Literatur und Buchkunst

Günter Grass‘ „Werkstattbericht“: „Sechs Jahrzehnte“

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über Grass und sein Werk Neues zu sagen fällt schwer. Seit über einem halben Jahrhundert nimmt die Öffentlichkeit regen Anteil an seinem Wirken, und er selbst hat in autobiographischen Texten reichlich Auskunft über sich gegeben. Zu nennen sind neben den Tagebüchern vor allem drei Werke: Beim Häuten der Zwiebel, Die Box und Grimms Wörter. Sie werden von ihm eine „Trilogie der Erinnerung“ genannt, welcher er den goetheschen Titel Aus meinem Leben nur verweigert, um dem Eindruck der Vermessenheit vorzubeugen. Auch der Werkstattbericht folgt dem Konzept Goethes, die Produktion von Kunst bzw. Dichtung gemeinsam mit der Lebensgeschichte des Künstlers bzw. Dichters in den Blick zu nehmen. Er erschien erstmals 1991 unter dem Titel Vier Jahrzehnte, und 2001 schloss sich eine bis zum Jahr 2000 ergänzte Ausgabe Fünf Jahrzehnte an, die jedoch gekürzt war und erst 2004 auf den gewünschten Umfang gebracht wurde. Jetzt also eine überarbeitete neue Fassung: Sechs Jahrzehnte.

Ein Nachrechnen führt zu weniger runden Zahlen: Der Künstler Grass, der noch ausführlicher dokumentiert wird als der Autor Grass, begann seine Laufbahn mit dem Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie (1948), und der Werkstattbericht beider führt bis in das Jahr 2014. Eine Fotografie des 20jährigen Steinmetzen ist vorangestellt, und das letzte Bild zeigt den 87jährigen neben seiner Frau Ute im Garten des Steidl Verlags, also des Verlages, der wie kein zweiter in der Lage ist, der Doppelbegabung von Grass gerecht zu werden, und der seit gut zwei Jahrzehnten die Weltrechte an dessen Werk besitzt. Gerhard Steidls Name fällt oft (zuweilen hat man den Eindruck subtilen product placements), wohingegen der Luchterhand Verlag, mit dem Grass über 30 Jahre lang verbunden war, weitgehend ignoriert wird.

Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass die Trennung von Luchterhand nicht harmonisch war, vor allem aber damit, dass Autoren, die sich noch nicht aufs Altenteil gesetzt haben, die Aufmerksamkeit lieber auf jüngere Werke richten als auf solche, deren Entstehung länger zurückliegt. Ein junges Werk von Grass ist die Wort- und Bildkunst verbindende illustrierte Jubiläumsausgabe der Hundejahre (2013), also desjenigen Romans, der bei der Rezeption der Danziger Trilogie stiefmütterlich behandelt worden ist, jedenfalls im Vergleich mit Blechtrommel und Katz und Maus. Diese illustrierte Ausgabe wird fast ausführlicher vorgestellt als die Blechtrommel insgesamt, und die Vermutung liegt nahe, dass Grass eine Erfolgsgeschichte, die er für einseitig hält, ins Gleichgewicht bringen will.

Auch ein anderes und sehr erfolgreiches Werk behandelt der Werkstattbericht nur knapp, obwohl es als literarhistorische Kostümierung der „Gruppe 47“ und als Hommage an Hans Werner Richter eine aufschlussreiche Entstehungsgeschichte hat: Das Treffen in Telgte. Vielleicht stand neben dem einprägsamen Buchumschlag – eine aus Geröll emporwachsende Hand, die einen Federkiel hält – einschlägiges Bildmaterial nicht ohne weiteres zur Verfügung. Hier wie auch anderswo stößt das Bemühen, Kunst und Dichtung gemeinsam zu präsentieren, an seine Grenzen. Wo ihre Affinität nicht vor Augen geführt werden kann (im eigentlichen Wortsinn), ist Verzicht oder zumindest Unausgewogenheit schwer vermeidbar. Kein gleichmäßiger Informationsfluss bestimmt die Darstellung, sondern Sprunghaftigkeit, die jedoch nur den Leser stören dürfte, dem Grass noch ein Unbekannter ist, und der Lücken nicht mit Vorwissen überbrücken kann.

Vorwissen ist auch erforderlich, um Grass’ Familienverhältnisse zu rekonstruieren. Seine Herkunftsfamilie bleibt trotz der prägenden Bedeutung, vor allem der Mutter, außen vor, was in einem Werkstattbericht verständlich ist. Seine erste Frau tritt ohne einführende Erläuterung unvermittelt als „Anna“ auf, und dass es eine Ehe gegeben hat sowie Kinder und Scheidung, wird nur allmählich mitgeteilt oder muss zwischen den Zeilen und Abbildungen erschlossen werden, wie auch, dass sie Balletteuse war – nicht unwichtig für einige Zeichnungen und Texte. Ähnlich geht es den anderen Frauen, die in Grass’ Leben und in seinen Werken eine Rolle spielen. Am präsentesten ist die zweite Frau Ute.

Im Laufe der Jahre, in denen Grass zum Patriarchen einer stattlichen Patchwork-Familie avanciert, wächst dem familiären Umfeld größere Bedeutung zu. Kinder „gehören zum Werkstattbericht […]. Zu Kinderlärm fiel mir immer was ein.“ Privilegiert scheint Tochter Helene (auch der Name von Grass’ Mutter!). Ihrer Zeugung wird Relevanz für die Entstehung des Butt zugesprochen, und die Mitteilung ihrer Geburt wird von der Interjektion „Halleluja!“ emphatisch begleitet. Als professionelle Schauspielerin tritt sie später gemeinsam mit dem Vater bei musikbegleiteten Lesungen von Des Knaben Wunderhorn auf.

Derartige Informationen verabreicht der Werkstattbericht nur verstreut und häppchenweise. Er taugt nicht zur genauen Unterrichtung. Vielmehr macht er, dickleibig und mit mehr Abbildungen als Text, den Eindruck eines Coffee Table Book, das durchblättert, nicht Seite um Seite zur Kenntnis genommen werden will. Doch zumindest in einem Punkt unterscheidet er sich von luxuriös aufgemachten Bildbänden: Trotz des aquarellfarbigen Einbands – vier Federkiele, die an den Umschlag vom Treffen in Telgte erinnern – wirkt er nicht bunt, sondern farblos.

Als Künstler hat Grass erst spät die Farbe für sich entdeckt und ihrer als Aquarellist zeitweilig gehuldigt; meist aber praktiziert er Techniken des Zeichnens und Radierens, so dass die für den Werkstattbericht konstitutiven zahlreichen Illustrationen in ihrer Gesamtheit grau wirken, ebenso wie die Wiedergabe von – oft mit zeichnerischem Beiwerk angereicherten – Manuskriptseiten. Hinzu kommen Typoskripte und Schwarzweißfotografien.

Die Vorherrschaft des Grautons dürfte nicht allein der Drucktechnik geschuldet sein, sondern auch Stilwillen manifestieren. „Du sollst die graue Farbe lieben“ – die Aufforderung ergeht in dem zu Recht berühmten Gedicht „Askese“, in welchem Grass, seinem Vortrag „Schreiben nach Auschwitz“ zufolge, schon früh sein ästhetisches Credo formuliert hat. Die Opulenz von Steidls Buchkunst hindert ihn nicht, dieser Askese verpflichtet zu bleiben.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Günter Grass: Sechs Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht.
Herausgegeben von G. Fritz Margull und Hilke Ohsoling.
Steidl Verlag, Göttingen 2014.
608 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783869308319

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