Into the Wild

John Williams macht in „Butcher’s Crossing“ aus einem Western über Büffeljagd ein grandioses Epos des Scheiterns

Von Gerald FunkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerald Funk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutsche Erstübersetzung von John Williams’ Roman Butcher’s Crossing, die jetzt bei dtv als schön ausgestatteter Leinenband erschienen ist, ziert eine Banderole, auf der steht: „Vom Autor des Weltbestellers STONER“. Dies entspricht – kaum überraschend – durchaus der Wahrheit. Williams hat Butcher’s Crossing 1960, also fünf Jahre vor Stoner, publiziert. Aber wer nun, vom Werbespruch verleitet, einen ähnlich angelegten Vorläufer des Bestsellers, einen zweiten ergreifenden Intellektuellenroman von durchdringender Traurigkeit erwartet, wer die melancholische Stille und Schlichtheit der Prosa oder die diskrete Zartheit der Figurenzeichnung an Stoner geliebt hat, der könnte enttäuscht sein. Wer sich aber mit einem furiosen epischen Breitwandkino von existentieller Wucht anfreunden kann, wird ein weiteres literarisches Meisterwerk entdecken.

Der von Bernhard Robben glänzend übertragene Roman ist völlig anders als sein Nachfolger. In nahezu jeder Hinsicht. Er erzählt keine Geschichte aus der Gegenwart, sondern eine aus der Vergangenheit des 19. Jahrhunderts, genauer aus dem Jahr 1873. Selbst die Ausgangssituation ist ins Gegenteil verkehrt. Wird in Stoner ein einfacher Junge vom Lande zum Gelehrten und verfällt durch ein epiphanisches Erlebnis in einer Shakespeare-Vorlesung der Liebe zur Literatur, der letztlich einzigen Liebe seines Akademikerlebens, um die er kämpft, so geht der Protagonist aus Butcher’s Crossing den umgekehrten Weg: Er verlässt sein akademisches Umfeld und seine bürgerliche Herkunft, um im Wilden Westen seinen Traum eines freien, ungebundenen, natürlichen Daseins zu suchen; hierin deutlich inspiriert von der Mitte des 19. Jahrhunderts in Amerika (aber nicht nur dort) um sich greifenden idealistischen Naturauffassung Henry David Thoreaus und Ralph Waldo Emersons, dessen Essay Nature dem Roman übrigens auch eines der beiden vorangestellten Motti liefert.

Doch ist die Natur kein Streichelzoo für zivilisationsmüde Großstädter, in ihrem Herzen (als einem Spiegel unserer nackten, ungeschützten Existenz) nistet in Wirklichkeit der Tod und das Nichts – und die Grausamkeit, jenseits aller Moral und guten Erziehung. Das wusste Joseph Conrad, als er Colonel Kurtz am Ende von Herz der Finsternis flüstern ließ: „Das Grauen, das Grauen“. Das wusste auch John Williams, als er seinen Roman Butcher’s Crossing schrieb. Sein junger Harvard-Studienabbrecher aber, den er in das schäbige Kaff im mittleren Westen an der Grenze zum Nirgendwo schickt, weiß das nicht. Zumindest nicht zu Beginn seiner abenteuerlichen Reise durch die sonnenverbrannte Prärie von Kansas bis zu den Hochtälern der Colorado Rockies. Denn da hat er noch einen Traum. „Es ging ihm um Freiheit und das Gute“, heißt es, „um Hoffnung und eine Lebenskraft, die allem Altbekannten in seinem Leben zu unterliegen schien […]. Was er suchte, war das, was seine Welt nährte und sie erhielt, eine Welt, die sich ängstlich von ihrer Quelle abzuwenden schien, statt danach zu suchen.“

Der junge Andrews ist von seiner Idee berauscht. Er glaubt ihr in der Wildnis jenseits der Zivilisationsgrenze auf die Spur kommen zu können. Und in der Erzählung eines Jägers, den er kurz nach seiner Ankunft im schäbigen Saloon von Butcher’s Crossing trifft, erfährt er von einer sagenumwobenen riesigen Büffelherde, die in einem verborgenen Hochtal der Berge grast, während es im Flachland nur noch wenige kleine Gruppen der Tiere gibt. Die flächendeckende Jagd hat sie stark dezimiert und wird sie letztlich ausrotten. So werden – dies nur nebenbei – von den geschätzten 50 Millionen Büffeln, die es in Amerika einmal gegeben hat, um 1900 nur noch 500 Exemplare übrig sein. Aber das ahnt in Williams’ Roman noch niemand, und es würde auch keinen interessieren. Hier versprechen die Büffelfelle noch Reichtum und Profit. Und dies ist auch der Grund, warum drei der vier Abenteurer sich an der Expedition beteiligen. Dass sie scheitern, weil nach ihrer Rückkehr der Markt für Felle zusammengebrochen ist, niemand mehr Büffelfellmäntel tragen mag, dass aber auch der junge Idealist, der zum Realisten aushärtet, scheitert, damit stellt der Autor nicht zuletzt den amerikanischen Traum in Frage, dessen Fundament zwar die Unabhängigkeitserklärung von 1776 geschaffen hatte, indem sie „das Streben nach Glück“ zum unveräußerlichen Grundrecht jedes Individuums erklärte, dessen Treibstoff letztlich aber der Kapitalismus ist und bleibt.

Dass also eine Lebensbilanz am Ende durchaus glück- und erfolglos ausfallen kann, das müssen einige von Williams’ Figuren auch in diesem Roman aushalten. Der Autor erspart ihnen nichts: „Man wird geboren und mit Lügen aufgepäppelt, wird mit Lügen abgestillt und lernt in der Schule ausgefallener zu lügen. Das ganze Leben baut auf Lügen auf, und dann, womöglich wenn es ans Sterben geht, wird einem klar – dass da nichts war, nichts außer einem selbst und dem, was man hätte tun können. Nur hat man es nicht getan, weil einem die Lügen weisgemacht haben, es gäbe etwas anderes. In dem Moment begreift man, dass man die Welt hätte erobern können […], nur ist es dann zu spät. Man ist zu alt.“ Trauriger könnte das Resümee nicht sein, das eine der Figuren des Romans, der Fellhändler McDonald, unter sein Leben setzt. Doch nicht jede Bilanz sieht so trübe und bitter aus. Die vier Abenteurer haben immerhin versucht, ihren Traum, wie banal er uns Lesern auch erscheinen mag, zu leben. Dass alle Träume letztlich in der leeren Weite der Natur verpuffen, ist eine der lakonischen Wahrheiten des Buchs, das den Mythos vom Wilden Westen zugleich hinterfragt, indem es ihn ernstnimmt.

Es finden sich in Williams’ Roman zwar auch schäbige Saloons und Hotels, billigen Whisky trinkende Cowboys, sehnsuchtsvoll erwartete Eisenbahnlinien, die Prosperität und wirtschaftliches Wachstum versprechen, raubeinige Abenteurer und eine warmherzige Hure, selbst Indianer gibt es, die allerdings so harmlos sind, dass man sie nicht mehr abzuschießen braucht. Dennoch vermeidet das Buch in seiner geradezu naturalistischen Beschreibungsgenauigkeit und Detailverliebtheit nahezu jedes Klischee. Und die Geschichte von der Suche nach dem Glück irgendwo in der großen leeren Weite entwickelt eine visuelle Kraft, die kein kurzes Zitat auch nur annähernd deutlich machen könnte. Der langsame Ritt durch die staubtrockene Prärie mit wundgeriebenen Schenkeln, das Leiden der Menschen und Tiere am Wassermangel bis kurz vor dem Verdursten und später der Wintereinbruch in den Bergen, wo die vier Männer eingeschneit werden, sich im Schnee eingraben müssen, um zu überleben, zählt zum visuell Eindrucksvollsten, das ich bislang gelesen habe. Und ich habe viel gelesen. Niemand mit einem letzten Rest Einbildungskraft wird diese Szenen je vergessen. Die Genauigkeit und Präzision der Schilderung gehen soweit, dass ein amerikanischer Kritiker behauptete, man müsse ihm nur ein richtiges Messer geben und er könne nach Anleitung des Romans jedes Rind häuten. Auch wenn dies für die meisten sicher kein Grund sein dürfte, das Buch zu lesen.

Nun sind Wildwestromane – anders möglicherweise als die Filmklassiker des Genres – nicht eben gut angesehen, sie zählen, wie die Abenteuerromane, die allerdings schon einiges an wissenschaftlicher Reflexion erdulden mussten, zu den Schmuddelkindern der Literaturgeschichte. Der filmische Western hat mit Werken wie Jim Jarmuschs Dead Man, mit True Grit von den Coen-Brüdern und mit Quentin Tarantinos Django Unchained Kinogeschichte geschrieben, der Literaturwestern besteht im Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit aber noch immer aus den dünnen, auf schlechtem grauen Papier gedruckten Bastei-Lübbe Heftchen, die in Bahnhofsbuchhandlungen neben den Arztromanen in rotierenden Ständern angeboten werden. Oder aus den Heldenromanzen Karl Mays.

Wenn jemand etwas an diesem Klischee ändern kann, dann ist es John Williams mit Butcher’s Crossing. Allerdings steht zu befürchten, dass nicht jeder neue Versuch, den Western zu Literatur zu machen, das gleiche Niveau hat und so unterhaltsam sein wird. Als John Williams 1985 in einem Interview gefragt wurde, ob Literatur geschrieben werde, um Vergnügen zu bereiten, antwortete er: „Absolutely. My God, to read without joy is stupid.“ Diese Dummheit begeht man als Leser seiner Romane sicher nicht.

Titelbild

John Williams: Butcher's Crossing. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben.
dtv Verlag, München 2015.
365 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783423280495

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