Panoptikum der Heuchler und Obskuranten

Joyce Carol Oates entlarvt die wahren Gespenster

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrem jüngst auf Deutsch unter dem Titel „Die Verfluchten“ erschienenen Roman führt uns Joyce Carol Oates zurück in die Vergangenheit ihrer Heimatuniversität Princeton, aber vor allem führt sie uns genüsslich in die Irre; doch davon später. Zunächst tauchen wir ein in die Gelehrtenwelt des frühen 20. Jahrhunderts. Liebevoll gezeichnet finden wir auf dem Vorsatz des Buches den Straßenverlauf der Gemeinde Princeton, New Jersey, im Jahre 1905/06 und die Wohnstätten der Protagonisten.

Hier begegnen wir dem Präsidenten der Universität Princeton, dem Rechtsgelehrten Woodrow Wilson, den man in Europa vor allem als den späteren US-Präsidenten kennt, der Amerika in den Ersten Weltkrieg führte und der mit seinen berühmten 14 Punkten die Grundlage für Versailles und den Völkerbund legte. In jenem Jahr 1905 steckt er allerdings in einer beruflichen und auch in einer persönlichen Krise, mit der er sich seinem Freund, Vorgänger und Mentor Winslow Slade anvertraut. Beide sind historische Persönlichkeiten, ihr Leben ist gut dokumentiert.

Für das nun Folgende lässt Oates einen Historiker namens van Dyck II als Bürgen auftreten, der die Ereignisse großflächig ausbreitet und sich als überaus auktorialer Erzähler gerne auch an seine Leserschaft wendet. Geschildert werden mysteriöse Vorfälle, die vor allem die Familie von Referend Winslow Slade betreffen. Denn in dieser altehrwürdigen Ostküstenfamilie häufen sich die Merkwürdigkeiten, beginnend damit, dass Slades Enkelin Annabel vom Traualtar weg läuft und einem Fremden folgt, ihr Bruder Josiah auf einer Antarktisfahrt ertrinkt, ihre Schwester Orianah vom Dach stürzt und ihr Bruder Todd irgendwie zu Stein erstarrt. Spätestens jetzt, und darauf verweist ja auch überdeutlich der Titel, fühlt man sich in einen Schauerroman versetzt oder auch in eine ach so beliebte Doku-Soap à la „Der Fluch der Kennedys“.

Aber damit nicht genug. Der so sehr um seine Reputation bemühte van Dyck spürt dem Fluch auch im weiteren Freundeskreis der Familie nach und stößt schließlich auf das verhängnisvolle Wirken von Dämonen und Vampiren, die eigentlich nicht der Gegenstand historischer Forschung sind. Demgegenüber ist der aufgeklärte Leser eher geneigt, für alles eine vernünftige Erklärung zu suchen, was sich am Ende auch als zutreffend herausstellt. Die Gespenster, die hier auftreten, verkörpern, wie in Ibsens Dramen, in Wahrheit eine Lebenslüge. Umso bereitwilliger folgen wir der Autorin jedoch bei ihrer breit angelegten und über viele Hintertreppen führenden Entlarvung der amerikanischen Elite als Rassisten, Frömmler und Heuchler, zumal wir bald erkennen, dass hier nicht eine längst überholte Vergangenheit, sondern durchaus die Gegenwart im Spiel ist. Diese hat Oates jedoch in einem breiten Tableau literarischer Spielformen eingefangen.

Zunächst erinnern das Ambiente und die Einführung eines Chronisten an ein Paradestück der Gothic novel, Washington Irvings „the legend of sleepy hollow“. Doch Oates ist keine Romantikerin. Sie treibt vielmehr ein überaus amüsantes Spiel mit dem Genre, dessen Grenzen sie lustvoll auslotet und bisweilen überschreitet beziehungsweise erweitert, zum Beispiel zum Universitätsroman, Typ: Der verrückte Professor. Zu den hier ausgebreiteten Dokumenten zählen außerdem kryptische Tagebücher, welche, wie auch das gesamte Buch, die Übersetzerin souverän gemeistert hat und die Frauenschicksale widerspiegeln, die an Jane Austen erinnern oder ins Groteske verzerrt werden: Das Auftauchen einer Schlange in einer Mädchenschule löst eine Massenhysterie aus.

Freud lässt grüßen, oder tritt hier gar der Leibhaftige selbst auf? Kündigt sich in den tragischen Ereignissen nicht der Durchbruch „des Bösen in der Welt“ an. Immerhin ist das Verführerische, das von den Frauen ausgeht, stets Teufelswerk. Die Frauen der besseren Gesellschaft brauchen eine Anstandsdame, wenn sie ausgehen, lesen aber heimlich Bakunin oder Emily Dickinson. Überhaupt spielen Literaten eine besondere Rolle in Oates´ Gesellschaftsroman. So lebt am Rande von Princeton auch Upton Sinclair, der gerade erst seinen Erfolgsroman „the jungle“ veröffentlich hat. Für die Aufdeckung der Missstände in der Fleischindustrie, in die auch Teile der Princetoner Gesellschaft verstrickt sind, wird er von Präsident Theodore Roosevelt ins Weiße Haus eingeladen. Doch nicht nur das (historisch verbürgte) Mittagessen mit dem Präsidenten ernüchtert den idealistischen Gefühlssozialisten Sinclair, der die Revolution in Amerika unmittelbar bevorstehen sieht, sondern vor allem eine Begegnung mit seinem Helden Jack London in einem New Yorker Nobelrestaurant, wo dieser im Suff von der Überlegenheit der nordischen Rasse schwadroniert.

Hier stoßen wir einmal mehr auf die Widersprüche, welche die amerikanische Gesellschaft bis heute prägen und die offen zu legen Oates auch in diesem umfangreichen Werk nicht müde wird: Wer fühlte sich nicht mit Schaudern an George W. Bush und diverse andere Staatsmänner erinnert, wenn Woodrow Wilson, der immerhin eine fünfbändige „Geschichte des amerikanischen Volkes“ verfasst hat, „im Alter von 16 Jahren“ eine Bekehrung erlebt und in sich eine göttliche Sendung verspürt. Hier zitiert Oates Wilson wörtlich aus seinen Briefen: (Ich) „begriff, dass Gott etwas Besonderes mit mir vorhatte, nämlich dass ich, Thomas Woodrow Wilson für eine einzigartige Aufgabe ausgewählt war, dass ich meinen Feinden niemals nachgeben durfte und dass Gott mich erhalten würde, bis mein Auftrag in der Welt vollendet war.“

Und Wilsons Familienmotto „Gott bewahre uns vor Kompromissen“ gilt heute noch gleichermaßen für jene Politik, mit der Republikaner und Demokraten den Kongress lahmlegen, so etwa kürzlich in der „Süddeutschen Zeitung“. Unbarmherzig relegiert Wilson einen Studenten, der, wie es bei Oates so schön heißt, dem „Unaussprechlichen“ (= der Homosexualität) verfallen war, vom Campus, während er selbst ganz herzige Briefe an seine Geliebte schreibt, die er vor der Ehefrau gerne verschweigt. Als Wilson am 30. Mai 1906 einen Schlaganfall erleidet, rät ihm ein Ärzte-Konsilium zur Wiederherstellung seiner Gesundheit, „sich eine Teilnahme am öffentlichen Leben aus dem Kopf zu schlagen“ und vor allem „das Denken“ aufzugeben. Einig sind sich die Gelehrten jener Universität, an der später immerhin Albert Einstein und Thomas Mann wirkten, außerdem darin, dass sich Darwins „These von der Evolution“ nicht mit Gottes Schöpfung vereinbaren lasse und dass in Princeton kein Platz für Bibelkritik sei. Demokratie, so spotten sie, gebe es nicht eher, „als bis eine Negerin im weißen Haus residiert“.

In Oates’ Panoptikum der Heuchler und Obskuranten trägt allein Mark Twain menschliche Züge, indem er sich nämlich fröhlich zu seinen Lastern, dem Trinken und Rauchen bekennt. Den Grand-Dad-Whiskey benötige er dringend, um „nachts für drei oder vier Stunden erholsam vergessen zu können“, was wiederum Wilson, der ebenfalls gewisser Drogen nicht abgeneigt ist, kommentiert: „Ich wollte mit ihm über die besänftigende Kraft des Gebets sprechen, aber er paffte an seiner stinkenden Zigarre & sagte unter Husten & Gelächter, das habe er noch nicht ausprobiert & überlege, wie es wohl im Vergleich zum Grand-Dad abschneide.“ Etwas mehr von dieser gesunden Skepsis würde man jenen amerikanischen Politikern und ihren Wählern wünschen, die an übernatürliche Fügungen oder, wie Mitt Romney, auch nur an die Weissagungen aus dem Buch Mormon glauben wollen.

Titelbild

Joyce Carol Oates: Die Verfluchten. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Silvia Morawetz.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014.
749 Seiten, 26,99 EUR.
ISBN-13: 9783100540218

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch