Eine komische Tragödie

In seinem epischen Romanzyklus „Das Büro“ untersucht der niederländische Autor J. J. Voskuil das unglückliche Bewusstsein eines Angestellten

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was tut einer, der mit Vergnügen sagt: „Ich ziehe mich ins Büro zurück“? Die Antwort ist einfach. Er liest im Romanepos Das Büro. Sieben Bände und rund 5.500 Buchseiten umfasst diese berührende Comédie humaine des niederländischen Autors J. J. Voskuil (1926-2008), die von 1996 bis 2000 im Original erschienen ist. Trotz des epischen Umfangs avancierte Het Bureau zu einem veritablen Bestseller und Kultroman, der Leserinnen und Leser vor Erscheinen eines neuen Bandes vor Buchhandlungen kampieren ließ, um die ersten Exemplare zu ergattern. Nach Band 1, Direktor Beerta (2013), ist nun auf Deutsch der zweite Band, Schmutzige Hände, erschienen.

Solche Aufregung lässt ein packendes, fesselndes Buch erahnen. Weit gefehlt. Distanziert betrachtet ist Das Büro von geradezu ernüchternder Monotonie und Tristesse. Erzählt wird die Geschichte von Maarten Koning, der auf Drängen des damaligen Direktors Beerta 1957 in den  Dienst des volkskundlichen Instituts tritt („weil mir nichts Besseres eingefallen ist“) und diesem über die Pensionierung hinaus die Treue hält. Er arbeitet sich vom Assistenten zum Abteilungsleiter und schließlich zum Direktor hoch – freilich treibt ihn weniger Ehrgeiz als Resignation und Pflichtbewusstsein dazu an. Maarten sieht keinen rechten Sinn in seinem Tun. Er hegt der Arbeit gegenüber eine tiefe Geringschätzung, und mit den Mitarbeitenden tut er sich schwer. Aber er hält aus – heroisch, integer und sehr menschlich. Von diesen 30 Jahren erzählt Schmutzige Hände den Ausschnitt von November 1965 bis 1972.

J. J. Voskuil kannte das Metier aus eigener Erfahrung. Er arbeitete während derselben Zeitspanne im volkskundlichen P. J. Meertens Instituut in Amsterdam. Mit beeindruckender Detailschärfe hat er sich diese Phase seines Lebens und Leidens wieder in Erinnerung gerufen.

In dem Opus magnum dreht sich alles um die Arbeit. Das Büro ist die Welt! In ihm spiegeln sich die großen Themen wie Heimat, Lebenssinn, Freundschaft, Verantwortung und Kommunikation. Letztere ist ein Angelpunkt. Nicht allein der kontaktscheue Maarten, alle ringen im Büro permanent um die angemessene Form ihrer kollegialen Beziehungen. Als Knackpunkt entpuppt sich immer wieder die Frage, wer wem unter welchen Umständen das Du anbietet. Nicht allen fällt solche Vertraulichkeit im täglichen Umgang leicht, zumal sich im Büro ganz unterschiedliche, teils unverträgliche Charaktere tummeln, die unkollegial blaumachen, einander piesacken oder kleinliche Intrigen anzetteln. Van Ieperen drückt sich süffisant vor gemeinsamer Arbeit, Fräulein Dé Haan giftelt, Ad Muller meldet sich wegen undefinierbarem Unwohlsein ab, auch der Hauswart Wigbold fehlt wegen Kopfschmerzen, der alte Direktor Beerta schweigt vielsagend, während sich der neue, Balk, mal jovial, mal garstig gibt. Und der Nörgler Bart äußert zu allem und jedem sein „Na, das sehe ich anders“ – was in diesem Band wenigstens einige Jahre lang aufgewogen wird durch Jan Boerakker, der so herzhaft über dieses „verrückte Büro“ lachen kann.

Alledem hat Maarten Koning nur wenig entgegenzusetzen außer seiner Unsicherheit und Unschlüssigkeit. Er hadert mit der Arbeit, trotz Studium spürt er in sich keinerlei intellektuellen Ehrgeiz. Im Grunde fehlt dieser dem ganzen Institut. Leben kommt erst in die Bude, wenn es beispielsweise einen Unterstand aus Abfallholz zu basteln gilt, weil eine Katze im Garten Junge geworfen hat. Ja, das ist Arbeit! Oder wenn alle im Herbst 1969 Hand anlegen beim Umzug des Instituts in ein neues Zuhause. Maarten ertappt sich sogar beim Gedanken, dass er eigentlich hätte Zügelmann werden sollen. Doch er bleibt in seiner Stellung, weil er angefangen habe, wie er einem Freund erklärt, „mich verantwortlich zu fühlen“ – fürs Büro und für die Instituts-Kommission.

