Vom Madara-Reiter und dem toten Vater – oder: Wer ist der Löwe in „Blumenberg“?

Psychoanalytische Überlegungen zum Roman von Sybille Lewitscharoff

Von Evelina Jecker LambrevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evelina Jecker Lambreva

Kein Zweifel, wir sind schuldig und böse, und nur in seltenen Momenten ist unser Herz frei für die Güte. Ein ganzer Mensch zu sein, heisst schuldfähig sein. Ich bin tief davon überzeugt, dass alles Erzählen, das den Namen Literatur verdient, unsere immer neu sich anhäufende Schuld beäugen und umschleichen muss. Dass darin Erkenntnis steckt, die zwar nicht erlösen, aber Linderung verschaffen kann, Linderung im ästhetischen Vergnügen, welches sie gewährt.[1]

Der Polemik der Ich-Erzählerin erliegen in Sibylle Lewitscharoffs Roman Apostoloff Vater Christo und Bulgarien – verspottet, verachtet, verschmäht und geschändet. Der Vatermord und der Bulgarienmord in Apostoloff lassen sich als die Geschichte einer fantasierten erweiterten Tötung lesen, faszinierend inszeniert von einer zärtlich liebenden, zutiefst verletzten, zurückgelassenen Tochter. In diesem Doppelmord wird das Opfer zur Täterin, die Ohnmacht verwandelt sich in Macht, aus dem gewaltigen „mörderischen Kern des Erzählens“ heraus. So liegt er also zum zweiten Mal tot da, der kranke Vater, der so krank war, dass er sich das Leben nahm. Nun ist er durch die gnadenlose Feder einer Sprachvirtuosin wie mit einem Speer aus Sprache erstochen, entwürdigt, leblos, wie der Löwe zu Füssen des Pferdes des gloriosen Reiters von Madara[2]. „Löwentötung, das Privileg der heidnischen Herrscher“[3] hören wir die Ich-Erzählerin aus Apostoloff lästern. Und können dies sofort bestätigen, denn sie gehört ja zur Hälfte auch zu ihnen, diesen typischen, andauernd lästernden und jammernden Bulgaren. Eine Halbbulgarin ist sie selbst, die Ich-Erzählerin, ihre Grossmutter stammte aus Plovdiv, der Grossvater aus Pazardschik. Aus dem Herzen Thrakiens kommen ihre bulgarischen Vorfahren, die ihr nun zum Opfer gefallen sind.

Warum aber beginnt gerade bei der Besichtigung des Madara-Reiters die erboste Ich-Erzählerin in Apostoloff von einem gezähmten, schlummernden Löwen zu fantasieren? Warum kündigen sich gerade beim Anblick des Reiters und des erlegten Löwen erstmals der Philosoph Blumenberg und der traumhaftige Löwe an? Und aus welchem Winkel der Seele springt die Assoziation von einem gutmütigen Löwen zum toten Vater hinüber? „Blumenberg ist an seinem Löwen gewachsen. In der beständigen Nähe eines Löwen würde selbst ich mir mehr zutrauen. Sein Fellgeruch, […] der gewaltige Atem, […] sie würden mir zum Beispiel völlig andere Ideen über den Vater eingeben. Wilde und zugleich sanfte. Ein Löwe rechnet nicht ab, er rechnet überhaupt nicht. Vater? Der Löwe würde gähnen und vor Überdruss sein Haupt zur Seite fallen lassen. Strick? Der Löwe würde mal kurz mit dem Quast seines Schwanzes auf den Boden klopfen, und damit wäre das Thema ein für allemal erledigt”[4]. Wie spürbar ist aus diesen Zeilen die tiefe Sehnsucht nach einem Löwenvater, der schützend für einen da ist, der einem über das Alleinsein im menschlichen Elend hinweg hilft, der einem beisteht zu überleben im grausamen Schicksalswirbel einer Selbstmördertochter!

Der beste Vater ist der tote Vater, der Vater im Himmel, vor allem dieser, den wir als Sündenbock in der Fantasie lustvoll mit eigener Hand getötet haben. Aber das „wohl Wichtigste, das Sibylle Lewitscharoff von ihrer Exkursion in die Vorzeit zurückbringt, ist die Gewissheit, dass Angst und Schuld nicht nur die stärksten Erzählmotive waren, sondern es, wenn auch unblutig und diffizil-innerlich, noch immer sind“, sagt Gisela Wand in ihren Anmerkungen zu Sibylle Lewitscharoffs Saarbrücker Rede „Auf der Suche nach der verborgenen Schuld“. Und diese Gedanken machen uns nachdenklich und von nun an noch wachsamer, wenn wir Texte von Lewitscharoff lesen. Denn es kommt der der dringende Verdacht auf, dass „dieses Aas von einem Vater“[5] irgendwann unter der gleichen Feder, die ihn erbarmungslos ermordet hat, auferstehen wird, dass „das Opfer […] erst dämonisiert, danach vergöttlicht“[6] wird.

„[…] Nicht die Liebe vermag die Toten in Schach zu halten, denke ich, nur ein gutmütiger gepflegter Hass.“[7], so endet Apostoloff, und für die nicht weiter Interessierten scheint alles klar gesagt zu sein. Wir klappen das Buch zu und gucken ein letztes Mal auf das wunderschöne schwarzweisse Passphoto auf der Rückseite des Covers, um Abschied vom literarisch nochmals getöteten Vater zu nehmen. Dort ist eine Seite aus einem alten bulgarischen Pass abgebildet, und das wachsame Auge entdeckt unter dem Vaterporträt eine bulgarische Wappenbriefmarke aus dem Jahre 1940. Auf dieser macht sich ein winziger, gelber, kampfbereiter Löwe mit ausgestreckten Pranken breit. Reiner Zufall. Wir verabschieden uns von Apostoloff.

Doch dann taucht er wie aus dem Nichts wieder auf, dieses Mal zu später nächtlicher Stunde im Arbeitszimmer des Philosophen Blumenberg, „gross, atmend, gelb“. Und ähnlich wie der tote Vater spaziert er durch die Wand, lässt sich nieder, verhält sich diskret und schweigt. Dann verschwindet er plötzlich, um demnächst ausgerechnet an jener Vorlesung wieder zu erscheinen, in der Blumenberg das Thema von „der Trostbedürftigkeit des Menschen bei dessen gleichzeitiger Trostunfähigkeit“ behandelt. „Ein starkes Fluidum des Trostes ging von ihm aus […]. Für einen Moment sah er sich [Blumenberg] selbst als kleinen Mann und den Löwen riesengross; bequem zwischen den Tatzen des Löwen liegend hielt Blumenberg seine Vorlesung”[8], bildhafter Inbegriff einer geborgenen Vater-Kind-Beziehung. Der Löwe wird zum stillen gutmütigen Begleiter, zum Tröster, Beschützer, „Zuversichtsgenerator“, er vermittelt Vertrauen, Geborgenheit, Selbstsicherheit und erlöst sogar von Neid und Eifersucht. „Die Himmelsflucht, aus der der Löwe herabgeströmt war, um sich als täuschend echte Erscheinung zurechtzukomponieren und in natürlicher Anmutung auf dem Teppich zu dösen, war dazu da, sein, Blumenbergs, Vertrauen in die Welt, zumindest bei Nacht, zu festigen. Der Löwe beschützte ihn vor der Todesfurcht.”[9].

Der Löwe scheint alles zu verkörpern, was man sich von einem Traumvater ersehnt. Und so aufersteht er, der ermordete und nun vergöttlichte, omnipotente Vater, ruhig und beruhigend, stützend, angstauflösend, „habhaft, fellhaft, gelb“. Wer noch Bescheid weiß über ihn und „über jeden Zweifel erhaben“ ist, ist die kleine alte Nonne mit den „kohlschwarzen Knopfaugen“ und der Gartenschere in der Hand, Käthe Mehliss. Aber sind wir dieser Frau nicht schon in Apostoloff begegnet? Erinnert sie uns nicht an die bulgarische Grossmutter, „eine kinderkleine, in einen absurden wollenen Umhang gewickelte Alte“ mit „riesigen schwarzen Augen?“[10]

Große Literatur zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Leser in ständiger Unruhe hält und ihn in seinem Vorstellungsvermögen bis an die Grenzen herausfordert. Ließen wir unserer Fantasie freien Lauf und versuchten wir, die Figur der unreifen Ich-Erzählerin aus Apostoloff in Blumenberg wieder zu finden, so begegnen wir ihr in ihren verschiedenen hypothetischen Reifungsstufen, versteckt in den Personnagen der emotional instabilen Isa, dem an seinen Minderwertigkeitsgefühlen gescheiterten Richard, dem eitlen, menschenfremden und am Schluss voller Weltzorn erfüllten Hansi, der in Perfektionismus und Starrheit gefangener, verschrobenen Nonne Käthe Mehliss. Im Reifungsprozess der Ich-Erzählerin aus Apostoloff lässt die Autorin in Blumenberg alle Figuren nacheinander sterben, am Schluss selbst Blumenberg und kurz nach ihm den besonnenen, zielstrebigen, in die Arbeit geflüchteten Gerhard. Letztere beide verkörpern die reifsten Stufen der persönlichen Entwicklung. Aber die Gewalt der Vergänglichkeit schwemmt seelenlos wie ein Tsunami alles weg.

Ersetzt man im Roman überall das Wort „Löwe“ durch das Wort „Vater“, so wird man zum wahren Entdecker. Auch Blumenberg bleibt in seinem tiefsten Inneren ein Kind. Die Welt, die sich hinter den Figuren von Blumenberg und dem Löwen in ihrer alle irdischen Grenzen überschreitenden nonverbalen Interaktion verborgen hält, ist die Welt einer himmlischen, verklärten, zärtlichen Vater-Kind Beziehung. Die Annährung an den Vater erfolgt behutsam, sanft, wortlos. Auf eine „Handprobe“ wird verzichtet, bis beide im Jenseits ankommen, denn „zu grosse Nähe konnte alles zerstören”, zumindest auf Erden. Dennoch wirkt der Kontakt zum Löwenvater traumartig-traumhaft, warm, behaglich, ungezwungen, die Zweisamkeit innig und über alle Sinne hinaus fließend.

In der oneiroiden Schlussszene „Im Inneren der Höhle“ – mancher bulgarische Leser stellt sich dabei die Höhle „Teufelskehle“ in den Rhodopen vor, von der aus nach der Legende Orpheus in die Unterwelt abgestiegen ist – treffen alle Personnagen aufeinander, und wir fühlen uns von ihnen ins Jenseits mitgenommen. Die Begegnung mit Blumenberg, dem Löwen und allen abgetöteten, unterschiedlich reifen Teilen des Selbst, wirkt unheimlich und ist voller Mystik. In der Höhle taucht auch ein Rebhuhn auf, in dem sich dem Gefühl nach die Mutterfigur der Ich-Erzählerin aus Apostoloff vermuten lässt. Nun sind alle da. Um ihre Geschichten zu rekonstruieren, fehlt aber immer wieder ein vergessenes Wort, ohne das man nicht weiter kommt. Sie stolpern immer wieder über das Verdrängte, um auch im Jenseits von neuem an der menschlichen Unvollkommenheit zu scheitern. Bis Blumenberg eine Strophe Goethes in den Sinn kommt, die zum Wiederaufbruch auffordert. Und dann „königlich schollernden Klanges fuhr Blumenberg! aus dem Rachen des Löwen”[11], und es passiert die herrlichste kosmische Wiedergeburt, bezaubernd in ihrer Allgegenwärtigkeit: der Löwe schlägt Blumenberg die Pranke vor die Brust und reißt ihn in eine andere Welt.

Der Roman Blumenberg – еin zärtliches Versöhnungsangebot eines zutiefst verletzten Kindes an seinen Vater im Jenseits? Eine verhüllte Liebeserklärung an den toten Vater aus der Sehnsucht nach nicht gelebter Zweisamkeit heraus?

Es könnte so sein, aber es könnte auch ganz anders sein. So lautet ein bekanntes psychologisches Klischee. Tatsache ist aber: Der Löwe ist das Lieblingstier, mit dem sich die Bulgaren seit Urzeiten identifizieren. Er ist das beliebteste bulgarische Tiersymbol, seit Bulgarien existiert. Deshalb heißt wohl auch die bulgarische Währung „Lew“, denn „lew“ ist das altbulgarische Wort für „Löwe“.

Anmerkungen

[1] Sibylle Lewitscharoff, „Der mörderische Kern des Erzählens“, Rede zur Eröffnung des Europäischen Schriftstellerkongresses 2009, Gollenstein Verlag, 2009, S.49

[2] Der Madara-Reiter ist ein frühmittelalterliches Monumentalrelief, Teil der Hauptkultstätte des Ersten Bulgarischen Reiches. Es befindet sich auf dem Felsenplateau über Madara, in der Nähe der ersten bulgarischen Hauptstadt Pliska. An der Felswand einer ca. 100 Meter hohen Klippe ist ein Reiter im Kampf mit einem Löwen zu seinen Füssen dargestellt. Manche Theorien nehmen eine protobulgarische Herkunft des Reliefs an, andere sprechen von einem thrakischen Ursprung. (Quelle: Wikipedia)

[3] Apostoloff, S. 147

[4] Apostoloff, S. 147

[5] Apostoloff, S. 9

[6] Sibylle Lewitscharoff, „Der mörderische Kern des Erzählens“, Rede zur Eröffnung des Europäischen Schriftstellerkongresses 2009, Gollenstein Verlag, 2009, S. 33

[7] Apostoloff, S. 248

[8] Blumenberg, S. 24

[9] Blumenberg, S. 126

[10] Apostoloff, S.130

[11] Blumenberg, S. 216