidigung einer doch längst als Anachronismus erkannten und literarisch verarbeiteten Untertanen-Bürgerlichkeit ließe sich mit der Befürchtung Thomas Manns umschreiben, dass seine Zeit bereits vorbei sei. Die wehmütige Erinnerung an längst verblassende Erfolge und die zu narzisstischem Rückzug anleitende Einsicht, die anderen hätten gesiegt, erinnert vor der Zeit ein wenig an die tiefen Ressentiments der Deutschen nach 1918. Die hat Thomas Mann allerdings dann nicht mitgemacht, ganz im Gegenteil. Vielleicht war der ethisch von vornherein zweifelhafte Kriegsrausch von 1914 notwendig, um eine Dynamik in Gang zu setzen, die sich angesichts des Umfangs der „Betrachtungen“ und angesichts der Menge an eingearbeiteten Prätexten sehr aufwändig rekonstruiert werden muss.

Wer das Buch heute mit Genuss liest, der tut es um der Sprache willen. Gewiss kann man auch der dialektischen und oft paradoxen Denkbewegung Manns etwas abgewinnen. Nicht zuletzt ist die Suche nach den intertextuellen Referenzen und damit nach dem geistigen Horizont, vor dem das sperrige Buch gelesen werden muss, aussichtsreich, wenngleich mit nicht immer mit vergnüglichen Funden gekrönt.

Dass dies möglich ist, darf bereits seit Jahrzehnten der Kommentierungs- und Auslegungskunst Hermann Kurzkes zugute gehalten werden. Seit seiner Dissertation zu Manns Konservatismus und über eine Fülle von Büchern und Aufsatzpublikationen hinweg hat Kurzke ein immer dichteres kontextuelles Netz um die „Betrachtungen“ spinnen können. In einem knapp 800-seitigen Kommentarband stellt sich nun ein gewichtiger Teil seines Lebenswerks dem interessierten Leser dar, und es kann nur erahnt werden, wie viel philologischer Spürsinn und wie viel geduldige Arbeit allein in den 500 Druckseiten des Stellenkommentars stecken.

Die Kommentierungsbedürftigkeit des Essays stand indessen nie in Frage. 4.000 Zitate auf gut 600 Seiten, 400 Personen, die meisten als Zitatgeber – das ist nur die statistische Umschreibung einer herkulischen Arbeit. Kennt man den Montagekünstler Thomas Mann bislang besonders gut aus dem späten Roman „Doktor Faustus“, so werden nun auch die „Betrachtungen“ lesbar als Text, der modern nicht zuletzt aufgrund einer kreativ zu nennenden Anverwandlung von Angelesenem ist. Mit einer etwas unglücklichen Metapher spricht Kurzke von der „überzüchtete[n] Intertextualität dieses Werkes“ und hält fest: „Die weitaus größte Textmenge des Buches entfällt auf einmontierte Zitate und Anspielungen sowie ihre Wiederaufnahmen.“ Wie aber dieser so gar nicht geniehafte Autor markiert und unmarkiert zitiert, namentlich oder anonym, darüber informiert Kurzkes Kommentar systematisch und im Detail. Eine Einschätzung zu Rousseaus „Bekenntnissen“ gerät exemplarisch zur Diagnose von Manns Lektüre- und Zitiergewohnheiten: „Ob Thomas Mann viel mehr gelesen hat als den Anfang, ist zweifelhaft, jedenfalls zitiert er immer nur aus diesem.“ Freunde werden in Manns Buch namentlich genannt, Feinde bleiben namenlos – Lektüren beruhten auf Zufällen, Auswahlprozeduren hatten spielerischen Charakter, das gedruckte Buch enthält schlussendlich auch, so Kurzke wörtlich, „gänsefüßchenlose Plagiate“. Doch ist Literatur nie ohne verheimlichte Anleihen ausgekommen.

Ein unübersichtliches Monstrum war herausgekommen, als der Autor das Ergebnis seines geistigen Kriegsdienstes einer wenig respektvollen Öffentlichkeit anvertraute. Kurzkes einzig wesentlicher Eingriff in den Text, das Setzen von Zwischenüberschriften in eckigen Klammern in den Kolumnentiteln des Textbandes, möchte ihn übersichtlicher machen, steht aber bereits an der Schwelle zur Interpretation. Der Herausgeber bekennt dann allerdings auch freimütig zu der Faszination, die die „Betrachtungen“ seit Jahrzehnten auf ihn ausüben. Der vielleicht beste Kenner, Interpret und Vermittler von Thomas Manns Werk legt ein Jahrzehnt nach seiner Biographie ein zweites Opus Magnum vor, dem uneingeschränkte Anerkennung gebührt.

Titelbild

Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen.
Herausgegeben von Hermann Kurzke. Textband und Kommentarband. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke - Tagebücher - Briefe. Bd. 13. 1/2.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
1432 Seiten, 80,00 EUR.
ISBN-13: 9783100483485

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