Zum Sinn des Lebens in der Aufklärung

Laura Anna Macor über die „Bestimmung des Menschen“ im 18. Jahrhundert

Von Tino MarkworthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tino Markworth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1747 kehrte der Theologe Johann Joachim Spalding in seine Geburtsstadt Tribsees zurück. Tagsüber betätigte er sich dort als Hilfsprediger, während er nachts seinen schwerkranken Vater pflegte. Sicherlich eine traumatische Zeit für den 32-Jährigen, in der er den körperlichen Verfall seines Vaters hautnah erlebte, mit dem unweigerlichen Ende in Sicht. In diesen Nächten schrieb Johann Joachim seine Betrachtung über die Bestimmung des Menschen, in der er kompensatorisch der täglichen Dosis Realität einen grundlegend optimistischen Lebensentwurf entgegensetzt. (Auf den autobiographischen Hintergrund seiner Schrift spielt Spalding selbst in den „Schlußgedanken” der Auflage von 1794 an.)

Diese erstmals 1748 anonym veröffentlichte Selbstvergewisserung über Zweck und Sinn des Lebens wurde zu einer der erfolgreichsten populärphilosophischen Schriften der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Dafür gibt es gute Gründe: Neben der einfachen und klaren Sprache (keineswegs eine Selbstverständlichkeit für Texte aus der Mitte des 18. Jahrhunderts) machte es die Form des Monologs dem Leser leicht, dieser philosophischen Entdeckungsreise zu folgen und die einzelnen argumentativen Schritte durch eigenes Mitdenken nachzuvollziehen. Zudem kommt der Text ohne Referenzen auf philosophische Autoritäten oder christliche Offenbarung aus. Eine konfessionelle oder auch philosophische Voreingenommenheit wird damit ebenso vermieden wie Abkürzungen in der Argumentation. Stattdessen reflektiert das Autor-Ich nach Kriterien der „Vernunft” über mögliche Ziele seiner Bestimmung: Geht es im Leben um sinnliche Befriedigungen, Vergnügen des Geistes, Tugendhaftigkeit oder Religion? Oder um alles zusammen? Egal, wie man diese einzelnen Aspekte auch gewichtet, letztendlich steht und fällt das hier entwickelte Modell mit der Antwort auf eine ganz andere Frage, die dem Autor wohl gerade aufgrund seiner tagtäglichen Erfahrung beim Abfassen der Schrift besonders am Herzen liegt: Wie geht es nach dem Ende dieses Lebens weiter? Seine im Text behutsam entwickelte und leicht nachvollziehbare Argumentation für die Unsterblichkeit der Seele ­– und zwar unabhängig von der christlichen Religion – beruhigte existentielle Ängste und war sicherlich einer der wichtigsten Gründe für den Erfolg dieser Schrift.

Die Relevanz von Spaldings Text und der darin aufgeworfenen Fragestellungen, besonders zur Unsterblichkeit der Seele, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wer sich ein wenig intensiver mit den wichtigen Autoren der deutschen Theologie, Philosophie oder Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beschäftigt, wird immer wieder Hinweise auf Spalding und Die Bestimmung des Menschen finden. Trotzdem wurde dieses Thema außerhalb der engen Grenzen der Theologiegeschichte von der Forschung lange ignoriert. Erst seit Beginn der neunziger Jahre wurden vermehrt Aufsätze zu Teilaspekten der Bestimmungsschrift publiziert; 2006 erschien dann die von Albrecht Beutel sorgfältig edierte kritische Ausgabe mit den Variationen der verschiedenen Auflagen.

Laura Macor liefert nun die erste Gesamtdarstellung zum Thema „Bestimmung des Menschen” in der deutschen Aufklärung. Der Untertitel „Eine Begriffsgeschichte” sollte nicht abschrecken. Macor präsentiert hier keine Begriffsgeschichte im engeren Sinn. Sie arbeitet zwar zahlreiche Variationen der Verwendung dieses Konzepts heraus, doch geht sie weit ausführlicher auf die sich daran anknüpfenden Diskussionen ein, als man bei dieser methodischen Vorgabe erwarten würde. Zugleich beschränkt sie sich auf kanonische Autoren der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die theoriegeschichtlich interessant sind. Auf die vermehrte Verwendung des Bestimmungsbegriffs in Texten wenig bekannter Verfasser der Spätaufklärung wird zwar hingewiesen, eine detaillierte Untersuchung bleibt aber ebenso außen vor wie eine Diskussion der begriffsgeschichtlichen Methode in der Einleitung.

