Gehirn in der Cloud

Über digitale Revolutionen in Gutenberg-Form

Von Jörg BernardyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Bernardy

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Buch hat nicht nur Notizen zum Inhalt. Es behandelt ein Thema, das uns alle angeht. Der digitale Wandel hat längst in den Alltag des Einzelnen Einzug gehalten. Er ist ein gesellschaftliches Massenphänomen, das die Macht hat, den Menschen und seine Position in der Welt neu zu bestimmen.

Die Publikation sticht nicht nur wegen ihrer philosophischen Thesen heraus. Unzeitgemäß wirkt sie vor allem aufgrund ihrer guten alten Gutenberg-Form. Zudem ziert das Cover eine expressionistisch anmutende Malerei (von Karl Otto Götz, er hat in der Tradition des Expressionismus und Surrealismus begonnen und steht für abstrakte Kunst). Viel klassischer könnte die Etikette nicht anmuten, mit der Hubert Burda seine Notizen zur digitalen Revolution versehen hat.

Die Notiz ist eine flüchtige Form, die im besten Falle einen Aphorismus oder einen Geistesblitz hervorbringt. Dies gelingt Burda an manchen Stellen, etwa wenn er im Oktober 2007 in sein Tagebuch notiert: „Ein Bild braucht eine Fläche und muss irgendwo an etwas festgemacht werden können. Es darf nicht verschwimmen.“ Oder aber bei der Erkenntnis, dass das Netz nichts vergisst, die mit dem Satz endet: „Es ist, wie wenn ich mein Gehirn in eine Cloud gelegt hätte.“

Die meisten Reflektionen zur digitalen Revolution sind Beschreibungen, Beobachtungen und Zusammenfassungen aus den letzten 25 Berufs- und Lebensjahren eines feingeistigen Verlegers und kosmopolitischen Unternehmers, der aus dem Wissen der Kunstgeschichte schöpft. Damit schreibt Burda eine Chronik der technologischen Innovationen von der ersten digitalen Drucktechnik bis zu Skype, Facebook und WhatsApp. Tagebucheinträge stehen dort neben Ausschnitten aus Vortragsmanuskripten, Präsentationen, Visionen, Interviews und Analysen des wirtschaftlichen Geschehens in der Medienbranche.

Die Heterogenität der ausgewählten Auszüge und Textsorten könnte nicht größer sein. Die meisten Passagen beziehen sich auf konkrete Ereignisse und Veränderungen in den Medien. Nicht wenige Gedanken ziehen historische Vergleiche zur Mediengeschichte der letzten fünfhundert Jahre oder spielen mit Zitaten und Gedanken aus der Philosophie. Hier offenbaren sich Stärke und Schwäche der Notizen. Sie sind größtenteils rückgewandt und verweisen in die Vergangenheit.

Sichtbar wird das Porträt eines Verlegers, der nicht nur mit dem größten deutschen Medientheoretiker unserer Zeit befreundet war (Friedrich Kittler), sondern der den digitalen Wandel in der ersten Reihe beobachtet, begleitet und vorangetrieben hat, sei es im Gespräch mit dem Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, Amazon-Chef Jeff Bezos oder dem Google-Gründer Sergey Brin. Für einen deutschen Verleger eine außereuropäische Spitzenleistung, die man – physisch gesprochen – nur bewundern und bestaunen kann, digital gesprochen durchweg liken und sharen möchte.

Beachtlich auch die Zusammenschau der zahlreichen Aktivitäten, die Burda mit der akademischen Elite (Akademie zum 3. Jahrtausend und eine interdisziplinäre Vorlesungsreihe an der LMU München) und der global community (DLD Conferences) zum digitalen Wandel auf die Beine gestellt hat. Die Summe ist im wahrsten Sinne des Wortes outstanding. Selbstverständlich kommt all dies nicht ohne Selbstdarstellung aus. Das Burda-Imperium ist Dreh- und Angelpunkt der Perspektive. Das Nachrichtenmagazin Focus wird als Erfolgsgeschichte und digitales Pioniersheft mit dem ersten Screen-Design gefeiert. Dies sei erwähnt, ist aber geschenkt und konsequent, da aus verlegerischer Perspektive Medienpraxis, Marketing und Werbung ohnehin nicht voneinander zu trennen sind.

So bleiben am Ende ein faszinierendes Porträt, ein singulärer und historischer Erfahrungsbericht der letzten 25 Jahre sowie ein visionäres Plädoyer für die kollektive Gestaltung der Mensch-Maschine-Infosphäre. Allerdings steht der Leser nach Beendigung der Lektüre auch mit der einen oder anderen Frage da. Ist der digitale Wandel allein mit dem pictorial turn zu erklären? Stehen die erfolgreichen Player wie Google, Paypal, Instagram, und Facebook nicht für mehr als eine Revolution mit Bildern? Was ist mit digitaler Evolution statt digitaler Revolution und ewigem Wandel? Ist die Rede von der „Eroberung der Welt als Bild“ (Heidegger) nicht viel zu pauschal, um „so etwas wie das Internet“ (Sloterdijk) verstehen zu können?

Die literarische Form von Burdas Notizen entspricht der digitalen Logik: Bild, Text und Grafik stehen gleichberechtigt nebeneinander. Und doch haben wir am Ende ein altehrwürdiges Buch in der Hand, bei dem einen kurz die leise Ahnung anfliegt, dass hier vielleicht zu Grabe getragen wurde, worum es doch eigentlich ging. Die digitale Revolution, eigentlich ist sie doch längst Geschichte.

Titelbild

Hubert Burda: Notizen zur digitalen Revolution 1990-2015. Wie die Medien sich ändern.
MZV GmbH & Co. KG, Unterschleißheim 2014.
182 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783871150494

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