Gewichtig in jeder Hinsicht

Über Marcel Beyers Gedichtsammlung „Graphit“

Von Gabriele WixRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Wix

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marcel Beyers neues Buch ist graphitgrau, leinengebunden, mit grauem Vorsatz, die Titelei in den Umschlag geprägt: Schwarz, Weiß, Grau – mehr braucht es nicht. Eine wohltuende Konzentration vermittelt sich mit der ersten Berührung. Gegliedert in neun Zyklen sind auf 208 Seiten Gedichte aus einem langen Zeitraum, von 2001 bis 2014, zu einem gewichtigen Lyrikband versammelt, gewichtig in jeglicher Hinsicht, wie sich in der Fülle der Rezensionen abzeichnet und nicht zuletzt in der Vergabe des Bremer Literaturpreises nur wenige Wochen nach Erscheinen des Bandes. Wer sich auf zeitgenössische Lyrik einlassen will, muss sich „Graphit“ stellen, und das ist kein leichtes Unterfangen, so viel steht fest.

Der Titel spielt mit der Etymologie des griechischen Wortes „graphein“, für schreiben oder zeichnen, und legt die Vermutung nahe, es könne sich um das Schreibgerät des Dichters handeln, eine zweite Geschichte des Bleistifts sozusagen. Aber weit gefehlt. Wenn er handschriftliche Notizen anfertigt, schreibt Beyer in der Regel mit einem Lamy-Kugelschreiber, Mine F. Deren Härte federt er mit der Wahl des Schriftträgers ab, dem rauen Papier kleiner Skizzenbücher, die er hochkant wie einen Kellnerblock in raschem Duktus beschreibt und in die er unlängst mit der Veröffentlichung seiner Göttinger Poetik-Vorlesungen Einblick gab.

Das Mineral Graphit – anfänglich mit Bleiglanz verwechselt, ein Irrtum, aus dem bis heute die Bezeichnung „Bleistift“ resultiert – wird nicht nur als Schreib- oder Zeichenmine verarbeitet. In Kunst oder Industrie wird Graphit auch in Pulverform benutzt. Die Spur, die es als solches hinterlässt, ist weitaus flüchtiger als der Bleistiftstrich. Und solch flüchtigen, schwer fassbaren Spuren bis in die unmittelbare Zeitgeschichte hinein, seien es Texte, seien es Bilder, spürt der Dichter in seinem neuen Band nach. Beyer, selbst mit zahlreichen, hoch renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet, beginnt mit einer Hommage an den so früh verstorbenen Kollegen und Freund Thomas Kling, eine Geste der Bescheidenheit, aber auch eine Standortvermessung, denn in der Position, die ein Lyriker einzunehmen hat, sind sie sich einig: Keine Mimesis, keine Innerlichkeit, vielmehr Sprache, Sprache, Sprache:  

[…] Ein Mann mit Strickmütze
und Daunenjacke, ein Mann
mit Zungenschlag, eine
Flachlandgestalt, ein Mann


aus Neuss. Draußen ganzjährig
Runkelrübenäckerweiten.
Ein Broich. Ein Busch. Ein
Rath. Da und dort ein Paar


Pappelzeilen. […]

Bleiben wir bei diesen wenigen Versen aus der zweiten bis vierten Strophe des Eingangsgedichts, gruppiert in der wohl schlichtesten Form, die in der deutschsprachigen Lyrik zu finden ist, der Volksliedstrophe. Es gibt weder Metrum noch Reim. Wir nehmen eine Aneinanderreihung von Beobachtungen wahr, elliptische Prosa-Sätze, zerschnitten von der Versgrenze, selbst über die Strophen hinweg, ein Spiel mit dem Enjambement, eine Poetik des Sprungs. Das verführt zu einem großen Tempo, würde der Leser nicht immer wieder ausgebremst. Wenn er meint, „ein Paar“ als das Künstlerpaar Kling/Langanky entziffert zu haben, liest er, den Satz über die Strophe hinweg beendend: „Da und dort ein Paar / Pappelzeilen.“ Amüsiert oder auch irritiert ob des Spiels, das der Dichter mit ihm treibt, sieht er sich unversehens zwischen verschiedene Lesarten gestellt und schwankt, wird aber letztlich beide als mögliche anerkennen müssen.

„Schneekatze“, „Schneimeister“, „Räumschild“, „Fräse“ sind fachsprachliche Begriffe, die Beyer über ihren Klang in lyrische Sprache verwandelt. Nachschlagen, was man nicht kennt? Warum? Viel wichtiger sei, so Beyer, die Freude an fremden, gut klingenden Wörtern: „Ich stoße auf Wörter und bin von deren Gestalt fasziniert.“ Und auch wenn man in dem Eingangszyklus die Skihalle in unmittelbarer Nachbarschaft der Raketenstation Hombroich zu identifizieren vermag – darum geht es nicht. Die Beschreibungen verwandeln sich unter der Hand in Metaphern für die Arbeit des Dichters Kling, den „Schneimeister“, der „in / Neuss am Rhein / Maschinenschnee zu / Schneekunst macht“. Den Dichter, der gesagt hat: „schrift ist durch einen schneesturm waten.“ Ein Schnitt zum „Schnittmeister“ des Films, Sergej Eisenstein, ein Hin und Her zwischen niederrheinischem Flachland und (Film-)Winterschlachten: „Einmal quer durchs / Jahrhundert führt, am Pistenrand / hier, eine Schattenspur: Graphit.“ Erst jetzt, am Schluss des ersten Zyklus, fällt das Schlüsselwort „Graphit“, das diesem Kapitel und dem gesamten Lyrikband den Namen gab, dem Buch über die ‚Schattenspuren‘ der Welt. Und es fällt noch einmal in dem Kapitel, das den Band beendet, einer sechsteiligen Gedichtfolge in Referenz auf Robert Musil mit dem Titel „Die Maus“. Der Schlüsselsatz gilt dem Fell des Tieres: „Wohl erst nach Sonnenuntergang / wechselt es seine Farbe, / wird Zigarettenasche, dann / Graphit.“

Beyers Gedichte verweigern sich dem schnellen Genuss, das dürfte deutlich geworden sein. Sie sind intellektuell, scharf und virtuos in ihrem Umgang mit Sprache. Die Lektüre bedeutet Arbeit, Arbeit am Text, Arbeit am Kontext, aber nicht allein für Dichterkollegen und Spezialisten. Sie ist spannend für alle, die sich dafür interessieren, wie Sprache Wissen überliefert und wie hoch der material-sinnliche Anteil in dem Tradierungsprozess ist, in den Beyer sich einschreibt. Marcel Beyer ist ein Jäger. Seine Beute jagt er in den Sprachräumen. Er beobachtet lange und sehr genau, schaut auf das, worüber andere gerne hinwegsehen, und wenn er den Bogen spannt, trifft er.

Titelbild

Marcel Beyer: Graphit. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
208 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424407

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