Meine Nachbarn, die Oes

Kenzaburo Oes persönliche Familiengeschichte „Licht scheint auf mein Dach“

Von Stefan TuczekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Tuczek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ihr erstgeborenes Kind kommt mit einer Hirnmissbildung zur Welt. Sie müssen sich entscheiden, ob das Kind operiert und so sein ganzes Leben lang behindert bleiben wird, oder ob sie das Kind sterben lassen. Diese Vorstellung ist für alle Eltern ein Grauen. Der japanische Literaturnobelpreisträger Kenzaburō Ōe musste diese Entscheidung fällen: Sein erstgeborener Sohn Hikari kam mit einer Missbildung am Hirn auf die Welt, die Entscheidung, ob er leben oder sterben sollte, lag bei dem jungen Vater, der sich gerade einen Namen als Schriftsteller gemacht hatte. Kenzaburō zögerte und überlegte, stand doch sein Ruf und Anerkennung als Schriftsteller auf dem Spiel. In Japan bedeutet ein behindertes Kind immer noch soziale Ausgrenzung und Missachtung. Der Vater entschied sich dann doch dafür, dass sein Sohn leben sollte und stellte sich somit der Herausforderung, die ein behindertes Kind in der Öffentlichkeit und auch Privat darstellt.

Von diesen und anderen Erlebnissen berichtet Ōe in seinem neuen ins deutsche übersetzten Buch „Licht scheint auf mein Dach. Die Geschichte meiner Familie“. Es ist ein sehr persönliches Buch, das Ōe dem Leser vorlegt: Ausgehend von der schwerwiegenden Entscheidung, die er wegen Hikari treffen musste, erzählt Ōe von seiner Familie, von den alltäglichen Begebenheiten, wie die monatliche Medikamentenbeschaffung für Hikari oder den alltäglichen Weg zu der Behindertenwerkstatt, in welcher Hikari arbeitet. Wie man schon erahnen kann, heißt für Kenzaburō Familie in erster Linie sein geistig behinderter Sohn. Er ist der Mittelpunkt, der den Literaturnobelpreisträger dazu bringt, über die Gesellschaft und sein persönliches Leben und Denken zu reflektieren. Ausgehend von Hikari erinnert sich der Autor an Freunde, Reisen und Werke, die er aufgrund seines Sohnes verfasst hat. Es ist vor allem die Krise um seinen Sohn gewesen, die den Autor zu verschiedenen Romanen wie „Stille Tage“ und „Eine persönliche Erfahrung“ inspiriert hat.

Liest man „Licht scheint auf man Dach“ parallel zu seinen erzählerischen Werken, so erkennt man, dass die literarische Auseinandersetzung mit der Behinderung seines Sohnes auch eine Therapie ist und war. Kenzaburōs Bericht ist demnach auch ein Werkstattbericht, der Leser erfährt, wie der Autor arbeitet, nach welchen Modellen er seine Romane aufbaut und welche Schriftstellerkollegen für sein Werk besonders wichtig sind. Aber auch seine persönliche Poetologie legt der Autor hier nieder, er kommt zu der Schlussfolgerung, dass sein Werk durch Schmerz und dunkle Gefühle geprägt sei, welche durchgehend immer wieder Mittelpunkt seiner Arbeiten sind. Man erfährt auch, dass die Musik, welche Hikari komponiert, ein zentraler Einfluss auf sein schriftstellerisches Werk hat. Denn obwohl Hikari behindert ist, ist er ein anerkannter Komponist geworden. Und wie die Musik das Mysterium des Lebens beschreibt, so versucht es auch Kenzaburō mit der Sprache.

Der Bericht ist aber auch weit mehr: Das Buch erzählt von den persönlichen Niederlagen und Gedanken, die nicht sein sollten. Wenn Kenzaburō darüber schreibt, wie er seinen behinderten Sohn alleine im Kaufhaus, weil dieser trotzig war, zurücklässt oder einfach Wut auf den Sohn empfindet, weil er eben behindert ist, so empfindet man als Leser tiefe Traurigkeit und Melancholie, die den Autor bei der Reflektion dieser Geschehnisse selber überkommen. Kenzaburō Ōe beweist damit eines, dass er ein Mensch ist, der sich nicht selbst verherrlicht. Dies beweist er vor allem darin, dass er diese Erlebnisse nicht mildert oder rechtfertigt, er selber empfindet Scham und Traurigkeit angesichts dieser Ohnmacht, für die es keine Entschuldigung gibt. Es ist die entwaffnende Ehrlichkeit, die den Autor und seinen Bericht so sympathisch machen.

Was ist das Buch nun? Es ist ein zartes Gewebe voller Traurigkeit und Melancholie, ein Text, in dem über Krankheit, Behinderung und Akzeptanz nachgedacht wird. Den Akzeptanz und Toleranz von Krankheit und Behinderung sind immer noch große Themen, egal ob in Japan oder Deutschland. Diese allgemeingültigen Reflexionen behandeln, wie es aktuell in unserer Gesellschaft darum beschaffen ist. Es ist ein Buch, welches eine Brücke zwischen den Kulturen schlägt. Werden hier doch Probleme angesprochen, die überall diskutiert werden.

Titelbild

Kenzaburô Ôe: Licht scheint auf mein Dach. Die Geschichte meiner Familie.
Übersetzt aus dem Japanischen von Nora Bierich.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014.
208 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100552174

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