Wie ein Leitmotiv zieht sich das unglückliche Bewusstsein des Helden durch Das Büro. Alle paar Seiten fühlt sich Maarten „unbehaglich“, „schuldbewusst“ oder einfach „unzufrieden mit sich selbst“. Es fällt ihm eingestandenermaßen schwer, mit Menschen zu kommunizieren. Dieser Makel erhält mitunter slapstickhafte Züge, wenn er bei einem Kongress, wo er sich schrecklich unzugehörig fühlt, dennoch mit einer schnippischen Fachkollegin aus Österreich ins Gespräch zu kommen sucht und ihr als Gesprächseröffnung ein „Arbeiten Sie auch über den Dreschflegel“ anbietet.

(Fast) alles Private ist aus diesem Buch getilgt. Selbst der Urlaub ist bloß eine Leerstelle, die mit einem „Sind Sie wieder da?“ gefüllt wird, wenn der Büroalltag von Neuem beginnt. Das tiefsitzende Unbehagen findet seine Fortsetzung zuhause mit Nicolien, die von Anfang an dagegen war, dass Maarten die Stelle im Institut antritt. Mit zunehmendem Gehalt steigt ihr Unmut, weil dadurch die alten Ideale von der Freiheit in Armut verloren gehen. Ihre Unterhaltungen mit Maarten schaukeln sich regelmäßig zu kleinen Katastrophen hoch, als ob sie beide Watzlawicks Axiome über scheiternde Kommunikation beispielhaft nachspielen wollten. Das ist lustig und stets auch ein wenig peinigend, weil man den beiden gerne etwas mehr Mut zum Glück gönnen möchte. Nicolien ist das böse (und dennoch liebenswürdige) Gewissen von Maarten, das ihn treu begleitet und über ihn wacht. Ihre Gespräche halten die Wunde des Unbehagens offen.

Das Büro liest sich höchst witzig und traurig zugleich, als eine Farce auf dunklem Hintergrund. Zum Witz trägt letztlich auch das intellektuelle Umfeld bei. Maartens Kollegen sind eher von kauziger Art, und die Themen, die im Institut bearbeitet werden, entbehren nicht der Komik. In seiner Abteilung wird volkskundliche Feldforschung betrieben zu so aufregenden Stoffen wie Wichtelmännchen, Jahresfeuer, Roggenbrot, Dreschflegel oder Pflüge – wobei sich bei letzteren, wie Professor Güntermann am Kongress in Helsinki treffend bemerkt, die Schwierigkeit ergibt, dass „nicht alle unsere Pflüge dieselbe Funktion haben. Ich meine, wäre es nicht besser, nur die Pflüge auf die Karte einzutragen, die zum Umpflügen des Ackers benutzt werden?“

Die Jagd nach dem Mysterium der Tradition, die Maarten und seine Kollegen in der Sache eher unmotiviert betreiben, schließt das Nichtgelingen mit ein, wie Maarten unumwunden zugibt. Vielleicht, vielleicht aber bahnt sich am Ende von Schmutzige Hände dennoch so etwas wie ein Durchbruch als Repräsentant der niederländischen Volkskunde an. Sein Stockholmer Vortrag über die „Verbreitung des Weihnachtsbaums in den Niederlanden um 1900 und im Jahre 1934“ stößt – notabene im Juli – auf größtes Wohlwollen.

Auch wenn das alles eher harmlos klingt, ist es der Raffinesse von J. J. Voskuil geschuldet, dass der zweite Band Schmutzige Hände und Das Büro insgesamt eine ebenso tiefgründige wie berührende Chronik der Arbeitswelt erzählen. Zwar finden die 68er-Bewegung oder die aufkommende Kraker-Szene darin kaum Erwähnung, dennoch versteht es der Autor, den politischen Zeitgeist diskret in den Gesprächen und im Unausgesprochenen anzutippen. Davon mit betroffen ist natürlich auch die Volkskunde selbst, die in Erinnerung der völkischen Tradition um ihren guten Ruf ringt. Als eines Tages eine Anfrage aus Südafrika eintrifft, die um Zusammenarbeit aus Gründen der „Stammesverwandtschaft“ bittet, stellt sich Maarten mit ungewohnter Vehemenz dagegen – auch zum Ärger von einzelnen Kollegen.

