Totaleindrücke

Nils Güttler und der kartographische Blick

Von Sebastian SchönbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Schönbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Medium Karte ist – so scheint es bei näherem Hinsehen – auf eine Weise in unser alltägliches Sehen involviert, die uns das Funktionieren der Karte als Medium vergessen lässt. Karten funktionieren nicht, sondern sie produzieren Evidenzen. Entweder sie zeigen uns unmittelbar die Beschaffenheit des geographischen Raumes oder sie sind eben ungenau. Die geometrischen und graphischen Zeichen rendern den Raum und visualisieren ihn mit einer exakten Blende und einer optimalen Belichtung. Hierfür böten digitale Navigationshilfen neokolonialer Großunternehmen die adäquaten Beispiele. Die Rede ist von einer möglichen gegenwärtigen Praxis „kartographischer Beobachtung“, der sich Nils Güttler in einer historischen Perspektive in seinem Buch „Das Kosmoskop. Karten und ihre Benutzer in der Pflanzengeographie des 19. Jahrhunderts“ verschreibt.

Beim Durchblättern des voluminösen kartographischen Anhangs stellen sich mehrere Effekte simultan ein, welche zunächst eine Distanz des gegenwärtigen Denkens zum historischen Kartenmaterial suggerieren: Die abgebildeten Beispiele wirken in ihrer Historizität anachronistisch, ästhetisch überformt und informell überholt, sie wirken in ihrer ganzen Falschheit als die Realität verzerrende und optisch durchbrochene Dokumente, sowie als bloße ästhetische Phänomene. Mit ihren bunten Flächen und kryptischen Zeichen wirken die Karten zugleich spielerisch und inspirierend, sind aufgrund der geschichtlichen Distanz jedoch weitestgehend der Korrektur bedürftig. All diese Effekte nähren den Verdacht, beim Medium Karte würde es sich um ein überwundenes handeln. Dass dem nicht so ist, diese Einsicht ist wiederum ein Effekt der Lektüre von Güttlers Buch.

Nils Güttler, der mit dem Titel „Das Kosmoskop“ seine Dissertation publiziert, schreibt keine allgemeine Mediengeschichte der Karte, sondern eine besondere. Diese Besonderheit lässt sich sowohl an dem theoretisch methodischen Zugriff der Arbeit, als auch anhand des Zuschnitts des Gegenstandsbereichs erläutern. Der Gegenstandsbereich wird im Untertitel des Buchs benannt: die Pflanzengeographie. Es stehen damit nicht topographische Karten – wie wir sie aus geographischen Atlanten her kennen –, sondern „thematische Karten“ zur Diskussion. Karten in der Pflanzengeographie bilden das geographische Vorkommen und damit die Verteilung bestimmter Pflanzenarten ab. Diese Abbildung erfolgt selbstredend ausschnitthaft und auf jeweils unterschiedliche Weise, mit unterschiedlichen Mitteln der Visualisierung und mittels unterschiedlicher involvierter „kartographischer Blicke“. Die Arbeit zeichnet den historischen Verlauf der Verteilungskarten der Pflanzen von ihrem Entstehen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein nach und untersucht – und hier rückt die Besonderheit mit Blick auf den theoretisch-methodischen Zugriff in den Blick – deren Benutzung und die Geschichte dieser Benutzung. Denn erst als Pflanzengeographen ihre Karten zu benutzen wussten, so Güttlers These, begann das Medium Karte die Forschungspraktiken der Disziplin zu verändern.

Elementarer Bestandteil dieser „Benutzungsgeschichte“ der botanischen Karten sind „Praktiken der Beobachtung“, die der Drucklegung der jeweiligen Karte vorausgehen und die auf diese folgen. Es geht hier demnach offenbar um eine doppelte Benutzungsgeschichte des Mediums Karte im Bereich Pflanzengeographie. Zum einen werden die Beobachtungspraktiken des jeweiligen Naturforschers (etwa Carl von Linné, Alexander von Humboldt, Augustin Pyramus de Candolle, William Hooker und anderen), und der vielen Hände die in den Entstehungsprozess der Karten involviert sind, vor dem Erstellen der Karten analysiert, zum anderen die Benutzung der fertigen Karten in sozialen wie in wissenschaftlichen Bereichen sowie die Wege ihrer Verbreitung und Bedingungen ihrer Rezeption. Karten sind also zum einen Ergebnisse von kartographischen Blicken und disziplinieren zum anderen die Blicke ihrer Leser.

Der zeitliche Rahmen, den das Buch ins Visier nimmt, wird zum einen von den Wanderungen Linnés durch die lappländische Wildnis im Sommer des Jahres 1732, zum andern von einem Gruppenphoto anlässlich des dritten internationalen botanischen Kongresses im Mai des Jahres 1910 markiert. Diese beiden Enden des Buches verweisen auf eine weitere Qualität von Güttlers Buch. Jedes Kapitel beginnt mit einem Ort und einem Datum, und hierauf mit einer bestimmten Karte oder einer bestimmten Situation angesichts einer Karte. Die Beschreibung dieser einzelnen Situationen trägt einen bisweilen literarischen oder poetischen Zug, der sich bereits im ersten Satz des Buches manifestiert: „Dresden, 25. März 1884. Als Oscar Drude seine Post öffnete, traute er seinen Augen kaum.“ Drude, der Botanik-Professor, wird als Rezipient seiner eigenen Karten porträtiert, die ihm der Perthes Verlag überarbeitet zurückgesendet hatte. Die Episode, mit der Güttler seine Einleitung beginnt, illustriert die Vielzahl unterschiedlicher Akteure und die epistemologische Kraft, die von den überarbeiteten Karten ausging. Für Drude stellt sich ein „Totaleindruck“ ein, der ihn neue Prinzipien in der Verteilung der Pflanzen erkennen lässt. In dem Moment, den Güttler in geradezu poetischer Präzision beschreibt, und mit dem er sein Buch beginnen lässt, gerät Drude seine eigene Karte zum Kosmoskop.

Aber auch die Anfänge der Verteilungskarten in textueller Form in den Reisebeschreibungen des schwedischen Naturkundlers Carl von Linné vollzieht Güttler nach. Obwohl zu dieser Zeit noch nicht von der Pflanzengeographie selbst die Rede sein kann, da sich die Naturgeschichte erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in die einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen (wie etwa der Biologie und der Geographie) zersplittert, sieht Güttler in Linné nicht nur den strengen Systematiker und Gegenspieler von Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, als der er gerne abgehandelt wird. Güttler folgt Linné in die lappländische Wildnis, um proto-geobotanische, proto-ökologische Tendenzen und kartographische Blicke in Textform in seiner Naturgeschichte aufzuspüren und sein „zweites Gesicht“ zu entdecken. Güttler folgt Linné in die Wildnis, er folgt Humboldt auf den Gipfel des Pico del Teide, Francesco Petrarca auf den Mont Ventoux, Charles Darwin nach St. Jago, untersucht die Institutionen und Verlage einer sich immer weiter konsolidierenden Disziplin und vergisst dabei nie die jeweils beteiligten Beobachternetzwerke, die in der Produktion und Rezeption einzelner Karten zusammenspielen.

Dass der Leser Professor Drude durch das ganze Buch – wie einer Linie – folgen kann, zeigt, dass das Buch selbst wie eine Karte gelesen werden kann. Drude, der 1884 seinen Augen kaum traute, unternahm im Sommer 1908 eine Exkursion auf den großen Zschirnstein im Elbsandsteingebirge. Güttler beschreibt am Beispiel dieser und anderer Exkursionen den produktiven Zusammenhang von geobotanischen Karten und der neuen Disziplin der Ökologie. Drude, der selbst seit 1898 explizit von „Ökologie“ handelt, beschreibt in metaphorischer Weise, dass er zusammen mit seiner Exkursionsgruppe gewissermaßen „in eine Karte hinein“ trat. Die Karte bilde dabei nicht in einfacher Weise die Landschaft ab, sondern zeige vielmehr ökologische Zusammenhänge. Die optischen Effekte (im Falle der Ökologie beschreibt Güttler sie als „Einzoomen“) zwischen dem abbildenden Medium und der abgebildeten Landschaft werden also zunehmend positiv bewertet. Zudem wird so auch die gesellschaftliche Relevanz der Pflanzengeographie und somit die Disziplin weiter gestärkt. Nicht zuletzt behauptet auch das Medium selbst um die Jahrhundertwende eine Geltung als wichtiges Forschungsinstrument innerhalb der Pflanzengeographie. Auch die enge Verbindung zwischen den Karten der Pflanzengeographie und der aufkommenden Ökologie unterstreicht die Aktualität von Güttlers Arbeit, sind doch ökologische Fragen unter anderem im Zuge des Ecocriticism und der Animal Studies in den letzten Jahren in zunehmendem Maße auch im deutschsprachigen Raum diskutiert worden.

Mit einer beeindruckenden Ausdauer und Präzision zeichnet Güttler die Geschichte des Mediums Karte in der Pflanzengeographie des 19. Jahrhunderts nach und arbeitet so das epistemologische Potenzial des Mediums für die Benutzer und ihre Beobachternetzwerke heraus. Das Medium Karte, so zeigt Güttler, ist als „Erkenntnisinstrument“ zu verstehen, das die Landschaftswahrnehmung der Betrachter maßgeblich mit bestimmt. Die Aktualität dieser Einsicht braucht Güttler nicht zu betonen, sie drängt sich dem Leser von allein auf. Ausgehend von der Lektüre des Buches ließen sich die Fragen stellen, welche latenten Mechanismen die gegenwärtige Konjunktur digitaler Karten durchziehen, inwieweit digitale Karten den Blick ihrer Benutzer zu einem „kartographischen Blick“ machen und welche Chancen sich aus der gegenwärtigen Konjunktur des Mediums für die Bearbeitung ökologischer Krisen ergeben.

Titelbild

Nils Güttler: Das Kosmoskop. Karten und ihre Benutzer in der Pflanzengeographie des 19. Jahrhunderts.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
546 Seiten, 64,90 EUR.
ISBN-13: 9783835314290

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