Gewalt oder Liebe

„Der Tod und das Mädchen“ – Ein Gedicht von Matthias Claudius als Kippfigur

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Das Mädchen

Vorüber! Ach, vorüber!
Geh wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh Lieber!
Und rühre mich nicht an.

Der Tod

Gib Deine Hand, du schön und zart Gebild!
Bin Freund, und komme nicht, zu strafen.
Sei gutes Muts! ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen schlafen!

Wie eine Kippfigur kann dieses Gedicht wirken, wenn man es wiederholt liest: in plötzlich wechselnden, ganz unterschiedlichen Bedeutungen.

Der lyrische Dialog ist so klein gehalten, dass er der Phantasie großen Raum lässt. Und da will es oft scheinen, als verberge das ganze Gedicht, wie der sprechende Tod in ihm, hinter wunderschönen Worten eine hässliche Phantasie: Es ist die Szene einer Vergewaltigung oder einer tödlichen Verführung, die, durch Schuberts romantische Vertonung, eine unendlich weite Verbreitung erfahren hat. Männliches Begehren identifiziert sich mit der Macht des Todes. Das Mädchen wehrt sich, doch der Mann hat Gewalt über sie und im Text das letzte Wort. Eine Wunsch- und Machtphantasie, ähnlich wie Goethes „Heidenröslein“, nur verborgener? Wenn dem sich sträubenden Mädchen mit der Anrede „Lieber“ ein Zeichen der Zuneigung in den Mund gelegt wird, dann entspricht das Gedicht infamsten Klischees über das geheime Einverständnis von Frauen mit männlicher Gewalt.

Die ästhetische Verführungskraft des Gedichts ist freilich so groß wie die rhetorische Kunst des sich so sanft gebenden Todes. Sie verleitet dazu, das Anstößige zu übersehen. Es in das romantische Phantasma des Liebestodes zu überführen, gelingt nur schwer. Doch immerhin kann man in dem Dialog-Gedicht die Geschichte eines Mädchens angedeutet finden, das sterbenskrank ist, das den Tod fürchtet und vielleicht als Erlösung von dem Leiden auch schon wünscht. Die längeren, sich geduldig Zeit nehmenden Sätze des Todes können die knappe, gehetzte Ängstlichkeit der ersten vier Verse in wohltuender Weise auflösen.

So gesehen, hat das Gedicht überhaupt nichts Anstößiges an sich. Zumindest was die Darstellung des Todes angeht, folgt Claudius mit ihm vielmehr der aufklärerischen Absicht, dem Tod seinen Schrecken zu nehmen. Er spielt auf sie an – in dem Gedicht selbst und in dem Band, in dem es 1775 erschien: auf Lessings sechs Jahre vorher erschienene Schrift „Wie die Alten den Tod gebildet“. Lessing wendet sich hier gegen angsterregende Darstellungen des Todes als „scheußliches Gerippe“ und gegen Interpretationen des Todes als Strafe. Antike Bildtraditionen, die den Tod als „Zwillingsbruder des Schlafes“ darstellen oder als geflügelten Jüngling mit gesenkter Fackel, erscheinen ihm humaner. Ein „schönes Bild“, so kommentiert Claudius, doch sei er „lieber beim Knochenmann geblieben“. Denn der sei ihm von Kind an vertraut. „Er ist auch so, dünkt mich, recht schön, und wenn man ihn lange ansieht wird er zuletzt ganz freundlich anzusehen.“

In dem Gedicht bleibt es denn auch beim „Knochenmann“, doch wie Lessing unter Berufung auf die Alten versucht Claudius ihm den Schrecken zu nehmen. Nicht wild und angsterregend und nicht als Vollstrecker einer Strafe, sondern als sanften Bruder des Schlafes lässt er ihn auftreten. Das traurige und doch auch tröstliche Gedicht lehnt sich eng an die Form des Dialogs und des Verses spätmittelalterlicher Totentanzlieder an, wandelt sie jedoch ab und verkehrt ihre Intention. Der Dialog bildet jetzt Diskussionen und differierende Standpunkte des 18. Jahrhunderts ab. Zwei Einstellungen stehen sich gegenüber. Sie werden durch die Unterschiede im Versmaß akzentuiert. Der Tod argumentiert in dem Gedicht wie Lessing gegen die Angst. „Sei gutes Muts!“ Das sind die Devisen der Aufklärung. Sie verstand sich als Kampagne gegen falsche Befürchtungen. Das Mädchen hingegen ist noch voraufklärerischen Ängsten verhaftet.

Kein frivoles Gedicht also? Der Tod nicht eine Figur, die perverse Formen männlichen Begehrens repräsentiert, sondern ein Fürsprecher aufgeklärter Menschenliebe? Dass die Bedeutungen, die sich hier dem Tod mit wechselnden Emotionen zuschreiben lassen, weiterhin immer wieder umkippen können, macht diese Verse so anziehend, aber auch ein wenig unheimlich.

Der Beitrag übernimmt geringfügig verändert die Erstveröffentlichung in der von Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen „Frankfurter Anthologie“, erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. April 2000. Das Gedicht ist unter anderem abgedruckt in Matthias Claudius: Der Mond ist aufgegangen. Gedichte und Prosa. Eine Auswahl von Reinhard Görisch. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1998.