Es ließen sich weitere Aspekte auflisten, die alle zum selben Ergebnis führen: Das Büro ist ein berückender Epochenroman, der die grundlegende Traurigkeit unserer protestantischen Arbeitsethik akribisch beschreibt und mit feiner Ironie karikiert. Trotz der vordergründigen Eintönigkeit entfaltet seine Lektüre das Suchtpotential einer Soap Opera und verbindet sie mit der Kraft einer großen Tragödie. Das Büro ist gleichermaßen ein tief trauriges und erhebend komisches Buch, das wegen seiner Menschlichkeit berührt. Dazu entsprechend hat J. J. Voskuil eine schlichte, ungekünstelte Sprache gefunden, die der Geschichte von Maarten, Nicolien und all den anderen Glaubhaftigkeit verleiht. Die epische Länge mit ihren rituellen Wiederholungen ist dabei Programm, wobei es Voskuil meisterhaft gelingt, dichte Erzählung und Auslassung miteinander ins Gleichgewicht zu bringen. Die Spannung liegt darin, das wir mit Maarten miterleben, wie alles gleich bleibt, obwohl sich alles wandelt.

Wer die klassische Büroarbeit kennt, kann sich mit dem Roman darüber hinwegtrösten, dass auch andere denselben Erfahrungen unterworfen sind. Der Theologe Erik van Halsema hat den Roman einmal als „Trostbuch“ bezeichnet. Wem die Büroarbeit fremd ist, der begibt sich mit diesem Buch auf eine anthropologische Exkursion in die innere Wüste unserer Gesellschaft, um sie besser zu verstehen.

In dieser Form funktioniert Das Büro glücklicherweise auch perfekt auf Deutsch. Es ist das Verdienst des Übersetzers Gerd Busse, dass die doppelbödige Ironie und die sensible Tragik in der Übertragung Widerhall finden und ähnliches Vergnügen bereiten wie im Original. Busse hat sich übrigens vehement dafür eingesetzt, dass Das Büro weiter erscheinen kann, als der Verlag C. H. Beck den Romanzyklus schon nach dem ersten Band sistieren wollte. Der Verbrecher Verlag in Berlin wird nun bis Frühjahr 2017 alle sieben Bände herausbringen. Und alle sollte man auch lesen – bis zu Maartens abschließendem Traum von seiner eigenen Beerdigung.

Ein Wort noch zu J. J. Voskuil, der seinem (Anti-)Helden Pate gestanden hat. Es ist kaum vorstellbar, dass er sich ein Leben lang mit dem Schreiben derart schwer tat wie Maarten Koning. Trotz Ähnlichkeiten sollten Autor und Protagonist daher nicht einfach miteinander gleich gesetzt werden. Zumindest bezüglich Witz und Ironie sind Unterschiede zu erahnen. Während sich Maarten eher trübselig durch den Büroalltag schleppt, verrät dessen Schilderung durch Voskuil unverkennbar ein feines Lächeln. Nach dem Büro-Roman hat Voskuil noch weitere Bücher geschrieben, deren Resonanz ihn dafür entschädigte, dass er 1963 mit seinem Erstling gescheitert war, weswegen er nochmals 25 Jahre im Büro ausharren musste. Misserfolg ist die Mutter des Erfolgs.

Im Nachwort zu Schmutzige Hände bezeichnet der Literaturkritiker Pieter Steinz Das Büro als „Sittengemälde wie Seelenspiegel“ der niederländischen Nachkriegsgesellschaft, und als Pendant der „mythischen Great American Novel“. Darin ist der Roman einzigartig – und auch nicht. Zeitgleich wie Voskuil arbeitete (und arbeitet noch) A.F.Th. van der Heijden an einem Romanzyklus über die zweite Jahrhunderthälfte: Die zahnlose Zeit. Aus der Optik des Protagonisten Albert Egberts erzählt van der Heijden gewissermaßen eine Gegengeschichte zu Voskuil: die Welt der Auswüchse und Ausschreitungen in den liberalen Niederlanden. Beide Werke komplettieren sich gegenseitig.

PS: Das ganze „Büro“ lässt sich auf niederländisch nachhören in einem Hörspiel mit 475 Folgen, unter https://archive.org/details/JJVoskuil-20052006-hetBureau/.

Wer Hinweise auf reale Vorbilder von Voskuils Figuren sucht, findet solche auf http://www.jdfvh.dds.nl/voskuil.html

Titelbild

J. J. Voskuil: Schmutzige Hände. Das Büro 2.
Mit einem Nachwort von Pieter Steinz.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Gerd Busse.
Verbrecher Verlag, Berlin 2014.
687 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783957320070

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