Die Träumerin schreibt

Anna Freuds literarisches Werk erstmals publiziert

Von Martin MannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Mann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anna Freud ist als Psychoanalytikerin zu Weltbekanntheit gelangt: als Tochter Sigmund Freuds, als seine Sachwalterin und als Fortentwicklerin der Psychoanalyse. Sie gilt als Begründerin der Kinderanalyse und schuf mit Das Ich und die Abwehrmechanismen ein bis heute gültiges Standardwerk. Kaum bekannt sind dagegen ihre literarischen Versuche, die sie großteils in einer relativ kurzen produktiven Periode in der zweiten Hälfte der 1910er- und den 1920er-Jahren schuf. Die Gedichte, Prosatexte und Übersetzungen haben es nicht in die Werkausgabe des Fischer Verlags geschafft. Zugänglich werden sie nun in einem Sammelband, den die österreichische Literaturwissenschaftlerin und Psychotherapeutin Brigitte Spreitzer in einer glänzenden editorischen Leistung veröffentlicht.

Ein bedeutender Bestandteil ist dabei Spreitzers Einleitung in das literarische Werk Anna Freuds. Diese behandelt im Wesentlichen biografische Aspekte, wendet schließlich aber den Blick auch auf eine literaturwissenschaftliche Kontextualisierung. In den ausführlichen Betrachtungen zu Anna Freuds Lebenssituation zum Zeitpunkt der Entstehung der Texte bietet Spreitzer eine Einordnung, die die zweibändige Anna-Freud-Biografie von Elisabeth Young-Bruehl weniger zusammenfasst als komplementär ergänzt.

Spreitzer wirft Schlaglichter auf das Leben einer emanzipierten Vertreterin des assimilierten jüdischen Bürgertums. Bedeutend ist dabei die Beziehung zum Vater Sigmund Freud, dem Anna in zahlreichen unterschiedlichen Rollen begegnet: als Tochter, Schülerin, Klientin in der Lehranalyse, schließlich Pflegerin und geistige Erbin. Zahlreiche Zitate aus der Korrespondenz Freuds illustrieren, wie genau er die Entwicklung seiner Tochter verfolgt und steuert. Dazu gehören Annas früher Einstieg in den Lehrerinnenberuf (den zeitgenössischen Diskurs über das weibliche Lehramt zeichnet Spreitzer höchst pointiert nach), ihre literarischen Gehversuche – die bei Freud keine Begeisterung hervorriefen – und ihre Hinwendung zur Psychoanalyse, die für den Vater von größter Bedeutung war und entsprechend unterstützt wurde; so sehr, dass er selbst ihre erste Analyse durchführte.

Deutlich wird hier auch Freuds Tendenz, seine Tochter zum Objekt zu degradieren und mitunter zu pathologisieren. Eine wichtige Rolle spielen dabei Annas regelmäßige Wachträume, die ihr als kreative Arsenale für ihr literarisches Schaffen dienen. Weiterhin zeigt sich Freud beunruhigt über die zurückgenommene Libido der jugendlichen Anna, über ihren enormen Ernst, ausgeprägten Bildungshunger und ihren bis ins Asketische reichenden Fleiß, was ein Überspringen der Adoleszenz anzuzeigen scheint. In seinen Briefen an die Tochter schreibt ihr Freud ausdrücklich, dass sie als „Kind vor manchen Dingen davongelaufen“ sei, was sie nun durch gesteigerten Ernst zu kompensieren versuchte und damit Gefahr laufe ihrer „eigenen Natur fremd [zu] bleiben“.

Insgesamt reflektiert sich im Verhältnis zwischen Sigmund und Anna Freud auch gleichzeitig die Rolle der Frau in der frühen Psychoanalyse. Bei Sigmund Freud sind Frauen typischerweise Gegenstand der Analyse – in aller Regel als Hysterikerinnen. Die erste Generation an Psychoanalytikern war durchgängig männlich und entwickelte dementsprechend auch Theoreme, die Frauen zum Objekt von Beobachtung, Erkrankung und Heilung machten. Weiblichkeit galt hier als verbunden mit Bedürftigkeit, was sich auch im Verhältnis von Anna zu ihrem Vater zeigt. So schreibt sie in einem Brief 1925, woher ihr andauerndes schlechtes Gewissen ihrem Vater herrühre: „Weil Papa immer zeigt, daß er mich so gerne vernünftiger und klarer wissen möchte, als die Mädchen und Frauen, die er in seinen Analysen mit all ihren Stimmungen, Unzufriedenheiten und leidenschaftlichen Eigenheiten kennen lernt.“

Es ist als zentrale Leistung Anna Freuds anzuerkennen, das Patriarchat der Psychoanalyse überwunden zu haben. Dies geschah vorwiegend auf dem Gebiet der Psychoanalyse selbst, die sie wesentlich fortentwickelte und öffnete. Aber auch ihre literarischen Entwürfe stellen ein Betätigungsfeld dar, in dem sie nicht vorwiegend ihrem Vater zu gefallen trachtete, der ihren schriftstellerischen Versuchen keine Wertschätzung entgegenbrachte und hier wiederum der zeitgenössischen Mehrheitsmeinung entsprach, die – wie Spreitzer einleuchtend nachzeichnet – dem „schreibenden Blaustrumpf“ gegenüber kritisch eingestellt war.

Diesem Wunsch nach Produktivität, der Anna Freud seit den ausgehenden 1910er-Jahren bewegte, fasst sie selbst in ihrem Gedicht Dichter zusammen: „Selber möcht ich diese Harfe schlagen, / Selbst erproben eigner Verse Kraft, / Reißen meine Seele vom Verzagen, / Tun, was fremder Dichter Wort nicht schafft.“ Dieser Text zeigt deutlich die Programmatik der jungen Schriftstellerin: Der Wechsel von Passivität zu Aktivität, wie er sich in literarischer Schöpferkraft einerseits und in der Betätigung als Analytikerin manifestiert; nicht umsonst fallen die ersten schriftstellerischen und psychoanalytischen Gehversuche in eins. Im gleichen Gedicht verarbeitet sie auch eine der Quellen ihrer Kreativität: „mein eigen Wort nicht konnt erfassen, / Was, in Träumen kämpfend, mich bewegt.“ Träume, im Speziellen Tagträume, prägen Anna Freuds Erleben seit ihrer Kindheit und scheinen sich in ihrem künstlerischen Schaffen immer wieder niederzuschlagen. Dies geschieht im Wesentlichen in ihren Gedichten, die reifer als die fragmentarischen Prosatexte wirken, welche durchaus als Versuche beschrieben werden dürfen. Einen ähnlichen Charakter weisen die Übersetzungen auf, die sich auf Texte von Lord Byron, Rudyard Kipling und Herbert Jones beschränken, jedoch als einzige literarische Betätigungen seiner Tochter von Sigmund Freud ausdrücklich gewürdigt wurden.

Die in diesem Band versammelte Lyrik weckt unweigerlich Erinnerungen an Rilke: Die Texte kreisen um Dinge oder Momente, nutzen einen sehr gleichmäßigen Rhythmus und eine so ruhige Diktion, dass man sie als vornehm bezeichnen möchte, und sie tragen stets nur aus einem Wort bestehende Titel, die gelegentlich sogar mit Gedichten Rilkes identisch sind, so etwa Erinnerung oder Abend. Letzteres zeichnet mit großer Klarheit in den ersten Versen ein Bild (was zu Freuds dichterischen Stärken gehört), das unverkennbar Rilke zum Vorbild hat: „Des Tages Gluten atmen noch die Lande, / Die Sonne lodernd sich im Westen senkt. / Ein müder Fremdling ruht am Brunnenrande / Von dürstenden Kameelen [sic] wild umdrängt.“ Die Beziehung Anna Freuds zu Rilke war nicht nur lyrisch sehr nahe, sondern auch biografisch: Ihre enge Freundin Lou Andreas-Salomé verband eine längere Liebschaft mit Rilke.

Letztlich zeigt Anna Freuds Dichtung, dass die von der Psychoanalyse beschriebenen Prinzipien des Traums – Verdichtung, Verschiebung, Rücksicht auf Darstellbarkeit ­– selbst auch als literarische Verfahren nutzbar gemacht werden können. Dass Freud dies selbst in ihrem theoretischen Werk so nutzt, zeigt Spreitzer in ihrer herausragenden Einführung. In ihrem bedeutenden Aufsatz Schlagephantasie und Tagtraum beschreibt Freud die Niederschrift von Träumen als indirekten Lustgewinn und entwickelt dabei selbst, so Spreitzer, eine psychoanalytische Theorie der Kunst. Dass sie nicht nur bei der Theorie bleibt, sondern selbst den Weg der Niederschrift als indirekte Lust geht, ist die Grundlage für den erfreulich gut edierten Band, den Brigitte Spreitzer nun vorlegt.

Titelbild

Anna Freud: Gedichte. Prosa. Übersetzungen.
Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Brigitte Spreitzer.
Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2014.
364 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783205794974

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