„Wie auf’s Äußerste gedichtet etwas herauszukriegen wäre“

Liedtexte von „Blumfeld“ sowie „Retrogott und Hulk Hodn“ im Vergleich

Von Nils DemetryRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Demetry

Haftbefehl, Offenbacher Gangster-Rapper kurdischer Herkunft, schafft es mit seinem Album Russisch Roulette ins Feuilleton und wird dort frenetisch gefeiert („Der Künstler taufte sich auf den Namen des Dokuments, das ihn juristisch als Problemfall klassifizierte. Foucault hätte gejuchzt.“); mit 105 Mio. Streams ist Genre-Nachbar Kollegah aus Düsseldorf der am häufigsten gestreamte deutsche Musiker auf der Plattform Spotify: 2014 war nun wirklich kein schlechtes Jahr für deutschen ‚Hip-Hop‘. Und noch etwas anderes ist passiert: „Ob Sookee, Antilopengang, Kobito, Tapete oder Tick Tick Boom. Das Jahr 2014 hat uns auch zahlreiche Rapalben aus der linken Szene beschert.“ So sah es zumindest das Fachmagazin Juice. Seither geht ein neues Gespenst um in Musik-Deutschland (obendrein eines, mit dem sich weiterhin prima viele Schallplatten verkaufen lassen): Die Rede ist vom ‚linken Rap‘. Kaum eine Musikzeitschrift, die derzeit ohne Aufmacher („Rap von links“, Musikexpress) zur Antilopengang oder zu Zugezogen Maskulin auskommt und auch die akademische Welt entdeckt das Thema ‚Rap und Politik‘ derzeit (neu): An der Uni Bielefeld wurde noch im Dezember über „Politische[n] Rap – Zwischen Rebellion und Warenform“ debattiert, für nächstes Jahr ist der Sammelband „Rap und Zeitdiagnose“ (Hg.: Marc Dietrich) geplant.

Dabei muss man gar nicht Diedrich Diederichsen mitsamt seinem sehr weiten Begriff von Pop bemühen, um zu konstatieren, dass die Frage nach ‚linkem‘ bzw. ‚politischem Rap‘ gleichzeitig eine Frage nach einem ebenso geprägten Pop und keineswegs neu ist. Und zwischen den Textwelten der Pop-Linken der Neunziger und der des linken Raps lassen sich, so die These dieses Essays, thematische bzw. diskursive Kontinuitäten feststellen. Möglicherweise hat der ‚linke Rap‘ inzwischen sogar das Feld übernommen, das die „klassische“ deutsche Poplinke irgendwann (aus welchen Gründen auch immer) nicht mehr bedienen konnte oder wollte – auf den obskuren Eskapismus, in den sich beispielsweise Tocotronic inzwischen verabschiedet haben, sei hier nur am Rande verwiesen, ohne diese provokative These zu entfalten.

Um zumindest einmal die oben angedeuteten Kontinuitäten aufzuzeigen, sollen exemplarische Liedtexte zweier – auf den ersten Blick sehr unterschiedlicher sowie nicht vollumfänglich repräsentativer – Bands auf Körper- bzw. Machtdiskurse und hin untersucht und verglichen werden: zum einen die der Hamburger Band Blumfeld um den Sänger Jochen Distelmeyer, die von 1990 bis zu ihrer Auflösung im Jahr 2007 insgesamt sechs Studioalben veröffentlichte, und zum anderen die des seit 2005 aktiven Kölner Rapduos Retrogott und Hulk Hodn, das man durchaus dem ‚linken Rap‘ zurechnen darf. Gleichzeitig wird bewusst außer Acht gelassen, dass „politische Inhalte in deutschsprachiger Rapmusik nicht nur implizit , sondern – etwa durch Gruppen wie Advanced Chemistry, Anarchist Academy oder im Rahmen des HipHop-Partisan-Netzwerks – auch explizit und programmatisch bereits seit spätestens Anfang der 1990er Jahre von Bedeutung waren.“ (Martin Seeliger – Deutschsprachiger Rap und Politik, in: Pop-Zeitschrift [17.02.2015]).

Die beiden Bands stehen jeweils für sehr unterschiedliche Zeit- und Jugendkulturkontexte: Blumfeld war vor allen Dingen in den neunziger Jahren eine der wichtigsten deutschsprachigen Bands für die ‚Pop-Linke‘ und lassen sich dem – mittlerweile in die Jahre gekommenen – Genre ‚Indie-Rock‘ zuordnen, Retrogott und Hulk Hodn bedienen erst seit einigen Jahren ein sehr ausgesuchtes Publikum und inszenieren sich selber als ‚Underground‘-Rapkünstler. Durch diese Unterschiedlichkeit ergibt sich eine interessante Spannung. Mithilfe dieses Vergleichs soll gezeigt werden, dass ‚Rap‘ mit einiger Berechtigung als eigenständige und relevante Kunstform ernst genommen wird und werden muss und dass das Genre im gesellschaftspolitischen Diskurs durchaus eine Rolle spielen kann.

Weitermachen, als ob nichts gewesen wäre

Bekanntheit und Status der Band Blumfeld als „Klassiker des deutschen Pop“ verdanken sich in erster Linie ihren ersten beiden Alben. Der Musikexpress beschrieb es anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums des Albums L‘état et moi einmal so:

Die Grenzen zwischen privaten Befindlichkeiten und Politik verschwammen dabei. Diese Form war neu, denn Deutschpop 1992, das war ein Elend. Erfolg hatten Typen wie Matthias Reim, als intellektuell galten Platten wie Brille, das neunte Studioalbum von Heinz Rudolf Kunze. Neue Entwicklungen fanden allenfalls in der Elektronik statt, am frisch vereinigten Deutschland arbeitete sich kaum jemand ab.

Blumfeld veröffentlichten1994 L‘état et moi und bereits der Titel des Albums betonte explizit sowohl die thematischen Schwerpunkte (das Ich im Verhältnis zum Staat, zur Gesellschaft, zum [wiedervereinigten] Deutschland) als auch das bewusste Offenlassen von Interpretationsspielräumen (aus der Typographie des Albumcovers wird beispielsweise nicht deutlich, ob „l‘État“, der Staat, oder „l‘etat“, der Zustand, gemeint ist).

Stellvertretend für viele andere mögliche Liedtexte lässt sich anhand des Textes zu Sing, Sing (1994) deutlich machen, welche Diskurse sich – verdichtet, intertextuell und anspielungsreich – in den Liedtexten der Band wiederfinden lassen. Die dritte Strophe des Liedes lautet:

Der Staat im Staat in der ersten Person / Papi, kennst Du den schon / Stammheim Babel / ich wollte meinen eignen Nabel / mir einen Namen machen, Namen geben / nicht in Staaten, nicht in Vollzugsanstalten leben / und baute statt Staat einen Turm / Sohn meiner Eltern und dagegen / etwas ging schief / Hochstaplerkarriere auf der Lauer / der Turm fiel um und wurde Mauer / wurde Sprachbarriere / ich mache weiter als ob nichts gewesen wäre / Sing Sing.

Bereits die erste Zeile spielt relativ deutlich auf das Wissen um den „Gesellschaftskörper“ in der Diskurstheorie Michael Foucaults an: die Gesellschaft als Körper auf der einen Seite, der individuelle Körper als von der Gesellschaft bestimmt auf der anderen. Die nächste Zeile, „Papi kennst du den schon“, ironisiert das vorangegangene wissenschaftlich-akademische Register nicht nur, denn gleichzeitig verweist die vertrauliche Anrede „Papi“ auf die Figur des „Vaters Staat“, beziehungsweise das Patriarchat. Von hier aus wird das Motiv des „Staates als Vater“ nebst „Vaterkonflikt“ unter Rückgriff auf – zumindest in den neunziger Jahren noch recht präsente – deutsche Zeitgeschichte weiter entfaltet: „Stammheim Babel“. Die Justizvollzugsanstalt Stuttgart, im Stadtteil Stammheim gelegen, spielte insbesondere im RAF-Prozess eine prominente Rolle, da bekanntermaßen 1976 und 1977 insgesamt vier führende Mitglieder der Roten Armee Fraktion in diesem Gefängnis ums Leben kamen. Die RAF-Mitglieder opponierten gegen den als System bezeichneten Staatsapparat Westdeutschlands und dessen vermeintlich faschistoide Tendenzen – im übertragenen Sinne handelt es sich also auch hier um einen Generationenkonflikt, der nun mit der alttestamentarischen Erzählung des Turmbaus zu Babel und der damit verbundenen babylonischen Sprachverwirrung verknüpft wird und dem nicht von ungefähr ein Akt der (jugendlichen) Hybris vorausgeht (vgl. Blumfeld – L‘état et moi [Mein Vorgehen in 4,5 Sätzen]: „Sich selbst im Schönen, im Unendlichen zu heilen / das ist der wahnsinnige Akt meiner Revolte.“)

Die Sprachverwirrung bezieht sich nun aber vor allem auf das Verhältnis zwischen den Generationen auf der einen sowie das Verhältnis des Körpers zur Gesellschaft auf der anderen Seite: Der „Deutsche Herbst“ wird bei Blumfeld zum Mythos des inzwischen wiedervereinigten Deutschland, der Konflikt liefert den Hintergrund für die Sprachverwirrung und die Unmöglichkeit zu kommunizieren. Die Parallelisierung von „Staaten“ und „Vollzugsanstalten“ ist wieder ein deutlicher Verweis auf Foucault, der Turmbau als Akt der Hybris wird dem Modell des ordnungsgemäßen Lebens im modernen Verwaltungsstaat entgegengesetzt und als Möglichkeit der Selbstverwirklichung und Emanzipation von den eigenen Eltern bzw. dem Althergebrachten begriffen.

Die Pointe liegt in den letzten beiden Zeilen: Das Ich entscheidet sich nun trotz der vorangegangenen Katastrophe dafür, weiter „so zu tun“, als sei nichts passiert: Dies bezieht sich einerseits auf die biographische Ebene des Ichs, in dem es seinen Weg der vermeintlichen Emanzipation – unter Verdrängung der vorangegangenen Ereignisse – weitergeht; zum anderen lässt sich diese Stelle auch zeitgeschichtlich lesen: der Mauerfall lag damals erst vier, die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen lagen zwei Jahre zurück und Blumfeld waren – auch außerhalb ihres musikalischen Schaffens – eine der wenigen deutschsprachigen Bands, die einem wiedervereinigten und damit wiedererstarkten Deutschland sehr früh schon skeptisch gegenüberstanden.

So bezieht sich die fragwürdige Strategie des Weitermachens, „als ob nichts gewesen wäre“, natürlich auch auf die historische Verantwortung der Deutschen und die Frage, inwieweit diese im allgemeinen Jubel um die Wiedervereinigung möglicherweise ausgeblendet wurde; darüber hinaus war es jene Strategie des Weitermachens und der Verdrängung der deutschen Schuld gewesen, die die unmittelbare Nachkriegsphase in der deutschen Gesellschaft bestimmte (und gegen die sich der Protest der Studentenbewegung auch richtete); selbst 21 Jahre nach Erscheinen des Albums ist die Diskussion um einen wiederentdeckten „deutschen Nationalstolz“ und die „Schlussstrichmentalität“ aktuell wie eh und je. Vor diesem Hintergrund wirkt die letzte Zeile „Sing, sing“ (das gleichzeitig der umgangssprachliche Name für ein bereits Anfang des 19. Jahrhunderts eröffnetes Hochsicherheitsgefängnis vor New York ist) in ihrer Doppeldeutigkeit noch abgründiger.

Körperbilder und Machtdiskurse mit Bezug auf das wiedervereinigte Deutschland finden sich auch in Jochen Distelmeyers Prosagedicht L‘état et moi (Mein Vorgehen in 4,5 Sätzen), das es, eingesprochen vom Sänger, auch auf die Tracklist von L‘état et moi schaffte (und das es sich anzuhören lohnt). Die Zeilen „Aus diesem Grund und einem Keller voller Leichen / zieht es Deutschland nach Europa“ setzen den Staat (Deutschland) in Bezug zum „toten Körper“ (zu den Leichen) und erklären ihn gleichzeitig zum Opfer seines eigenen Leidens: „Deiner Ordnung, Fehlberechnung, Bildungslücke / entspringt dein Gott, in deinem Fall: Die Barbarei“. Den Mauerfall und die Wiedervereinigung auch psychopathologisch zu begreifen, das war eine der vielen Verdienste der Band auf L‘état et moi. Die Gesellschaft bzw. der Staat operiert (und leidet) hier wieder im Ganzen als Körper und Foucault hätte – wie schon bei Haftbefehl – seine helle Freude daran gehabt.

Es lohnt sich festzuhalten, dass Foucaults Diskurstheorie und die Vorstellung des Gesellschaftskörpers in den vorgestellten Textauszügen nicht nur en passant und implizit thematisiert werden: Vielmehr zeigt sich bei einer genauen Analyse des Textes, dass die Diskurstheorie selbst zum poetologischen Programm gemacht wird, dass hier nicht nur „private Befindlichkeiten und Politik“ verschwimmen, sondern eine ergiebige Interpretation der Liedtexte (selbst bei Außerachtlassung der nicht-sprachlichen, musikalischen Ebene) – fast möchte man sagen – „lediglich“ mithilfe der Diskurstheorie nach Foucault möglich ist. Die Frage, „[w]ie auf’s Äußerste gedichtet etwas herauszukriegen wäre“ (Blumfeld – L‘état et moi [Mein Vorgehen in 4,5 Sätzen]), sie ist programmatisch für das Frühwerk der Band.

Der Urlaub war so schön

Auf der Wikipedia-Seite des Kölner Rap-Duos Retrogott und Hulk Hodn erfährt man, dass die beiden textlich dem ‚Battle-Rap‘ zugeordnet werden, also dem Rap-Genre, in dem es vornehmlich darum geht, das fiktive oder reale Gegenüber zu diffamieren und das Ich gleichzeitig übertrieben positiv darzustellen. Zwar mag dies für einen gewissen Teil der Lieder zutreffen; insbesondere aber die letzten Veröffentlichungen zeigen m. E. sehr deutlich, dass der sogenannte ‚Battle-Rap‘ nicht mehr so viel Platz im Werk der Band einnimmt, so dass sich eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk lohnen kann und durchaus textliche respektive diskursive Verbindungen zu Blumfeld gezogen werden können.

Entgegen vielen modernen Erscheinungsformen von ‚Rap-Musik‘ (vgl. Haftbefehl oder Kollegah) orientieren sich Retrogott und Hulk Hodn vornehmlich am amerikanischen Hip-Hop der achtziger und neunziger Jahre und samplen für ihre Beats sehr häufig alte Jazz-, Bossa Nova-, Funk- und Soulplatten. Sampling bedeutet – kurz gesagt – die Herstellung von Musik aus den Bruchstücken anderer Musik und ist seit den Achtzigern zu einem alltäglichen Bestandteil unserer Hörerfahrung geworden. Gleichzeitig bietet dies auch eine formale Parallele zur Textwelt von Blumfeld, wenn man der Interpretation des Samplings als eines „Gewebe[s] aus geloopten Momenten“ bzw. herausgeschnittenen Momenten „lebendiger Zeit“ folgt (Simon Reynolds: Retromania), die ihrerseits auf weit entfernte Orte und Zeiten verweisen. Anders gesagt: Der intertextuelle Anspielungsreichtum Blumfelds findet hier seine Entsprechung auf musikalischer Ebene. Interessanterweise orientierte sich wiederum Jochen Distelmeyer während der Arbeit an den ersten beiden Alben an amerikanischen Hip-Hop-Künstlern wie Run DMC und Public Enemy, was zu dieser Zeit in Deutschland eher unüblich war.

Um thematisch an Sing, Sing anzuknüpfen, lohnt es sich, den Text von Der Urlaub war so schön vom Album Der Stoff, aus dem die Regenschirme sind von 2009 zu untersuchen, der mit den Zeilen „Bleib nicht stehn, lauf nicht weg /Geh einfach ganz normal weiter“ beginnt. Neben der Parallele zur Strategie des „Weitermachens, als ob nichts gewesen wäre“ ist es durchaus bemerkenswert, dass durch die wenn auch etwas ungelenke Formulierung des „[G]anz -normal“-Weitergehens schnell deutlich wird, dass auch um einen modernen Sicherheits- bzw. Bedrohungsdiskurs geht. Im Zentrum steht die zweite Hälfte der zweiten Strophe:

Der Urlaub war so schön / Der Urlaub hat nicht stattgefunden / Das Flugzeug ist in die Stadt geflogen anstatt zu landen / Die Erde wird umkreist von Trabanten / Während alles um die Sonne kreist, umkreist die Sonne sich im Geist

Der Urlaub war so schön / Menschentransport, Deportation. Was für ein Wort / Abschied für immer? Von wegen

Nach der Verabschiedung fängt es erst richtig an / In Gesetzen festsitzen / Die Epoche geht zuende, die Idee lebt weiter / Deutschland entnazifiziert / Es muss weitergehn / Der Urlaub war so schön / Frag nicht warum du, frag warum jemand anders.

Offenkundig geht es in dem Lied um das Verhältnis der Deutschen zum Nationalsozialismus und zum Holocaust. Gleichzeitig wird die Zeile „Der Urlaub war so schön“ auf beinahe hysterisch-affirmierende und damit ironische Weise vorgetragen, so dass schnell klar wird, dass sie – neben der Thematisierung der deutschen Verantwortung – pars pro toto für einen konsumorientierten, oberflächlichen und entpolitisierten Lifestyle steht, der damit gleichzeitig kritisiert wird.

Versucht man eine politisch-historisches Geschichte Deutschlands von Sing, Sing hin zu Der Urlaub war so schön zu konstruieren, bietet sich die dritte Zeile des Liedtextes an, denn sie bildet den Abschluss zum Mauerfall, der noch in Sing, Sing thematisiert worden ist: „Das Flugzeug ist in die Stadt geflogen anstatt zu landen“ verweist sehr deutlich auf die Anschläge vom 11. September 2001, rekurriert damit über Umwege auf den in der ersten Zeile angesprochen Sicherheitsdiskurs (für den 09/11 die politische Rechtfertigung bot) und verwendet nach wie vor konsequent (und sarkastisch) das Urlaubs-Motiv. Um die Zeile nun als Echo auf das Mauerfall-Motiv in Sing, Sing zu verstehen, bedarf es eines kurzen historischen Exkurses: Das Jahrzehnt zwischen dem Ende der Sowjetunion Anfang der neunziger Jahre, des Umbruches in Osteuropa und dem Mauerfall bis zum 11. September 2001 wird heute ja tatsächlich als Zeit des relativen Friedens verstanden – erst seitdem engagierte sich der Westen wieder verstärkt und prominenter in Kriegseinsätzen, erst seitdem häufen sich die Krisenherde in der Welt und mit dem Kampf in der Ostukraine rückt das eigentlich ja für immer abgeschafft geglaubte Motiv vom „Krieg in Europa“ plötzlich wieder in den Bereich des Möglichen. Dieser Exkurs ist deswegen wichtig, weil sich der „Urlaub“ so auch als „Zwischenkriegszeit“, als Fin de Siècle, als Zeit des brüchigen Friedens lesen lässt (nicht umsonst geht „die Epoche zuende“). In Verbindung mit der Ablehnung des – nach Ansicht des Sprechers in Der Urlaub war so schön– weit verbreiteten, unpolitischen Lebensentwurfs, den das Ich kritisiert, fallen an dieser Stelle Politik und Privates einmal mehr zusammen.

Als ein letztes Beispiel der thematisch-diskursiven Verwandtschaft beider Liedtexte soll die Aufmerksamkeit auf die Zeilen „Vöglein flieg, Ikarus, Deadalus, der Vater muss / sehn wie sein Sohn fällt“ gelenkt werden, die direkt auf (die eingangs bereits erwähnte Zeile) „Bleib nicht stehn, lauf nicht weg / geh einfach ganz normal weiter“ folgen. Durch den Verweis auf den Mythos von Daedalus und Ikarus bekommt der Liedtext eine ähnliche Weite wie es bei Sing, Sing durch die Einbeziehung des Babylon-Mythos geschieht; gleichzeitig geht es auch hier wieder um einen Akt der Hybris (das Fliegen, wie schon beim Turmbau zu Babel in Sing, Sing) und zu guter Letzt „muss“ der Vater hier (einmal mehr) zusehen „wie sein Sohn fällt“: Dass (natürlich schon in beiden Mythen) zwischen der pathologischen Vater-Sohn-Beziehung bzw. Gott-Mensch-Beziehung und dem Scheitern ein kausaler Zusammenhang besteht, kann hier nur angedeutet werden (vgl. Alice Miller: Du sollst nicht merken). Das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen wird in der Textwelt Retrogotts jedenfalls auffallend häufig thematisiert.

Ein weiterer Liedtext nun, von dem aus sich Verbindungslinien hin zu Blumfeld ziehen lassen, ist Coffee to go, das Retrogott 2011 gemeinsam mit Twit One veröffentlichte. Dort heißt es:

Auf der Suche nach Superstars und Topmodels / findet Deutschland im Märchenwald einen Fliegenpilz / und eine Schlafmohnplantage in Afghanistan / wo die deutsche Freiheit wächst / entspringen Plastikbenzin und Latex / Sexorgie auf Betriebskosten.

Die Existenz des apolitischen, konsum- bzw. primär unterhaltungsorientierten Körpers („Superstars“ bzw. „Topmodels“) wird zur Bedingung für einen immer absurderen, von Staats wegen gewünschten Sicherheitsdiskurs, an dessen Ende es – nach Ansicht des Sprechers – eben nicht mehr um die Sicherheit Deutschlands, sondern – ganz profan – um die Erhaltung des wirtschaftlichen Status quo („Plastikbenzin“) geht. (Und auf diesen Zusammenhang inzwischen ungeniert hinweisen zu dürfen ist ja nicht ohne Grund Element der gegenwärtigen Diskussion um eine „neue deutsche Außenpolitik“). Die „Plantage“ sowie das „Wachsen“ der „deutschen Freiheit“ spielen wiederum auf Helmut Kohls damalige Vision für die Neuen Bundesländer nach der Wiedervereinigung an, die sich im Diktum der „blühenden Landschaften“ verkörperte, und von der wir heute wissen, dass (auch) sie sich nicht erfüllen konnte: Implizit geht es also auch hier (immer) um deutsche Geschichte (vgl. Retrogott feat. Hubert Daviz – Klassiker (2014), dort heißt es: „Ich wasche meine Nationalflagge in Blut, damit sie am Jahrestag glänzt / Ich wringe sie aus und wasche sie mit Seife / ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben / wessen Blut seinen Weg in eine schaumige Pfütze unter meiner Flagge findet.“).

Fazit

Das Abarbeiten an ähnlichen Themen (wie etwa an der Dichotomie zwischen politischen und apolitischen Körpern oder der Funktion des Körpers im freien Markt) lässt sich derzeit vermehrt in den Veröffentlichungen der (eingangs bereits erwähnten) als ‚linker Rap‘ gelabelten Künstler wie etwa den Berlinern Zugezogen Maskulin beobachten, deren einer Teil, Grim104, im Interview mit der Musikzeitschrift INTRO (229) die in den Texten der Gruppe immer wieder auftauchende Kritik an der durch die Verwertungslogik normierten (digitalen) Lebenswelt zum Ausdruck brachte. Eine solche Kritik richtet sich demnach gegen ein „[g]anz bestimme[s] Gefühl von Spaß und Glückseligkeit […]: Du und deine coolen Großstadtfreunde, ihr chillt auf einem Dach, danach lauft ihr mit einem Einkaufswagen durch die Stadt, und einer fährt sich durch die Haare…“ Andere – wie etwa die bereits erwähnte Antilopengang – widmen sich u. a. dem latent vorhandenen, rechten Gedankengut in der Gesellschaft und stellen fest: Beate Zschäpe hört U2.

Wenn Marcus Staigers Lieblingsthese stimmt, dass nämlich ‚Rap‘ das kollektive Unterbewusstsein einer Gesellschaft zum Vorschein bringe, dann wäre die Frage: Warum gerade jetzt? Und gegen wen oder was wird diese ‚Rap-Linke‘ eigentlich in Stellung gebracht? Sind es vordergründig „reaktionäre“ Künstler wie etwa Kollegah, der in seinen Raps unverhohlen einem (fast neoliberalen) Selbstperfektionierungskult huldigt und seine „Bosstransformation“, ein dreiwöchiges, aus Videos bestehendes Bodybuildingprogramm für mehrere hundert Euro, an seine Fans verkauft? Oder geht es hier um Gesellschaftsformationen oder gar um Zeitgeistphänomene – und zwar solche, um zur Eingangsfrage zurückzukehren –, denen mit den Mitteln der ‚Rockmusik‘ nicht mehr beizukommen ist? Sicher ist: Rap wird inzwischen nicht mehr nur als eigenständige Kunstform wahr- und ernstgenommen, sondern bietet auch genügend Potenzial, um im gesellschaftspolitischen Diskurs eine noch größere Rolle zu spielen. Und das – wie hoffentlich gezeigt werden konnte – aus gutem Grund.

Dieser Essay basiert auf einem Vortrag, der am 30.01.2015 auf der Masterclass-Tagung „Körperbilder zwischen Kult und  Verschwinden“ in Amsterdam gehalten wurde.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen