Paradigmenwechsel der Sprichwortforschung

Zu Agata Mazureks Untersuchung und Edition der Proverbia Fridanci

Von Simon FalchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Falch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Agata Mazurek verfolgt in ihrer 2009 in Bochum angenommenen Dissertation das Ziel, die volkssprachigen Sprichwörter der sogenannten Freidankpredigten (Proverbia Fridanci) in ihrem Überlieferungskontext zu edieren und zu analysieren. Die Forschung wusste bisher – außer als Quelle volkssprachiger Sprichwörter – wenig mit diesen spätmittelalterlichen lateinischen Prothematasammlungen anzufangen. Mazurek wählt einen überzeugenden Zugang und zeigt kodikologisch und historisch fundiert den institutions- und bildungsgeschichtlichen Kontext dieser Texte auf. Die Untersuchung ist dabei der methodisch neu ausgerichteten parömiologischen Forschung verpflichtet. Die Sprichwortprothemata nehmen unter den lateinischen Predigthilfsmitteln, insofern nur hier deutsche Mikrotexte eingebaut wurden, eine Sonderstellung ein. Ein Vergleich mit anderen preaching tools, wie den Musterpredigtsammlungen Jacobus’ de Voragine oder Johannes Herolts, wird daher aus parömiologischer Perspektive nicht provoziert. Möglicherweise wurde aus diesem Grund auf eine umfassende Behandlung des Phänomens Prothema verzichtet. Unterschiedliche Funktionen und Aufbaumöglichkeiten des Predigtexordiums über die mittelalterliche Predigtlehren (artes praedicandi) informieren, werden nicht diskutiert. Eine systematische Untersuchung des Prothemas, das schließlich einen wesentlichen Bestandteil der Predigten neuen Typs (modus modernus) darstellt, bleibt ein Desiderat.

Hauptziel des Untersuchungsteils ist es, dem „scheinbaren Widerspruch“ des Einsatzes des volkssprachigen Sprichworts im elaborierten lateinischen Prothema „auf die Spur zu kommen“. Anstatt die Sprichwörter als vermeintliche Quellen für die Volkskultur zu behandeln, sei das Prothemasprichwort in seiner wissensorganisierenden und rhetorisch-mnemotechnischen Funktion im Kontext des Bildungsmilieus zu betrachten. Dementsprechend werden neben der handschriftlichen Überlieferung auch die Überlieferungs- und Textgeschichte, die institutionellen Kontexte der Entstehung und die Verwendung der Handschriften rekonstruiert. Im Ergebnis stellt Mazurek fest, dass, ausgehend von der dominikanischen Provenienz der Texte, die Sprichwortprothemata sowohl Material für die Predigerausbildung (beispielsweise im Breslauer Dominikanerkloster, im Glogauer Kollegiatstift, im Augustiner-Chorherrenstift Sagan oder auch im Bamberger Karmeliterkloster) als auch Vorlagen für gelehrte lateinische Sermones boten. Wie anhand von Beispielanalysen erläutert wird, sind acht Prinzipien des Sprichwortgebrauchs zu unterscheiden: Typ I bis III zeichnen sich durch wörtliche oder zumindest inhaltlich eindeutige Übereinstimmung mit der Perikope des Predigtanlasses aus. Die Typen IV bis VIII weisen hingegen eher einen lockeren Bezug zur Perikope (in kommentierender oder ergänzender Funktion) oder nur mehr eine allgemeine Verbindung zum Anlass auf. Auszugehen sei von einem gezielten Einsatz des volkssprachigen Sprichworts, beispielsweise um die Memorierbarkeit zentraler Inhalte des Predigtanlasses oder auch die Aufmerksamkeit der Rezipienten zu erhöhen.

Reichlich eng wirkt, in Anbetracht des von Mazurek erläuterten wissensgeschichtlichen Kontextes, dennoch die eigentliche Leitfrage der Untersuchung: „Es soll […] unter Berücksichtigung möglichst vieler Kriterien geprüft werden, in welchem Milieu die Predigtprothemata mit deutschen Sprichwörtern entstanden sind und in welchen Kreisen sich ihre Rezeption vollzogen hat.“ Im Ergebnis kann Mazurek feststellen, dass die Überlieferung der Prothemata, „die als Material zur Predigtvorbereitung gedient“ haben, in theologischen Sammelhandschriften in den Kontext zeitgenössischer Ausbildungspraxis an Universitäten bzw. universitätsähnlichen Klosterseminaren zu stellen ist. Schließlich sind die Prothemata gemeinsam mit anderer praedicatio-Literatur tradiert, wie dem Rationale divinorum officiorum von Guilelmus Durantis, den Gesta Romanorum oder auch den Sermones von Jacobus de Voragine und Henricus de Hassia, um nur einige aus der Auflistung Mazureks zu nennen. Folglich könne im Gegensatz zur vorherrschenden Einschätzung der Funktion der Prothemata keineswegs angenommen werden, dass sich diese Texte an Laien wenden. Doch warum kann nicht von einer Multifunktionalität der Prothematasammlungen ausgegangen werden? Die Beharrlichkeit, mit der sich Mazurek darum bemüht, die ältere Perspektive der Forschung auf die Sprichwortprothemata zu verabschieden, wirkt reichlich übertrieben. Freilich wenden sich lateinische Prothematasammlungen in theologischen Sammelhandschriften an den (lateinkundigen) Klerus, doch warum sollte dies einen an die Bedürfnisse der Laienbelehrung angepassten Einsatz ausschließen? Ein Vergleich der Prothemata mit lateinischen Musterpredigten hätte schließlich zeigen können, dass beide Textsorten preaching tools sind. Charakteristischerweise sind diese materialen Zurüstungen für thematische Predigten mit Wissen überfrachtet, und typische Kennzeichen volkssprachiger Predigten wie Hörerapostrophen und Zusammenfassungen fehlen. Diese Texte stellen keine konkreten Predigtvorlagen dar, sondern lediglich Wissensspeicher für welchen Predigttyp in welcher Vortragssprache auch immer. Schließlich greift Mazurek den ‚Mythos‘ von der reformatorischen Predigt auf, also dass die Homiletik erst wieder im Zuge der Reformation restituiert worden sei, um abschließend die Unwahrscheinlichkeit der Verwendung der Sprichwortprothemata für volkssprachige Predigten noch einmal zu untermauern. Freilich fehlt „aus dieser Perspektive gesehen […] für das Funktionieren des Kommunikationsmodells, das gebildete Kleriker und ungebildete Laien als Teilnehmer voraussetzt, jede Grundlage.“

Bei der Einzelanalyse der Prothemata bleibt die Untersuchung so hinter den Erkenntnissen der kaum berücksichtigten, für manche Untersuchungsaspekte aber unabdingbaren, Predigtforschung zurück. Daraus mögen auch Missverständnisse resultieren, wie die Bewertung der in den Prothemata anzitierten liturgischen Gesänge als Indiz für einen ausschließlichen Einsatz der Sprichwortprothemata für lateinische Predigten.

Für die Sprichwort- und Predigtforschung stellt die Untersuchung Mazureks, ohne dass die genannten Kritikpunkte und skizzierten offenen Fragen dies relativieren wollen, einen herausragenden Beitrag dar. Das größte Verdienst der Arbeit besteht in der vortrefflichen Edition der Texte, die neben dem obligatorischen Variantenapparat auch Stellennachweise zu den Schrift- und Kirchenväterzitaten sowie Literatur zu den verwendeten Sprichwörtern anbietet. Kompetent und übersichtlich werden auch die Überlieferungskontexte der Handschriften sowie die institutionellen Zusammenhänge referiert und so gemeinsam mit der Edition diverse Grundlagen für weitere Untersuchungen geboten.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Agata Mazurek: Sprichwort im Predigtkontext. Untersuchungen zu lateinischen Prothemata-Sammlungen des 15. Jahrhunderts mit deutschen Sprichwörtern. Mit einer Edition.
Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 142.
De Gruyter, Berlin, Boston 2014.
851 Seiten, 99,00 EUR.
ISBN-13: 9783110322903

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch