Auf zu neuen Ufern!

Auch der sechste Band der Science Fiction-Erzählungen von James Tiptree Jr. bietet weit mehr als spannende Weltraumabenteuer

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wiederholt und vielerorts – das heißt, vor allem im Internet – wurde in den letzten Jahren das Ende der Bücher und somit der Bibliotheken prophezeit. Bislang aber gehören sie beide noch immer zur Ausstattung einer jeden Bildungseinrichtung. Und das wird sich auch bis in die allerfernste Zukunft hinein nicht ändern. Zumindest in der von James Tiptree Jr. erdachten nicht, wie der soeben erschienene sechste der auf sieben Bände angelegten Ausgabe „sämtlicher Erzählungen“ der unter diesem Pseudonym schreibenden Autorin Alice B. Sheldon zeigt. Er erschien unter dem Titel „Sternengraben“ und enthält drei Erzählungen aus der Zeit, als dieser aufgrund einer Laune der Natur nicht mit Sonnen bestückte Teil der Milchstraße noch so etwas wie eine natürliche Grenze zwischen verschiedenen galaktischen Zivilisationsgruppen war und es gerade vermehrt zu Erstkontakten zwischen den raumfahrenden Wesen diesseits und jenseits des „großen Grabens“ kam.

Die Rahmenhandlung, welche die drei Geschichten miteinander verbindet, führt die Lesenden in eine der zukünftigen Bibliotheken, von denen eben die Rede war. Ihr Personal ist ebenso fremdartig wie ihre BenutzerInnen, von denen sich zwei – offenbar ein junges Liebespaar – für historische „Dokudramen“ interessieren. Ungeachtet der exotischen Aliens werden sich manche Bibliotheksbedienstete unter den Lesenden an ihre Alltagsgeschäfte erinnert fühlen. Suchten sie selbst als Studierende ihre Literatur noch in eigener Person zusammen, so „fragen“ Studierende heute hier wie morgen dort der Bibliotheksaufsicht „einfach Löcher in den Bauch“, statt selbst das anstrengende Geschäft der Recherche auf sich zu nehmen. Der „stellvertretende Leiter“ der „Großen Zentralbibliothek“ der „Universität Deneb“ kommt seiner Bibliothekarspflicht jedenfalls trotz anfänglichen inneren Murrens nach und händigt den beiden drei „Dokudramen“ aus, die er für sie aus den Tiefen der Archive zu Tage gefördert hat.

Das erste von ihnen trägt den Titel „Das einzig Vernünftige“. Es handelt von einem sechzehnjährigen Mädchen und einem jugendlichen Extraterrestrier, die sich näher sind, als es intelligenten Lebewesen gemeinhin möglich ist. Wie so oft bei Tiptree bilden Sex und Tod den Kern der Story. Wer nun aber annehmen sollte, die beiden seien ein Liebespaar, liegt völlig falsch. Die fast bis zum Ende hin ausschließlich aus der Sicht des Mädchens erzählte Story erweist sich nämlich als weit interessanter, „behandelt“ sie doch „einen der außergewöhnlichsten Erstkontakte der Menschheit“. Vor allem aber versteht es Tiptree umwerfend gut, sich in die junge Protagonistin hineinzuversetzen und ihre eine lebendige und glaubwürdige Stimme zu verleihen.

Die zweite Geschichte „Lebt wohl, ihr Lieben“ schlägt einen ganz anderen Ton an, der aber nicht weniger zur Handlung und vor allem zu dem Protagonisten passt, aus dessen Sicht diesmal erzählt wird. Es handelt sich um einen relativ jungen Kriegsveteranen, der sich dem „lukrativen Gewerbe des Bergens und Rettens“ verschrieben hat, dem er mit einem „wackeren, kleinen, schubstarken, multifunktionalen Schlepper“ nachgeht. Auf einer Fahrt am Rande des Sternengrabens muss er nicht nur einen Kampf auf Leben und Tod  mit Weltraumpiraten ausfechten, sondern auch noch einen ganz anderen „unaufhörlichen inneren Kampf“ bestehen. Denn die Story ist – nur scheinbar nebenbei – auch eine Liebesgeschichte.  Dass der ‚Held‘ zwischen zwei Frauen steht, mag zwar langweilig und klischeehaft anmuten, ist aber in diesem Fall weder das eine, noch das andere. Näheres sei nicht verraten. Denn kaum etwas ist zu Recht so verhasst wie Spoiler, die einem unvermutet ins Gesicht springen. Nur soviel sei daher gesagt: Selbstlos ist die Entscheidung, die er schließlich trifft, nicht.

In der dritten Geschichte, „Kollision“, kommt es wiederum zu einem Erstkontakt. Aufgrund von interkulturellen Missverständnissen droht er katastrophal zu enden, wenn nicht gar zu einem Krieg zwischen den beteiligten Zivilisationen zu führen. Genauer gesagt sind es allerdings keine interkulturellen Missverständnisse, sondern solche zwischen verschiedenen intelligenten Spezies, wobei die eine mit der anderen bereits hinlänglich schlechte Erfahrungen gemacht hat. Diesmal wird die Begegnung aus der Sicht von VertreterInnen beider Seiten, derjenigen der Menschen und der der Aliens, erzählt. Vielleicht die schwierigste narrative Aufgabe, der sich Tiptree in dem vorliegenden Band stellt. Doch auch sie wird von ihr mit Bravour gemeistert. Und wie so oft quillt Tiptree geradezu vor originellen, ja bizarren Ideen über. Gerade auch, was die absonderliche Fortpflanzung der Aliens betrifft.

Neben dem Schauplatz, dem Randgebiet des Sternengrabens, haben die drei Storys des Buches noch etwas anderes gemeinsam. In allen Geschichten stehen Beziehungen – nicht die Raumfahrt – im Mittelpunkt. Beziehungen zwischen Menschen, aber natürlich auch Beziehungen zwischen Menschen und Außerirdischen. Denn schließlich handelt es sich ja um Science Fiction.

Zuletzt, das zu erwähnen sei nicht vergessen, ist auch der Bibliothekar mit den BenutzerInnen ausgesöhnt. Die Lesenden auf Terra aber werden von den Storys zweifellos nicht weniger angetan sein als die fremdartigen Studierenden in der fernen Bibliothek auf Deneb.

Titelbild

James Tiptree Jr.: Sternengraben. Sämtliche Erzählungen, Band 6.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Frank Böhmert, Eva Bauche-Eppers, Laura Scheifinger.
Septime Verlag, Wien 2014.
334 Seiten, 22,30 EUR.
ISBN-13: 9783902711298

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch