Erzählen gegen die Spurenverwischung

Claude Lanzmanns Film „Shoah“ zeigt nicht, wie die Judenvernichtung realisiert wurde. Er verlangt, dass man sie sich vorstellt

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Is it possible for anyone in Germany, nowadays, to raise his right hand, for whatever the reason, and not be flooded by the memory of a dream to end all dreams?
Walter Abish: How German is it?

„Es ist schwer zu erkennen, aber das war hier. Ja. Da waren gebrennt Leute“, erzählt Simon Srebnik auf einer Wiese im Wald von Rzuchów, circa vier Kilometer von Chelmno (Kulmhof).Es ist nicht nur schwer, etwas – es ist gar nichts mehr zu erkennen. Srebnik gehörte zu den „Arbeitsjuden“, die von den Deutschen für die Vernichtungsaktionen als „Sonderkommando“ gefangengehalten wurden. In Chelmno wurden von Dezember 1941 bis März 1943 und von Juni bis Juli 1944 schätzungsweise 145.000 Menschen mit drei mobilen Tötungseinheiten, den so genannten Gaswagen, ermordet. Srebnik war in diesem Zeitraum zwischen elf und vierzehn Jahre alt. Claude Lanzmann hat ihn für seinen Film „Shoah“ dazu überredet, gut dreißig Jahre später von Israel nach Chelmno zurückzukehren, die Vernichtungsaktionen zu schildern und auch das wieder zu tun, was damals eine seiner Aufgaben war: auf einem Nachen zu stehen, den jemand das Flüsschen Ner rauf und runter fuhr, und zur Unterhaltung der Deutschen immer wieder ein deutsches Soldatenlied zu singen.

Lanzmann, 1925 geboren, ab 1943 aktiv bei der Résistance, arbeitete zwölf Jahre lang, von 1973 bis 1985, an „Shoah“. Der Film erregte großes Aufsehen, gewann viele große internationale Preise, Lanzmann erhielt viele Auszeichnungen. Und dabei ist „Shoah“ äußerst sperrig. Nicht nur wegen seiner Länge von über neun Stunden, sondern auch wegen seines Inhalts. Denn was sieht man in „Shoah“? Die Vernichtung der Juden ist Thema; aber erfährt man etwas über sie? Ja, aber auch eher nein. „Shoah“, so Lanzmann, „hatte nicht zum Ziel, über Dinge zu informieren, die sich ebenso in Geschichtsbüchern nachschlagen lassen“.

Der Ausdruck „Shoah“ stammt aus der Bibel und bedeutet unter anderem „große Katastrophe“, „Zerstörung“, die dem Volk Israel von außen widerfährt. Er wird bereits seit dem Jahr 1940 zur Bezeichnung der Judenvernichtung verwendet. Im Gegensatz zu anderen Metaphern, wie „Holocaust“ oder „Churban“, mit denen ebenfalls versucht wird, die Einzigartigkeit der Judenvernichtung zu erfassen, fehlt „Shoah“ die religiöse Komponente. „Holocaust“, die englische Übersetzung einer griechischen Bibelstelle, bezeichnet ein religiöses Brandopfer. Dadurch wird die Judenvernichtung in einen funktionalen Sinnkontext gestellt und ist im Grunde auch für Antizionisten akzeptabel, die die Juden verdächtigen, einen beträchtlichen Teil ihres Volkes geopfert zu haben, um die Welt moralisch erpressen zu können, um endlich einen eigenen Staat zu bekommen. Auch das hebräische Wort „Churban“ rückt die Judenvernichtung in den Kontext eines göttlichen Plans von Sünde und Verfolgung. Demgegenüber betont „Shoah“ die Einzigartigkeit und wesentlich stärker den Aspekt von „Verzweiflung und metaphysischem Zweifel“ (James E. Young). Lanzmann war dieser Begriff vertraut, war für ihn aber „ein Signifikant ohne Signifikat, eine kurze Lautfolge, undurchsichtig, ein undurchschaubares Wort.“ Als er vor der Premiere nach der Bedeutung gefragt wurde, konnte er keine Antwort geben. Als ihm vorgeworfen wurde, dass ohne Übersetzung niemand den Titel verstehen würde, antwortete er: „Das ist genau mein Ziel, dass niemand versteht.“

Was sollte man da auch verstehen? Der Post-Holocaust-Theologe Emil L. Fackenheim fragte einmal den Historiker Raul Hilberg, ob dieser nicht nur das Wie der Judenvernichtung beschreiben, sondern auch die Frage nach dem Warum beantworten könne. In „Shoah“ sagt Hilberg den vielzitierten Satz, dass er in seiner ganzen Arbeit „nie mit den großen Fragen begonnen“ habe, weil er fürchtete, „magere Antworten zu bekommen“ und es deswegen vorgezogen habe, sich „der Präzisierung und den Details zuzuwenden, um sie zu einer ,Gestalt‘ zusammenfügen zu können.“ Auf Fackenheims Frage hin seufzte er und antwortete: „They did it because they wanted to do it.“ Und das ist in der Tat alles, was man dazu sagen kann. „Am Ende bleibt nichts als die Verzweiflung über alles und der Zweifel an allem, denn für Hilberg“, so H. G. Adler, „gibt es nur ein Erkennen, vielleicht auch noch ein Begreifen, aber bestimmt kein Verstehen.“

Dass und wie es passiert ist, das kann man beschreiben. Alle Erklärungen, alle Gründe sind bestenfalls banal, weil Tautologien, schlimmstenfalls Rationalisierungen und Entschuldungen. Die übliche Weise, den Holocaust zu behandeln, bestehe darin, so Lanzmann, ihn „auf dem Umweg über Geschichte und Chronologie verständlich zu machen. […] So versucht man Schritt für Schritt, Jahr um Jahr – sozusagen fast harmonisch – zur Vernichtung vorzudringen.“ Die chronologische Erzählung sei „anti-tragisch“: nur eine Abfolge von Vorhers und Nachhers, „und der Tod kommt, wenn er dann eintritt, immer zu seiner Zeit.“

All die Gründe, die man auf diesem Weg dafür findet, dass es zur Judenvernichtung kommen musste, sind allenfalls notwendige Bedingungen der Vernichtung, aber keine hinreichenden. „Zwischen den Bedingungen der Vernichtung und der Vernichtung selbst gibt es eine Lücke, einen Bruch, einen Sprung.“ Diesen Sprung mussten die Täter tun. Jeder einzelne mag sein Handeln mit einem anderen Sinn versehen haben, im Ganzen kam aber heraus, dass die Deutschen die Beseitigung der Juden für wünschenswert hielten. Sie versprachen sich etwas davon, vielleicht jeder etwas anderes, der eine konkreter (materielle Vorteile), der andere abstrakter (Lösung eines geschichtsphilosophischen Konflikts). Durch das, was sie taten, vollzog sich der exterminatorische Antisemitismus.

Man erfährt in „Shoah“ etwas über die Vernichtung, indem man den Schilderungen von Augenzeugen zuhört. Aber eher schnappt man nur etwas auf. Man wird nichts oder nur wenig lernen, deswegen ist es hilfreich, wenn man vorher schon mit Orten, Vorgängen, Zeitdaten und ähnlichem vertraut ist. Es ist auch nicht die Absicht des Films, die Vernichtung zu dokumentieren und didaktisch aufzubereiten. „Shoah“ ist keine systematische Darstellung der Judenvernichtung. Ganz im Gegenteil ist der Zusammenschnitt der Aussagen der Zeitzeugen eher verwirrend, viele unbekannte Menschen erzählen von vielen unterschiedlichen Orten. Weil die Judenvernichtung nicht nachvollzogen werden kann, deswegen schuf Lanzmann nach eigenen Angaben „ein Kunstwerk, um eine andere Art von Logik, eine andere Erzählweise“ zu etablieren. Die Judenvernichtung darf „nicht der Zielpunkt, sondern muss vielmehr der Ausgangspunkt der Erzählung sein“. Deswegen ist man gleich von Anfang des Films an mitten in den Vernichtungsvorgängen. So kann Lanzmann der allgemeinen Tendenz des Mediums Film entgegenarbeiten, Erinnerungen zu integrieren und zu ordnen, Sequenzen zu linearer Kausalität zu verknüpfen und damit – wenn auch wider Willen – eine Erklärung vorzuschlagen. Es irritiert zunächst, dass Lanzmann das Warschauer Getto, entgegen der Chronologie, an den Schluss des Filmes setzte. Man soll vorher schon wissen, wie es ausgeht; er will zeigen, dass die Vernichtung nicht nur dem Getto unausweichlich folgte, sondern „in der Logik des Gettos bereits enthalten war“. Das Getto war bereits Vernichtung, nicht der Warteraum für diese. Damit verweigert er auch eine Erleichterung am Ende, einen kämpferischen Ausblick, mit dem man mit dem Getto-Aufstand leicht hätte enden können.

Lanzmann besuchte die Orte, an denen die Juden vernichtet wurden, teilweise mit Überlebenden. Er suchte die Überlebenden auch zuhause auf und ließ sie erzählen. Er sprach auch mit den Anwohnern von damals: einem Bauern aus Treblinka, der während seiner alltäglichen Feldarbeit verstohlen der Vernichtung zusehen konnte; einem Kfz-Mechaniker aus Kolo, der die Gaswagen in Chelmno reparierte; einem polnischen Hilfsweichensteller vom Bahnhof Sobibor; einem polnischen Lokführer, der zehntausende von Juden zur Vernichtung nach Treblinka fuhr. Sie wohnten teilweise immer noch dort, und Lanzmann ließ sie ihre Beobachtungen und Einschätzungen mitteilen. Er sprach auch mit Tätern: sowohl mit Bürokraten als auch mit SS-Männern, die unmittelbar an der Vernichtung beteiligt waren. Aber sie tauchen erst nach knapp zwei Stunden zum ersten Mal in „Shoah“ auf.

Die Redezeit davor gehört ausschließlich den Überlebenden und den Zuschauern. Lanzmann war dies wichtig: „Die Konstruktion war auch diktiert von Fragen der Moral. Ich hatte nicht das Recht, die Begegnung der Darsteller zu provozieren. Ich konnte unmöglich die Nazis mit den Juden konfrontieren. Das sind keine alten Kombattanten, die sich 40 Jahre danach mit einem kräftigen Händedruck vor der Fernsehkamera wiederbegegnen. Darum taucht der erste Nazi erst nach fast zwei Stunden auf. In diesem Film begegnet keiner dem andern.“ Es dauert noch eine halbe Stunde länger, bis ein Historiker (der einzige) sprechen darf; glücklicherweise ist es Raul Hilberg. Und auch er ist ein Überlebender (auch wenn er rechtzeitig aus Österreich floh, und auch wenn dies in „Shoah“ keine Rolle spielt).

Für die Gespräche erlegte Lanzmann sich selber die Regel auf, „kühl und gefasst zu bleiben“, sogar „gleichmütig“. Dies gelang ihm nicht immer. Sarkastisch bringt er ein Hoch auf Fortschritt und Ausbildung aus, während er mit Polen spricht, die damals in die schönen Häuser deportierter Juden übersiedelten. Versteckt filmte er Franz Suchomel, einen ehemaligen SS-Unterscharführer, der in Treblinka und Sobibor arbeitete, gibt ihm aber das Versprechen, seinen Namen nicht zu nennen. Bei Franz Grassler, der unter Franz Auerwald das Warschauer Getto ‚verwaltete‘, verlor er die Contenance und wurde „ungehalten“.

Ein aus Hilflosigkeit substanzhaftes Denken heftet sich an die Augenzeugen: Die waren also ‚dabei‘. Ihre Netzhaut bildete die Züge ab, ihre Trommelfelle gerieten durch die Schreie in Schwingung. Sie rezipierten, was keiner sah, was zu einem Mysterium wurde, zu einem Sinnbild für das absolut Böse. Sie nahmen wahr, womit man sich als Deutscher (noch mehr als ein in Deutschland geborener Mensch) pflichtschuldig und abwehrend herumschlägt, sich windend und aggressiv austeilend, staatstragend und identitätsbildend oszillierend zwischen feierlichem Trauerbekenntnis und forscher, rücksichtsloser „Unbefangenheit“. Die Vernichtung der Juden machte die Deutschen zum Volk, stellte die volkliche Identität praktisch her, nach der sie strebten. Als Gründungsverbrechen dient sie auch über das „Dritte Reich“ hinaus. Gerne sieht man sich unter Kollektivschuld-Verdacht gestellt, um sich als unschuldiges Opfer zu inszenieren und das Kollektiv negativ zu bewahren. Aber auch das Schuldbekenntnis, so Max Horkheimer schon im Jahr 1962, „war ein famoses Verfahren, das völkische Gemeinschaftsempfinden in die Nachkriegsperiode hinüberzuretten“. Mit dem „Wir“ der Täter-Nachkommen, welche die Vergangenheit nicht verschweigen, sondern ‚aufarbeiten‘, wird „aus Erinnerung an eine gemeinsam begangene Tat“ wieder ein Kollektiv geformt. „Was klingt wie ein Schuldbekenntnis, ist zugleich die Stilisierung des deutschen Volks als Schicksalsgemeinschaft, als ethnische Nation, als tragisches Gedächtniskollektiv“, so auch Hanno Loewy. Das Schuldbekenntnis, das früher als Nestbeschmutzung galt und sich deshalb als oppositionell missverstehen konnte, rettet die Absicht der Väter, das Kollektiv zu bewahren, gegen deren bornierte Sicht. So flüchtet man sich in eine prätentiöse Unbelastetheit, die aus historischer Last sich speist, an deren Ungemach man selber schuld ist, weil man nicht lassen kann und will von der Zugehörigkeit zum immer wieder neu zu stiftenden deutschen Kollektiv; ein Ungemach, für das man deshalb aber lieber andere beschuldigt und es diesen deswegen bereiten will. Als Deutscher dürfte und sollte kein Mensch mehr leben müssen.

„Shoah“ zeigt: hier fand es statt. Es gibt tatsächlich einen Platz auf unserer Erde, wo ein Schild im Boden steckt, auf dem „Treblinka“ geschrieben steht, welches einfach nur die Lage einer Ortschaft markiert und nicht bereits an sich Synonym für Gräueltaten und Menschenvernichtung ist. Und es führen diese Eisenbahngleise dort hin. Nur sieht es in dem Treblinka von „Shoah“ nicht aus wie in einem der Bannkreise der Hölle, sondern so, wie es auf dem Lande halt aussieht. Orte und Ereignisse sind im Lauf der Zeit „einander fremd geworden“ (James E. Young). Aber man weiß: An diesem ‚Bahnhof‘ kamen die langen Züge an. Hier wurden die Waggons umgekoppelt und in kleineren Einheiten ins Vernichtungslager geschoben. Über diese Schienen – es sind ja immer noch dieselben – wurden mehrere 100.000 Menschen in den Tod gefahren. Über diese blühende Wiese muss sich damals der Gestank von Kot, Urin, Blut und Verwesung verbreitet haben. Diese Sommerhitzenstille, in der Lanzmann steht, muss damals dem Lärm von Schreien, Stöhnen und Röcheln gewichen sein. Genauso muss es damals auch ausgesehen haben und nicht so, wie man es sich nicht einmal vorgestellt hat, nicht so verschwommen schwarz-weiß wie im typischen Dokumentarfilmmaterial aus dem Zweiten Weltkrieg.

Lanzmann nimmt sich viel Zeit, die Landschaft und die Umgebung zu zeigen. Deswegen ist „Shoah“ für ihn „ein bodenständiger Film, ein topographischer, ein geographischer Film“. Es ist wichtig für ihn, vor Ort gewesen zu sein. Man kann viel über die Judenvernichtung lesen, aber das reicht nicht. „Man muß wissen und sehen, und man muss sehen und wissen.“ Die Orte der Judenvernichtung werden in „Shoah“ real, ohne dass man eine einzige ausgemergelte Leiche sieht. Zwischen diesen Baumkronen, die sich da sattgrün in Sommerlicht und -wind wiegen, befand sich das Vernichtungslager Sobibor, in dem circa 250.000 Juden ermordet wurden. Hier wurden große Gruben ausgehoben, in die Deutsche die von ihnen Vergasten werfen ließen; hier ließen sie sie verscharren; hier ließen sie sie später wieder ausgraben, halb verfault, um sie verbrennen zu lassen und die Spuren zu verwischen. Da, wo jetzt ein heller Weg ist, den die subjektive Kamera entlangfährt, da lagen früher die Gleise, über die die Waggons ins Vernichtungslager geschoben wurden. Es könnte auch ein ganz normaler Forstwirtschaftsweg sein. Folgt man diesem Weg ins Lager Treblinka, dann kommt man irgendwann an eine Stelle, wo das offizielle Gedenken eine symbolische Markierung gesetzt hat. Hier endet die Arbeit der Vorstellungskraft sofort, die Erinnerungszeichen verunmöglichen das Bemühen um Imagination.

Man bemüht sich, etwas zu erblicken. Dies ist einer der Orte, wo von Deutschen das berühmte Verbrechen an der Menschheit ausgeführt wurde. Von der Tat muss hier doch irgendwo etwas haftengeblieben sein, etwas muss sich niedergeschlagen haben. Kann es tatsächlich spurlos vergehen? Aber die Tat hat sich verflüchtigt. Auch wo der Tatort von den Deutschen nicht beseitigt wurde, wie in Auschwitz, hat man es zwar materiell vor sich, aber nichts sieht dort nach Vernichtung aus. James E. Young beschreibt den Schock, der den Besucher wegen der „unerwarteten, ja unziemlichen Schönheit“ des Auschwitz der Gegenwart erwarten könnte. Auch in „Shoah“ sieht man die Überreste der Gaskammern, aber sie spielen keine übergeordnete Rolle. Lanzmann pflegt nicht die „Rhetorik der Ruinen“, vor der Young warnt. Auschwitz ist für ihn nicht wichtiger als Treblinka, nur weil dort Artefakte geblieben sind. Deren problematischer Charakter besteht darin, nicht nur auf vergangene Ereignisse hinzuweisen, sondern vor allem „sich selbst als Fragmente der Ereignisse“ (Young) anzubieten. Sie werden mit den Ereignissen verwechselt, die sie nur fragmentarisch symbolisieren können, sind dann aber unter Umständen das Bild, das man vom Holocaust hat. Von ihnen lässt man sich gerne die Gedächtnisarbeit abnehmen. Sie allein können noch keine Vorstellung der Geschehnisse produzieren.

„Shoah“ führt vor, wie schwierig es ist, sich das Geschehene vorzustellen. Die unbestimmten Vorstellungen, die man vom Holocaust vielleicht hat, werden mit Bildern aus der Gegenwart konfrontiert. Man weiß zwar, dass diese Orte existieren müssen, aber Realität haben sie im Nachkriegsbewusstsein nur als Namen, als der sie zum Symbol für das Grauen geworden sind. Die Orte der Vernichtung, so zeigt „Shoah“, existieren nicht bloß in der Imagination. Es gibt sie heute noch. Aber die Besichtigung dieser Orte kann an die Stelle verschwommener Vorstellungen dann doch nicht ein reales Bild setzen; ein Bild, das zeigt, wie es dort ‚wirklich‘ aussieht, wie ‚es‘ dort ‚wirklich gewesen‘ ist. „Shoah“ zeigt stattdessen, dass dort nichts ist; nichts, was die eigene Produktion von Bildern ablösen (oder ihr wenigstens unter die Arme greifen) könnte. Man sieht zwar den realen Ort der Vernichtung, aber von ihr ist nichts zu sehen. Ein „bewußter Akt der Erinnerung“ (Young) ist nötig, um Orte und Ereignisse wieder zu verbinden. „Shoah“ nötigt zu diesem Akt und vollzieht eine Doppelbewegung: Zum einen macht der Film die Judenvernichtung konkret, holt sie also näher heran, verbindet zur Chiffre gewordene Namen mit Anschauungsmaterial. Zum anderen rückt er sie auch wieder weg und macht sie abstrakt. Denn genau das, was die Tat gerade eben noch unmittelbar gemacht hat, das entfernt sie sofort wieder. Der visuelle Anhaltspunkt, der sie vorstellbar machte (oder zu machen schien), macht sie auch wieder unvorstellbar. „Shoah“ führt vor, wie die Vernichtung der Juden sich permanent wieder entzieht.

Man sieht weder die Tat noch die Ermordeten. Ausgelöscht haben die Deutschen nicht nur Millionen Juden, sondern auch deren Vernichtung. Deswegen basiert „Shoah“ „ganz und gar auf der Abwesenheit von Spuren“ und muss mit dem Problem umgehen, dass die Deutschen sich an der „Vernichtung von Geschichte“ versuchten. In Auschwitz kann man noch Lager- und Gaskammerreste sehen – an anderen Orten aber nichts mehr. Stattdessen sieht man Gedenkorte, die auf den von den Deutschen eingeebneten Lagern errichtet wurden. In Treblinka sieht man einen symbolischen Friedhof mit Grabsteinen für die ausgelöschten jüdischen Gemeinden. Im so genannten Waldlager bei Chelmno sieht man Geländemarkierungen, um den Platz zu umreißen, wo – in der für die Judenvernichtung typischen Mischung aus innovativer und engagierter Improvisation einerseits und Dauerzustand anderereits – die in den Gaswagen Ermordeten verscharrt oder verbrannt wurden. Improvisiert zwar, aber trotzdem funktionell genug, um 145.000 Menschen auszulöschen. Weder sieht man die „Ikonen der Vernichtung“ (Cornelia Brink), die bekannten schwarz-weiß-Bilder von Leichen- oder Überbleibsel-Bergen, noch die von SS-Männern, auch nicht sensationellerweise bislang unbekannte Bilder. Die Vernichtung wird nur erzählt. Dass die Juden „seit Jahrhunderten verfolgt sind und daher nur im Worte leben“, so der Schriftsteller Fred Wander, der in fünf KZs verschleppt wurde, dies gilt nach dem Versuch, sie auszulöschen, umso mehr, hat aber keinen poetischen Flair mehr. Die Realität der Judenvernichtung ist äußerst fragil, weil sie nur im Wort existiert und weil man sie sich nicht vorzustellen vermag.

Aber wer hat das schon versucht. In Deutschland kaum einer, denn auch wenn man hier vom Nationalsozialismus erwiesenermaßen nichts weiß, so weiß man kontrafaktisch doch ganz sicher, mit dem Thema so übermäßig traktiert worden zu sein, dass man glaubt, sein Ressentiment und seine Resistenz gegen es damit rechtfertigen zu können. Die Täter meinen, sich nicht erinnern zu können. Mühselig muss Lanzmann ihnen mit eigenen Informationen auf die Sprünge helfen, wie Franz Grassler. Aber auch dies ist plausibel. Die NS-Generation erinnert sich gerne daran, was für eine faszinierende Zeit es war, haben Harald Welzer und Kollegen herausgefunden. Und so hat zwar „die Nazi-Zeit“ einen festen Platz im deutschen Alltagsbewusstsein, nicht aber die Shoah. An die Opfer erinnern sie sich nicht, denn die waren und sind ihnen egal – im Gegensatz zu ihnen selbst. Man kann ihre Erzählungen über früher einfach wörtlich nehmen. Frau Michelsohn ging aus „Unternehmungslust“ als junge Frau aus der Nähe von Rostock als „Ansiedlerbetreuerin“ nach Chelmno und hatte dort den Nazilehrer der Volksschule zum Gatten. Als Lanzmann das Lied intoniert, das Srebnik immer wieder singen musste, erinnert sie sich sofort und singt gleich mit. Wenn sie von der Opferzahl nur noch weiß, dass es „irgendwas mit vier“ war (40.000? 400.000?), so hat sie weder damals ‚von nichts gewusst‘, noch hat sie später etwas verdrängt. Schließlich wohnte sie in circa fünfzig Meter Entfernung schräg gegenüber vom Schloss, wohin die Juden aus der Umgebung gebracht wurden, um dort in die Gaswagen gepresst zu werden. Eine „Katastrophe“ dagegen, an die sie sich lebhaft und in vielen Worten erinnert, sind ihr nach wie vor die primitiven sanitären Anlagen auf dem Lande. Auch wenn den Tätern auf höchster Ebene der Entschluss zur „Endlösung“ mitgeteilt wurde, dann mag ihnen zwar ein Schauer über den Rücken gelaufen sein, weil klar war, dass man hier Neuland betrat. Aber die Vernichtung war für sie in Ordnung, auch wenn sie selber nicht Hand anlegen wollten und es unschöne Szenen gab. „Das ist doch eine Zumutung fürs ganze Dorf, dies immer ansehen, dieses Elend“, so Frau Michelsohn, wenn die Juden vor aller Augen durch das Dorf zu den Gaswagen getrieben werden. Auch die Propagandaabteilung in Lemberg (Lwow) in Galizien meldete im Oktober 1942, dass die Bevölkerung „von der Notwendigkeit der Liquidierung aller Juden überzeugt ist“, aber doch wäre es „angebrachter, diese auf eine weniger Aufsehen und Anstoß erregende Art durchzuführen“.

Man zeigte sich erst dann von der Judenvernichtung betroffen, als die militärische Niederlage unabwendbar wurde und man die Rache der Alliierten und des „Weltjudentums“ zu fürchten begann. Deswegen waren einem die Verbrechen nicht mehr egal – nicht wegen der Opfer und „weniger aus moralischen Skrupeln“, so der Historiker Bernhard Dörner. Verdrängt wurde einzig die Angst vor der Niederlage; weil man Rache fürchtete, flüchtete man sich in eine „ostentative Ahnungslosigkeit“ (Peter Longerich). Hier liegen der Grund und der zeitliche Beginn der Abwehr des Themas Judenvernichtung. Nicht die Re-Education und eine engagierte Pädagogik riefen die Abwehr hervor, sondern diese Maßnahmen trafen bloß auf eine bereits verhärtete Geisteshaltung.

Für ihre Taten empfinden die meisten Deutschen weder Scham noch Schuld. Günther Anders wies darauf hin und Harald Welzer wiederholte es: Das Vorhaben der Täter-Kinder, ihre Eltern dazu zu bringen, ihre Vergangenheit zu „bewältigen“, ist Nonsens. Eine Vergangenheit zu bewältigen zu haben, dies setzt voraus, dass einem ein Trauma widerfuhr. Traumatisiert wurden die Opfer – nicht die Täter. Den Tätern ein – wenn auch uneingestandenes – Bedürfnis nach Bewältigung unterzuschieben, nähert die Täter den Opfern tendenziell an. Der Widerstand gegen eine Bewältigung war kein Widerstand gegen eine Aufarbeitung im psychoanalytischen Sinne, die man vermeidet, um an eine sorgsam und mühselig verdeckte Wunde nicht zu rühren. Der Widerstand richtet sich dagegen, dass man ihnen diese Zeit schlecht machen will – und dann noch mit etwas, das doch wirklich keinen interessiert. Nicht nur mit Geschichtsschreibung, kulturpessimistischer Sozialphilosophie und Marxismus, auch mit der Psychoanalyse machte man sich an die Entschuldung der Deutschen.

Das sich als kritisch missverstehende Vorhaben „Vergangenheitsbewältigung“ der Täter-Kinder war ein Angebot an die Täter, sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren, indem sie sich nachträglich zu dessen Objekt machen ließen. Genau dies wollten die Täter aber nicht. Sie wären nur um den Preis der Entmündigung aus der Schuld gelöst worden, nur um den Preis, sich von einem Teil der eigenen Biografie zu distanzieren, von dem man sich nicht trennen mag, weil man beste Erinnerungen an ihn hat.

Den Nationalsozialismus, so musste unter anderem Saul Padover im besetzten Nachkriegsdeutschland erfahren, kritisierte man nur dafür, dass er nicht gehalten hat, was er den Deutschen versprochen hatte. Die Niederlage legte keine Schuldgefühle frei, sondern verstärkte nur die Ressentiments gegen die Sieger, zu denen man nicht nur die Alliierten, sondern auch die Juden zählte. Man schmollte und grollte, weil man damals schon so marxistisch und so postmodern war, dass man wusste, dass Wahrheit abhängig vom Sprecherort, von Macht und Diskurs ist, und dies nicht als kritische Einsicht meinte: Hätten sie den Krieg gewonnen, dann hätten sie die Geschichte geschrieben und die Moral diktiert, polterte Hermann Göring in alliierter Nürnberger Gefangenschaft. Dass sie stattdessen nun eine Schuld annehmen sollten, die sie gar nicht empfanden, das nahmen sie unter Umständen dem einen oder anderen ranghohen Nazi übel (je nach persönlichen Vorlieben und Abneigungen), dafür hassten sie aber vor allem die Alliierten und die Juden.

Die Überlebenden und ihre Nachkommen werden die Deutschen nicht los, in der Gegenwart nicht und schon gar nicht in ihren Erinnerungen. Erinnern sie sich, oder werden sie nicht vielmehr von ihren Erinnerungen beherrscht? „Als ich Srebnik“, so Lanzmann, „das erste Mal traf, war der Bericht, den er mir gab, so ungewöhnlich wirr, dass ich nichts verstanden habe. Er hatte so viel Grauenhaftes erlebt, das er völlig am Ende war.“ Wer nach dem Krieg seine Erlebnisse professionell weitergab, wie Richard Glazar, Rudolf Vrba oder Jan Karski, der kann darüber anders sprechen als beispielsweise Srebnik, Michael Podchlebnik oder Abraham Bomba. In ihnen steigen in „Shoah“ Bilder auf, die auf ihre Seele noch immer fast genauso brutal wirken wie die Gewalt damals, die zu vergessen oder nachzuzeichnen sie sich seitdem bemühten. So sieht man in ihrer Mimik, ihren Blicken und Gesten auch ein Zeugnis, das nicht erzählt wird und das nur das Medium Film einfangen kann. Vielleicht ist es dies, worum es Lanzmann ging. „Erinnerungen schrecken mich ab“, sagte er, „sie sind schwach“. Er will Geschichte in der Gegenwart wieder leben lassen, die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufheben. Lanzmanns „Shoah“ ist kein zwergenhafter Vorgänger von Steven Spielbergs „Shoah Foundation“, in deren „Visual History Archive“ Zeitzeugen auf schätzungsweise 120.000 Stunden Bildmaterial ihre Geschichte erzählen.

Überlebende erzählen nicht einfach nur ihre Geschichte, und das, was sie erzählen, auch nicht als ihre Geschichte. Sie sind sich eines kollektiven Schicksals bewusst und sprechen deswegen häufig in der Wir-Form. Ihre Geschichte ist Teil eines Ganzen, weswegen sie für die anonymen Toten mitsprechen. Lanzmann bezeichnete seine Zeugen als „Sprecher der Toten“. Nicht nur für die Toten sprechen sie, sondern selber als (Fast-)Tote. Und so wurde sogar der ebenso trockene wie düstere Raul Hilberg zum Schauspieler, als er die letzten Eintragungen aus dem von ihm herausgegebenen Tagebuch von Adam Czerniakow vorlas, dem Vorsitzenden des Judenrats im Warschauer Getto, der sich am 23. Juli 1942 das Leben nahm, weil er jüdische Waisenkinder für die Deportationen in die Vernichtungslager bereitstellen sollte. Später erinnerte Lanzmann sich, wie Hilberg zum „actor“, zu Czerniakow, wurde. Auch wenn Hilberg rechtzeitig fliehen konnte, so trifft auch auf ihn zu, dass es in „Shoah“ „keinen einzigen Überlebenden [gibt], es gibt allenfalls Wiedergänger, die fast schon im Jenseits über dem Boden des Krematoriums schwebten und zurückgekommen sind“. Auch sein Tod war schon beschlossen. Viele Überlebende haben das Gefühl, im Lager gestorben zu sein. Dies macht ihre Berichte auch in ihren Augen vergeblich. Ihre Berichte dementieren sich selbst: sie beschreiben einen Tod, den sie überlebt haben. Schlimmer noch: Es scheint, da sie Zeugnis ablegen können, nochmal alles gut gegangen zu sein.

Ein Film eines berichtenden Augenzeugen dokumentiert nicht einfach Erfahrungen oder Fakten an sich, sondern Zeugen, während sie Zeugnis ablegen; das Zeugnis wird in diesen Momenten erst verfertigt. Lanzmann vermied die Scheinobjektivität von „sprechenden Köpfen“, indem er das Filmen mitfilmte, indem er selber als aktiver Mitgestalter der Erinnerung auftauchte und dem mitunter langwierigen Hin-und-Her-Übersetzen Zeit gab. So wird durchsichtig, dass „Shoah“ konstruiert ist. Lanzmann zeichnete nicht einfach nur Erinnerungen auf, bildete nicht einfach erzählende Menschen ab. Er inszenierte seine Zeugen, und dadurch wurden sie zu Darstellern. Simon Srebnik ist wieder in Chelmno und steht wieder singend auf dem Kahn auf dem Ner. Motke Zaidl und Itzhak Dugin leben in Israel, aber Lanzmann bringt sie dort in eine wüste Gegend, wo anscheinend vor kurzem brandgerodet wurde und die sie mit der Atmosphäre der Gegend vergleichen, in der sie 1944 die Massengräber von Ponar wieder ausheben mussten, um die inzwischen halb verwesten Leichen zu verbrennen. Henrik Gawkowski, der polnische Eisenbahner, fährt wieder einen Zug auf der Strecke nach Treblinka. Abraham Bomba war als Arbeitsjude in Treblinka einer der Friseure, die den Juden vor der Gaskammer die Haare schneiden mussten. Lanzmann mietete in Israel einen Friseursalon, um ihn beim Gespräch wieder Haare schneiden zu lassen. Es ist eine der fürchterlichsten Szenen. Nicht nur weil Bomba zusammenbricht und Lanzmann nicht locker lässt, sondern weil man versucht, ist mitzuweinen und sich so den schaurig-wohlen Ausweg des Mitleidens zu eröffnen.

„Shoah“ wurde nicht gedreht, um den Zuschauern die Gelegenheit zu bieten, „sich geläutert zu fühlen durch die Tränen, die sie im Gedanken an ihre ewigen Opfer vergießen“. Niemand kann hier mit-leiden. Dieser Illusion gibt sich vor allem gerne hin, wer unbedingt Deutscher sein und die Probleme, die er sich und anderen damit aufbürdet, dadurch verschwinden machen will, indem er – in dem Glauben, hinter dem Vorhang der Tränen würden alle gleich – sich imaginär zu den Opfern stiehlt, die sich unter ihren Erinnerungen winden. Lanzmann inszenierte nicht, um solche nolens volens ergreifenden Effekte zu erzielen. Es geht auch nicht darum, zu dokumentieren, wie sehr Juden leiden mussten. Er verwendete viel Mühe darauf, „die Aussage in Szene zu setzen, [um] die Sprecher überhaupt in die Lage zu versetzen zu sprechen“: Lanzmann ist überzeugt, dass Bomba „ohne die Inszenierung in einem Friseurladen weder sprechen, noch [hätte] weinen können.“

Wie jeder normale Schauspieler mussten auch die Augenzeugen „nicht nur in eine bestimmte seelische, sondern auch in eine bestimmte physische Verfassung versetzt werden“. Es kommt Lanzmann nicht darauf an, dass Bomba weint, sondern auf das, was dem Weinen vorangeht. Nicht das Weinen ist der Augenblick der Wahrheit, sondern der Moment, in dem Bomba, durch Lanzmanns Nachfragen und Anregungen angeleitet, wieder in seine alte Betätigung als Friseur zurückfindet. Nicht die Realität der Tränen in der Gegenwart, auch nicht die nacherzählte Realität des Vergangenen sind das, was Lanzmann erreichen möchte, sondern das rückverwandelnde Schauspielern. „Es reicht nicht aus, [die Vergangenheit] nur zu erzählen. Sie mußten sie spielen, das heißt irreal machen. Dieser Akt des Irrealisierens definiert das Imaginäre.“ Dem Zuschauer soll also nicht vorgeführt werden, wie es wirklich war, sondern er muss es sich vorstellen.

Lanzmann verwendete in „Shoah“ kein historisches Filmmaterial. Bilder der Tat gibt es ohnehin fast keine. Aber weder originale noch nachgestellte Bilder sind für Lanzmann akzeptabel. Sie sind „Bilder ohne Imagination. Das sind einfach Bilder, das hat keine Kraft.“ Jede literarische wie bildliche Darstellung einzelner Begebenheiten der Shoah ist zu schwach, zu harmlos. Die Grausamkeiten sind so schlimm, dass jede bekannte Sprache nicht mehr angemessen scheint, sie wiederzugeben. Wie sollen sie den „Abgrund zwischen der Welt und uns“, so die Auschwitz-Überlebende Charlotte Delbo, überbrücken? Auch Bilder von abgemagerten Menschen in Lumpen in Lagern sind nur eine Abbreviatur, ein Sinnbild. Es fehlen die Dimensionen seelischer und physischer Zustände, die man nicht sehen kann: von permanentem Terror und der damit verbundenen permanenten Angst, von nie aufhörendem Hunger und Durst; es fehlen Gestank und Geräusche und die akkumulierte Geschichte permanenter Erniedrigung. Menschen zu sehen, die geschlagen werden, verweist immer noch auf Menschen, die geschlagen werden. Menschen im KZ aber waren keine Menschen mehr. „Entmenschlichung“ darf man nicht als anderes, großes Wort für „gequält“ oder „erniedrigt“ ansehen, sondern man muss es wörtlich nehmen: was einen Menschen überhaupt erst zum Menschen macht, das wurde den Opfern genommen. Dies reicht von grundlegenden kulturellen Verrichtungen wie Reinlichkeit gegenüber Exkrementen bis hin zu der ethischen Erfahrung, nicht mehr als Mensch handeln zu können, weil man nicht eingreifen kann und darf, wenn der Nächste gequält wird oder wenn man ihn seinem Tod überlassen muss, wenn man sich selber retten will. Hier wurde der Mensch, so der polnische Dichter Jan Platek in einem Gedicht, „für den Menschen zu etwas […], / Was noch keine Sprache der Welt / definiert hat.“ Der Überlebende musste sich nach der Befreiung durch viele kleine Handlungen zurückentwickeln, hält Delbo fest, „muß alles zurückerobern, was er vorher besessen hatte“.

Historisches Bildmaterial zum Nationalsozialismus ist fast immer unbrauchbar, denn es sind Bilder, die von Tätern gemacht wurden. Indem man dieses Material für die Geschichtsschreibung verwendet, übernimmt man automatisch und unbemerkt den Blick der Täter auf ihre Opfer. Es gibt keine Objektivität der fotografischen Abbildung: die Art und Weise, wie Deutsche Juden sahen, ist in den Aufnahmen materialisiert; die Beziehung von Täter und Opfer kommt in diesen Bildern zur Erscheinung. Dazu kommt, dass die meisten Bilder aus der NS-Propaganda stammen. Es bedarf gar nicht erst der Ikonen-Malerei von „Spiegel“-Titelbildern mit Hitler-Antlitz. Die Deutschen sitzen dem Trug auf, sie sähen im Fernsehen etwas über das „Dritte Reich“. Sie sehen aber nur das „Dritte Reich“, ein Stück von ihm, von der von ihm produzierten Realität. Nicht zuletzt deswegen beschäftigen sich die Deutschen so gerne mit ihrer Vergangenheit: indem sie dies tun, können sie immer wieder ihren Traum vom „Dritten Reich“ leben, an seiner Inszenierung teilnehmen.

An der nationalsozialistischen Bewegung faszinierte damals nicht zuletzt die Todesromantik und -sehnsucht, die Lust am Untergang: am eigenen ursprünglich noch mehr als an dem anderer. Die Deutschen machten aus Europa ein Schlachthaus, und insbesondere den Osten verwandelten sie in ein Nekrotopia. Hier hatten sie den Untergang – den sie mehr wünschten, als sich von sich zu emanzipieren – ständig um sich. Mit der Vernichtung anderer schufen sie die Kulissen zu ihrer dunklen Sehnsucht, banden sie sich aneinander und gingen auf das Rachegericht zu, das sie erwarteten. Sie waren entschlossen, bis zum bitteren Ende weiterzumachen, auch wenn sie nicht mehr an den Sieg glaubten. Auch wenn sie die Judenvernichtung vielleicht nicht befürworteten, so führte das weit verbreitete Wissen um sie nicht dazu, die Loyalität zum „Dritten Reich“ aufzukündigen. Sie waren Deutschland. Wer „Konsequenz“, „Zu-sich-stehen“ und „Authentizität“ zur Idee vom Guten und zum Kriterium von Wahrheit macht, der wird beim Nationalsozialismus fündig. Nach den Maßstäben heutiger Seelenratgeber und Psychotechniker war Hitler der erfolgreichste Therapeut aller Zeiten, nämlich eines ganzen Volkes. Die Deutschen hatten eine Überzeugung, und zu der standen sie bis zum Schluss.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Essay erschien zuerst in „prodomo“, Ausgabe #8 vom 25. 03. 2008 und wurde für die vorliegende Ausgabe von literaturkritik überarbeitet. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.

Kein Bild

Shoah. Ein Film von Claude Lanzmann.
Absolut Medien, Berlin 2007.
75,00 EUR.
ISBN-13: 9783898488464

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