Es ist zum Verrücktwerden

„Tagebuch eines Jahres“: der Schriftsteller Gregor Sander versucht sich an der Verewigung von 2013

Von Christof BultmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christof Bultmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Udo Jürgens war noch gar nicht tot, da war 2014 bereits Geschichte. Unzählige TV-Jahresrückblicke hatten das Jahr bereits Wochen zuvor fein säuberlich katalogisiert und in nostalgische Bilderschleifen eingespeist – um jetzt selbst schon wieder hoffnungslos veraltet zu sein. Einzelne Momente zu fixieren und im kollektiven Gedächtnis zu verankern, ist in Zeiten überquellender Timelines und Newsfeeds ein hartes Geschäft.

Umso schöner der Anachronismus, jetzt, im Winter 2014/15, ein Tagebuch des Jahres 2013 in den Händen zu halten. Geschrieben hat es Gregor Sander, Jahrgang 1968, der 2009 in Klagenfurt den 3sat-Preis gewann und vergangenes Jahr den DDR-Roman „Was gewesen wäre“ veröffentlicht hat. Schon die Form rührt an: Hatte nicht Heiner Müller prognostiziert, das Tagebuch als Innerlichkeitsmedium ende „mit der Elektronik“? Und hatte Rainald Goetz ihm nicht mit seiner hyperalerten Jetztzeit-Chronik „Abfall für alle“, die zuerst als Blog erschien, ein monumentales Schlussfeuerwerk bereitet?

Die Gegenthese stellen schon die Auslagen der zu Papeterien veredelten Schreibwarenläden auf: Tage- und Notizbuchformate aller Art, wenn nötig gar mit Schloss, laden zur handschriftlichen Gegenwartsfixierung ein. Und auch Gregor Sander geht sein Tagebuch, das ein Auftragswerk für eine Stiftung ist, mit großem Ernst an: Jede KW ein Eintrag, im akkuraten Abgleich zwischen dem aus Tageszeitungen – noch so ein sympathischer Anachronismus! – destillierten Weltgeschehen und dem eigenen Schriftsteller- und Familienvaterleben. Welthaltiger, um die notorische Kardinalforderung an deutschsprachige Literatur noch mal zu zitieren, kann ein Buch überhaupt gar nicht sein.

Doch so ein Tagebuch hat seine Tücken. Unterschwellig verlangt es dem Diaristen permanent Bedeutung ab – die Bedeutung des Alltäglichen und Profanen. Und es hat, zumindest wenn es mehr sein will als das Notat von Befindlichkeiten, ein etwas paradoxes Verhältnis zu Gegenwart: um die Gegenwart lesbar zu machen, muss sie in Bezug gesetzt werden zu etwas, das nicht Gegenwart ist. Das Einführen von Diskontinuitäten, so ein Gedanke von Boris Groys, bedeutet Zeitgenossenschaft.

Dem „Tagebuch eines Jahres“ merkt man nun an, dass sein Autor mit der Form nicht recht warm geworden ist. Der globale Krisenjahrmarkt 2013 macht es dem um Gegenwartsbeobachtung bemühten Schriftsteller aber auch nicht leicht: Rebellen in Mali, Syrienkonflikt, Fukushima, Snowden und die NSA, Finanzkrise, Nordkorea, Proteste in Ägypten und der Ukraine, Flüchtlingsdramen auf Lampedusa – Sander schreibt eine Meldung nach der anderen eifrig ab, muss aber vor einer eigenen Einordnung kapitulieren. „Es ist zum Verrücktwerden“ steht dann da, oder: „Was soll man sagen?“, oder: „So richtig wird niemand schlau aus dem jungen Diktator Kim Jong Un.“

Überschaubarer, weil idyllisch bis zur Narkose, ist da die bundesdeutsche Wirklichkeit 2013: Aufregung um Brüderle und Hoeneß, ein deutsches Champions-League-Finale, schläfriger Bundestagswahlkampf, an Ostern war’s kalt und im Sommerurlaub in Vorpommern schien die Sonne. Für Sander Raum genug, ein eher braves Plädoyer für bedingungsloses Grundeinkommen abzugeben, Nina Kunzendorf für ihren Rückzug aus dem „Tatort“ Respekt zu zollen und die Wahl einer gewissen Margret Suckale zur Präsidentin des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie zur Kenntnis zu nehmen.

Auch wenn es um die Einblicke in das eigene Schreiben geht, übt Sander sich beharrlich in Understatement. Schreiben, das erscheint im arbeitsteiligen Alltag der jungen Familie vor allem als eine Frage der Logistik: es müssen die produktiven Einsamkeitsstunden hergestellt werden bei Stipendienaufenthalten im Ausland, zwischen Lesungen, Creative-Writing-Kursen und Zoobesuchen mit den Kindern. Und es muss der Blick wach gehalten werden für die Kunst der anderen, für das, was im Theater passiert, im Film, in der bildenden Kunst, der Architektur.

Doch ist Sander spürbar bemüht, die Black Box des eigenen Schreibens nicht allzu weit zu öffnen. Er trifft sich mit Künstlerkollegen, reflektiert über die Notwendigkeit der Recherche, die Langeweile als Voraussetzung von Kreativität, über die entspannende Kraft des Kochens. Das wirft Sätze ab wie „Illusion gehört zur Kunst dazu“ – allerdings nicht viel mehr. Welche Themen Sander bewegen, woran sich etwa sein Roman „Was gewesen wäre“ entzündet, wenn es nicht allein die eigene DDR-Biographie ist, das bleibt alles mehr als vage. Ganz zu schweigen davon, in welchem Verhältnis sein Schreiben steht zur Kunst der anderen.

Was bleibt dann vom „Tagebuch eines Jahres“? Ein Text, der sich ganz in der Immanenz der Ereignisse verliert – und das ist nun mal leidlich interessant. 2013 liest sich dann wie 2012 oder 2014 mit leicht variierten Rollen. Außerdem eine verpasste Chance: 52 Wochen lang begleiten wir Gregor Sander durch das Jahr, doch als Autor bleibt er – bis auf ein paar Passagen, in denen seine Erzählkraft kurz aufleuchtet – ein Unbekannter. Was hingegen bleibt, sind konturlose Sätze wie dieser: „Für mich war das ein sehr schönes Jahr, für die Welt wohl ein durchschnittliches. Es kam immer sehr darauf an, wo man lebt.“ Und das ist wirklich zum Verrücktwerden.

Titelbild

Gregor Sander: Tagebuch eines Jahres.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
192 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835315587

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