Raum jenseits der Kultur

Claudia Gremler und Uwe Schütte versammeln erste Erkundungen des Werks von Klaus Böldl

Von Kay WolfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Wolfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Werk des 1964 geborenen, zunächst in München lehrenden und nun einen Lehrstuhl in Kiel bekleidenden nordischen Mediävisten Klaus Böldl ist eine Entdeckung. Es ist in Anbetracht seiner Schönheit und seines Umfangs seitens der germanistischen Forschung noch nahezu unerschlossen. Wirkliche Pionierarbeit leistet daher ein von Uwe Schütte und Claudia Gremler herausgegebener Sammelband, der auf eine akademische Konferenz zu Böldls Werk zurückgeht, die im Oktober 2013 an der Aston University in Birmingham stattfand. Dabei wird konstatiert, dass Klaus Böldl „ein ungewöhnlicher Autor [ist] – jemand, der nicht in das Zentrum des Literaturbetriebs drängt, sondern sich durchaus bewusst an der Peripherie positioniert“, um doch die Besonderheit seiner bisher fünf literarischen Publikationen hervorzuheben: der mysteriöse Grönlandroman Studie in Kristallbildung (1997), die Erzählung Südlich von Abisko (2000), die Reisestudie Die fernen Inseln (2003), das Werk über Böldls Heimatstadt Passau, Drei Flüsse (2006), und der dunkle Roman über das Scheitern Der nächtliche Lehrer (2010). Klaus Böldl vermochte es, über mehrere Jahre ein literarisches Werk vorzulegen, bei dem seine eigentliche Botschaft zwischen die Zeilen gewoben ist, und man kann sich in seinen schmalen Büchern, die umso mehr das langsame und genaue Lesen anregen, in der Spurensuche üben.

Sehr interessant im vorliegenden Sammelband ist zunächst Heinrich Deterings Aufsatz über Böldls sujetloses Erzählen. Dieser stellt in Bezug auf Böldls Narrationen zunächst fest: „Es geschieht vieles, aber es ereignet sich nicht“, und führt im Folgenden anschaulich in das Phänomen der „Entzeitlichung“ ein, eines der Erzählziele der Sujetlosigkeit. Detering weist zudem auf Parallelen zu Stifter hin, einem der erklärten Lieblingsautoren Böldls. Die sich an dessen sujetlosem Erzählen entzündende Begeisterung bringt Detering auf den Punkt: „Die erste lange Erzählung, die jedenfalls in meinem Lese-Erleben das von Stifter und Lehmann [gemeint ist Wilhelm Lehmanns Bukolisches Tagebuch] gegebene Versprechen vollkommen einlöste, erschien im Jahr 2003, hieß Die fernen Inseln und erzählte von Landschaften am Polarkreis so, als seien es epische Gegenstände.“

Auch die folgenden Aufsätze, von denen wir nur einige stichprobenartig beleuchten, bringen bedeutsame Aspekte in Böldls Werk ans Licht. Unter anderem analysiert Debora Helmer den Skandinavienmythos in den Texten, und Claudia Gremler untersucht Grenzüberschreitungen in den Werken von Klaus Böldl und der Autorin Antje Rávic Strubel. Niels Penkes Aufsatz Die fernen Inseln im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur untersucht anschaulich die Flucht- und Suchbewegung innerhalb der deutschen Reiseliteratur und stellt fest, dass fast alle Bücher Böldls im Kern Reisebeschreibungen seien (der Roman Der nächtliche Lehrer werde unter diesem Aspekt geradezu zu einem nordländischen Walden Pond). Yvonne Delhey widmet sich Böldls Spaziergangsfigurationen und bemerkt hochinteressante Verbindungslinien zu W. G. Sebald. Und Uwe Schütte schließlich widmet sich in seiner Studie Alles fließt Böldls Passau-Poetologisierung und deren Geschichtspessimismus, wie man ihn wiederum auch im Werk W. G. Sebalds finden kann: „Der Mensch, dessen Artengeschichte ja unbedeutend erscheint im Kontrast zur nachgerade unvorstellbar langen Entstehungsgeschichte unseres Planeten, erweist sich bei Böldl als sozusagen letztes Kapitel einer Naturgeschichte, die am Ende auch – gut und gerne wenn nicht gar besser – ohne ihn auskommen wird.“

Ein Bericht von Jean Darvill und Simone Schroth über Erfahrungen, einen Auszug aus Böldls Roman Der nächtliche Lehrer ins Englische zu übersetzen, rundet den Band ebenso ab wie ein für die weitere Forschung sehr ergiebiges Gespräch, das Heinrich Detering mit Klaus Böldl über Landschaften, Mythen, Wissenschaft und Literatur führte. Die Forschung zu Böldls Texten hat gerade erst begonnen und konnte nur in Ansätzen andeuten, wie lohnend eine Lektüre dieser Erzählwerke ist, wie augenöffnend diese Reflexionen über das Erzählen, verquickt mit der klaren und unheimlichen skandinavischen Landschaft.

Klaus Böldl schreibt in seinem in diesem Forschungsband abgedruckten Aufsatz Am Schwanenfjord, oder Über die Notwendigkeit, Landschaften zur Sprache zu bringen über die mit der Vermassung des Menschen einhergehenden Bedrohung bisher unantastbarer Refugien: „Besondere Plätze, heilige Orte, Stätten der Erinnerung wird es dann kaum mehr geben, und vielleicht wird damit auch das Zeitalter des Erzählens zu Ende gegangen sein.“ In Böldls Texten dagegen scheint dies alles gerettet zu werden; sie sind Ausdruck des erzählerischen Versuchs über das Numinose.

Seiner traurigen Melancholie aber ist nur beizupflichten, so heißt es in Die fernen Inseln: „Doch was das alte, in einsamer Majestät dastehende Haus am Südstrand angeht, so habe ich nie in Erfahrung bringen können, ob es nun tatsächlich von Menschen einer versunkenen Welt bewohnt wird […] oder gar von traurig im einundzwanzigsten Jahrhundert verlorenen Wiedergängern – oder ob sich vielleicht eine ganz dem Diesseits verhaftete studentische Wohngemeinschaft dort eingenistet hat“. Diese ambivalenten Zeichen in Kultur und Natur sind mehr als eine Verheißung, die wir aus diesem Werk schöpfen dürfen. In Böldls Bücher verbergen sich magische Sagen, in denen Natur und Kultur in Einklang gebracht zu sein scheinen. Vielleicht ist der Raum jenseits der Kultur, wie man manchmal mutmaßen darf, dennoch ein Ort, von dem aus uns Rettung zukommen wird, erzählerisch fassbar gemacht in der Prosa dieses Kieler Skandinavisten.

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Uwe Schütte / Claudia Gremler (Hg.): Raumerkundungen. Der Erzähler Klaus Böldl.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2014.
243 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826053849

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