Die Eskalation zum türkischen Völkermord

Rolf Hosfelds neues Buch „Tod in der Wüste“

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Aghet“, die „Katastrophe“, der Völkermord an den Armeniern durch das osmanische Regime und dessen Mittäter im Ersten Weltkrieg, jährt sich 2015/16 zum 100. Mal. Vermutlich über eine Million Menschen, mehr als die Hälfte der armenischen Bürger des Osmanischen Reiches, fielen ihm zum Opfer. Sie starben im Rahmen zahlreicher, oft unvorstellbar bestialischer Massaker und während oder nach ihrer Deportation in die syrische Wüste, einer gezielten „Umsiedlung in den Tod“. Nur wenige osmanische Beamte sperrten sich gegen die Befehle des Hauptverantwortlichen Talaat Pascha, der die Vertreibung und Vernichtung der Armenier koordinierte. Auch von Deutschland, dem Verbündeten im Weltkrieg, kam keine Hilfe, denn die Reichsregierung entschied sich mit realpolitischem Zynismus für „Waffenbrüderschaft“, gegen Brüderlichkeit und Menschenrechte. Dabei wurden viele Deutsche: Konsuln, Diplomaten, Soldaten, Lehrer, Missionare, zu Augenzeugen der Brutalitäten, mahnten, protestierten oder setzten sich für die Opfer ein. Die meisten Deutschen aber wandten sich verlegen ab, und manche von ihnen begrüßten, ja unterstützten die Ausrottung sogar.

So fasst der schweizerische Historiker Hans-Lukas Kieser dieses Geschehen in einem unübertrefflich knappen und prägnanten Aufsatz zusammen, der 2014 als Einleitung zu der verdienstvollen Anthologie Wege ohne Heimkehr von Corry Guttstadt erschienen ist. Von einem deutschen oder österreichischen Historiker aber gibt es bisher keine Gesamtdarstellung dieses Genozids, an dem der deutsche und der österreichische Staat eine qualifizierte Mitverantwortung hatten. Auch infolge dieser merkwürdigen Abstinenz hat für ein interessiertes Lesepublikum lange eine Informationslücke geklafft. Diese füllt nun dankenswerter Weise das Buch Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern von Rolf Hosfeld, einem erfahrenen Biografen und Wissenschaftsjournalisten, der zugleich Leiter des Lepsiushauses in Potsdam ist.

Der Pfarrer Johannes Lepsius, damals einer der Hauptzeugen und aktivsten Helfer, ist entsprechend in dem Buch eine der Hauptfiguren – neben anderen Zeugen: dem amerikanischen Botschafter Morgenthau und dem deutschen Botschafter Wangenheim, dem Schweizer Missionssanitäter Jakob Künzler, dem deutschen Konsul Rößler, dem Sanitätssoldaten und Schriftsteller Armin T. Wegner, und natürlich neben den Verantwortlichen für den Völkermord: Talaat, Enver und Djemal Pascha, Schakir, Nazim, Djevdet, Reschid Bey. Hosfeld hat jetzt sein vor zehn Jahren publiziertes Buch Operation Nemesis, das bereits dem gleichen Thema gewidmet war, gewissermaßen neu geschrieben. Dabei hat er den aktuellen, inzwischen erheblich differenzierten internationalen Forschungsstand, an der Spitze das monumentale Werk von Raymond Kévorkian Le Génocide des Arméniens (2006, engl. Übers. 2012), umsichtig auf- und eingearbeitet.

Das Buch leistet auf annähernd 300 Seiten, von denen fast 50 die Quellen und Fachliteratur nachweisen, eine Gesamtdarstellung dieses „Genozids vor dem Genozid“ in zehn chronologisch gereihten Kapiteln. Jedes von ihnen mäandert zwischen exemplarischer Präsentation von Stimmen der Zeitzeugen sowie von regionalen Fallbeispielen einerseits, orientierender, deutender, verallgemeinernder Kommentierung andererseits, nicht ohne Rück- und Vorgriffe je nach Thema und Aspekt. Das macht die Lektüre zwar lebendig und reichhaltig, aber oft ist es nicht ganz leicht, den roten, um nicht zu sagen: blutroten Faden der Erzählung von eigentlich Unerzählbarem festzuhalten, die Hosfeld mit stoischer Nüchternheit vorträgt.

Immerhin bietet das erste Kapitel eine Exposition, und zwar wünschenswert klar: Was Aghet genannt wird, ist zwar ein hochkomplexes und quellenmäßig schwierig zu belegendes Geschehen, bei dem sich verschiedene Prozesse teilweise recht chaotisch überlagern. Aber all das hatte einen einheitlichen ideologischen Hintergrund: das modernistische Programm des social engineering im Sinne von gewaltsamer ethnisch-religiöser Homogenisierung. Für dessen Ausführung bot der Krieg unerwartete Chancen, die von dem Jungtürken-Regime bald zielstrebig, bald chaotisch, aber immer infernalisch skrupellos ergriffen wurden. Die Eskalation, Radikalisierung und Brutalisierung der Maßnahmen mündete, geplant oder nicht geplant, in einen Völkermord.

Die Kapitelfolge des Buches malt dieses Gesamtbild (1) Schritt für Schritt aus. Zunächst wird in drei Kapiteln die Vorgeschichte so rekapituliert, wie es für das dann Folgende nötig ist: die bereits unvorstellbar barbarischen Armenier-Massaker unter Sultan Abdülhamid II. und ihr Kontext (2), Aufstieg und Wandel der „Jungtürken“ von einer zunächst demokratisch-liberalen, dann immer mehr konservativ-revolutionären politischen Partei namens İttihad ve Terakki (Comité Union et Progrès, CUP) (3), Machtergreifung und konspirativ-diktatorischer Machtausbau bis 1914 (4). In den fünf Hauptkapiteln seines Buches stellt Hosfeld dann die Formen und Phasen der massenhaften Deportation und Vernichtung dar: Radikalisierung der Verfolgung mit Kriegseintritt und -verlauf, Entwaffnung und Ermordung armenischer Soldaten in Arbeitsbataillonen (5); Umbildung und Einsatz der Mordeinheiten Teşkilat-ı Mahsusa (TM), Massaker vor allem in den armenischen Städten und Siedlungsgebieten, begleitet von Folter, Vergewaltigung, Beraubung, Zwangskonversion der Überlebenden zum Islam, „Türkisierung“ der enteigneten armenischen Vermögen, ‚Bestrafung‘ der als rebellisch geltenden Armenier der Bergstadt Zeytun, Festlegung der mesopotamischen Wüste als Ziel der „Verschickung“ (sevkiyat) und ultimativer Vernichtungsraum, Verdichtung der zunächst heterogenen Aktionen zu einem umfassenden Vorhaben der „Entarmenisierung“, propagandistische Ausschlachtung des Kriegsdesasters von Sarıkamış und des zeitweiligen armenischen Widerstands in der Stadt Van, in Istanbul die blitzschlagartige Verhaftung und Ermordung der politischen, intellektuellen und wirtschaftlichen armenischen Elite nach vorbereiteten Listen (6); Panorama des Grauens von Massakern und Deportationen mit den besonders grauenhaften Schlachtorgien des eigenwilligen Gouverneurs und Exterminators von Diyarbakır (7); Einleitung einer „zweiten Phase“ des Völkermords mit unmenschlichen Deportations- und Lagerverhältnissen – exemplarisch dargestellt am Bericht der Überlebenden Pailadzo Captanian (8); Steigerung zu „Endlösungen“ für mehrere Hunderttausende von in den syrischen Lagern dahinvegetierenden Menschen, namentlich in Deir ez-Zor, bis Ende 1916 (9).

Das abschließende Kapitel (10) bildet einen Epilog. Es berichtet noch über die Flucht führender CUP-Mitglieder bei Kriegsende, Prozesse in Istanbul 1919/20 gegen die Verantwortlichen, ihre baldige Abwürgung durch den von Mustafa Kemal geleiteten Widerstandskampf. In dessen Rahmen kam es ab 1920 erneut zu Tötung von ca. 50.000 Armeniern in Kilikien und im Kaukasusgebiet. Eine damit drohende „dritte Phase“ des Genozids wurde – so Kévorkians Einschätzung – nur dadurch abgewendet, dass die Armenier sich den Bolschewiken in die Hände gaben. Das Buch endet mit dem Prozess von 1921 gegen den armenischen Attentäter, der Talaat in Berlin erschossen hatte, und mit Hinweisen auf den jungen Prozessbeobachter Robert M. W. Kempner, den späteren Ankläger im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, und auf Raphael Lemkin, den unter anderem jener Prozess von 1921 dazu anregte, die UNO-Resolution von 1948 zur Verhütung und Bestrafung von Genozid rechtlich zu fundieren.

Hosfeld vermittelt den Forschungsstand gewissenhaft, umsichtig und mit der klaren Einschätzung, die von der großen Mehrheit der kompetentesten Forscher geteilt wird, dass es sich bei dem dargestellten Geschehen unzweifelhaft um einen Völkermord handelt. Diesen Begriff vermeidet heute nur, wem der Deal mit dem türkischen Staat wichtiger ist als die Wahrheit oder aber wem der Begriff sogar noch zu harmlos ist: So urteilt Hilmar Kaiser in seinem – von Hosfeld nicht ausgewerteten – umfangreichen Buch The Extermination of Armenians in the Diyarbakır Region (Istanbul 2014): Was dort geschah, übertraf sogar noch Genozid, es war „full ‚extermination‘“. 

Als Vermittler des historischen Wissens an ein Laienpublikum verzichtet der Autor darauf, die sehr berechtigte, aber zunächst vielleicht als spitzfindig missverstehbare Frage zu erörtern, die schon in Hinblick auf die Shoah diskutiert worden ist: Stößt Historiografie bei solch einem Gegenstand nicht an Grenzen – angesichts der Spurenverwischung seitens der Verantwortlichen und ihrer Nachfolger und angesichts eines in der Türkei immer noch, wenn auch längst nicht mehr absolut dominierenden Leugnungsdiskurses mit seinen bizarren Auswüchsen? (So fragt Marc Nichanian in seinem Buch La Perversion Historiographique,2006, engl. Übers. The historiographic perversion, 2009). Sorgfältig hört Hosfeld dagegen auf Forschungsstimmen, die heute davon abgerückt sind, eine Genozid-Intention, einen Vernichtungsplan von Anfang an, zu behaupten. Er geht mit ihnen vielmehr davon aus, dass es sich, bei klarer und konstanter Zielsetzung von social engineering als ethnic cleansing, dennoch eher um einen Prozess der kumulativen Radikalisierung in einer Dialektik von Plan und Prozess, Intention und Kontingenz gehandelt habe. Anders ausgedrückt: Die CUP-Gruppe ahnte selber nicht, wie erfolgreich sie am Ende ihr Wunschziel erreichen sollte. (Allerdings gehört zu dieser Dialektik auch armenischer Widerstand, dem im Rahmen der Kämpfe an der russischen Front etwa 50.000 muslimische Menschen zum Opfer fielen.)

Ebenso sorgfältig beachtet Hosfeld einen anderen Forschungsaspekt, den Christian Gerlach, Uğur Ü. Üngör und andere untersucht haben: die ökonomische Funktion der Armenier-Vernichtung. Ihre hemmungslose Beraubung und Enteignung diente mittelbar auch dem Aufbau einer türkischen Bourgeoisie, die dann tatsächlich zu einer Säule des neuen türkischen Staates wurde. In ihm erhielten übrigens, infolge der personellen und ideologischen Kontinuität von Jungtürken und Kemalisten, die Erik J. Zürcher und andere Forscher herausgearbeitet haben, eine ganze Reihe der Genozid-Mittäter hohe und höchste Ämter. (Das wird in Operation Nemesis erwähnt, ist jedoch, wie einiges weniger Wichtige, in der Neubearbeitung gestrichen.) Wenn man bedenkt, wie viele Nachkommen der von diesem Raub Profitierenden in der heutigen Türkei leben, erklärt sich der dort herrschende Leugnungsdiskurs sehr viel handfester als nur mit zähem Glauben an nationalstaatliche Gründungsmythen. Am Vermögen eines Teils der türkischen Oberschicht dürfte das Blut von 1915/16 kleben. Damit das aus den Archiven nicht zum Vorschein kommt oder gar international verhandelt wird, streitet man einfach den ganzen Genozid ab und lebt weiter mit der kollektiven nationalen Lüge.

Weniger scharf beleuchtet Hosfeld ein anderes Problemfeld: Einerseits betont er nicht zu Unrecht eine gewisse „Modernität“ der Jungtürken, ihrer Politik und Ideologie; andererseits sieht er, gleichfalls zu Recht, in ihrem Genozid nur den Höhe- und Endpunkt einer längeren antiarmenischen Gewaltepoche. Den Opfern wird es ohnehin egal gewesen sein, ob sie, wie von dem „blutigen“ Sultan, aus islamistischer, oder, wie vom CUP, aus türkistischer Ideologie ermordet wurden. Wenn religiöse Autoritäten nach Kriegseintritt den Dschihad ausriefen – nicht erst auf deutsche Anregung, wie Hosfeld mit Mustafa Aksakal bisherige Forschungsmeinungen korrigiert – und wenn muslimische Prediger wie zu Abdülhamids auch zu Talaats Zeit die sunnitischen Massen zu Gewalt und Mord an Minderheiten anstachelten, so wirft das ein Licht auf kontinuierliche, vormoderne und moderne Komplizenschaft von Religion mit Herrschaft, die nur durch eine andere Moderne, durch international vereinte Bewegungen für Aufklärung, Menschenrechte, Demokratisierung, soziale Gerechtigkeit und Kriegsächtung nachhaltig bekämpft werden kann.

Geschichtswissenschaft ist zu oft wenn nicht Sieger- so doch Täter-Historiografie – bis zu einer „Einfühlung in die Täter“, als die ein demnächst erscheinendes Werk von Ronald G. Suny missverstanden werden könnte, das die „affective disposition“ der jungtürkischen Täter analysiert. Wo aber bleiben die Opfer? Rolf Hosfeld hat sich als Erzähler immerhin redlich bemüht, den Opfern – auch den Widerstehenden, Anteil Nehmenden, Helfern – ebenso Aufmerksamkeit zu widmen wie den Tätern – ein Prinzip, das in der Aghet-Forschung Kévorkian gegenüber Vahakn Dadrian mit Recht geltend gemacht hat. Im Rahmen eines kompakten Überblicks, wie Hosfeld ihn bietet, kann dieses Prinzip natürlich immer nur in Ansätzen verwirklicht werden. Aber diese genügen, um neben der sachlichen Information auch Empathie, Trauer, ja ratlose Erschütterung zum Zuge kommen zu lassen. Sie ergriff den Verfasser dieser Besprechung, obwohl er schon viel Aghet-Literatur gelesen hatte, als er bei Hosfeld zum Beispiel las, dass man, in der Endphase des Genozids, einmal rund 2.000 (!) armenische Waisenkinder fesselte und dann mit Kerosin lebendig verbrannte.

Titelbild

Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste. Der Völkermord in der Wüste.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
288 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783406674518

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