Nach einem kurzen Überblick über die Geschichte des Bestimmungsbegriffs vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts geht Macor im zweiten Kapitel auf Inhalt und Publikationsgeschichte von Spaldings Bestimmungsschrift ein. Die restlichen zehn Kapitel behandeln die Rezeption von Spaldings Text und die unterschiedlichen Verwendungen des Bestimmungsbegriffs bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Es ist eine faszinierende Geschichte, die Laura Macor hier erstmals im Detail ausbreitet, in der wir auf viele bekannte Namen treffen – von Wieland und Lavater bis Kant, Herder, Schiller und Fichte. Dabei ist es erstaunlich zu beobachten, wie der wiederholt überarbeitete und aktualisierte Text und der darin verwendete Bestimmungsbegriff über 50 Jahre (!) immer wieder anregend für philosophische Fragestellungen wirkte – egal, ob es nun am Anfang seiner Karriere um deistische Positionen ging oder am Ende um transzendentalphilosophische.

Ohne Zweifel philosophisch und publizistisch am wirkungsmächtigsten war die Publikation der siebten Auflage im Jahr 1763, erstmalig mit Verfasserangabe und dem verkürzten Titel Die Bestimmung des Menschen. Sie entfachte eine Debatte weit über theologische Grenzen hinaus. Waren vordem die vermeintlich deistischen Positionen Spaldings Anlass zu Diskussionen, rückte nun sein Postulat der Unsterblichkeit der Seele in den Mittelpunkt einer freundschaftlichen Auseinandersetzung zwischen Thomas Abbt und Moses Mendelssohn, die zum Teil öffentlich 1764 in der Zeitschrift Briefe, die neueste Litteratur betreffend ausgetragen wurde. Die Debatte stieß auf großes Publikumsinteresse und zeitigte langfristige Folgen: Mendelssohn wurde angeregt, das Thema noch einmal ausführlich in seiner 1767 publizierten Schrift Phädon zu diskutieren, die wiederum zu einem Bestseller arrivierte; andere Intellektuelle wie Johann Gottfried Herder brüteten über die in der Debatte vorgetragenen Argumentationen und entwickelten eigene innovative Theorien.

Auch bei diesem bereits ausgiebig behandelten Thema eröffnet Macor neue Perspektiven. Sie liest manche Quellen genauer als ihre Vorgänger, bringt neue Quellen ins Gespräch (wie zum Beispiel Süßmilchs Die göttliche Ordnung) und diskutiert ausführlich, transparent und manchmal kontrovers die umfangreiche Forschungsliteratur. Man muss ihren Folgerungen nicht immer zustimmen und in seltenen Fällen übersieht sie etwas (etwa Martin Keßlers 2007 erschienene Arbeit Johann Gottfried Herder – Der Theologe unter den Klassikern, die hilfreich für ihre Diskussion über Herders Predigten gewesen wäre), aber insgesamt beeindruckt ihre fundierte Kenntnis der Primär- und Sekundärliteratur.

Darüber hinaus geht auch hier ihre Darstellung wieder weit über eine simple begriffsgeschichtliche Behandlung hinaus. So diskutiert sie nicht nur Herders Rezeption dieser und anderer Schriften Spaldings, sondern sie untersucht auch seine frühen geschichtsphilosophischen Versuche und seinen Briefwechsel mit Mendelssohn über die Unsterblichkeit der Seele. Dieser Ansatz führt zu erheblichen Erkenntnisgewinnen: Liest man nämlich die frühe Herdersche Geschichtsphilosophie im Zusammenhang mit den von Spalding (und natürlich einer Reihe anderer Texte von Abbt, Mendelssohn etc.) aufgeworfenen Problemstellungen, treten die Sinnstiftungsanstrengungen Herders als eine treibende Kraft zur Abfassung seiner Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit deutlich hervor. Dieser Einbruch existentieller Fragestellungen in das Genre Geschichtsphilosophie wirkte theoriegeschichtlich innovativ und beeinflusste die Konzeption einer Reihe geschichtsphilosophischer Konstruktionen, die von nun an anderes zu leisten hatten als die häufig politisch motivierten französischen oder britischen Geschichtsphilosophien. Herder begründet hier eine Tradition, die über Lessing bis Nietzsche reicht. In der Forschung wurde auf diesen Aspekt bisher nur vereinzelt hingewiesen, ohne ihn im Detail zu thematisieren. So ist es Macor zu danken, durch die Kontextualisierung mit der Bestimmungsschrift diesen innovativen Ansatz Herders erneut zum Thema zu machen und damit Impulse für weitergehende Forschungen zu liefern.

Titelbild

Laura Anna Macor: Die Bestimmung des Menschen (1748–1800). Eine Begriffsgeschichte.
Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart 2013.
432 Seiten, 128,00 EUR.
ISBN-13: 9783772826153

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