Junge Stimmen hat das Land!

Wie die „Dritte Generation Ostdeutschland“ und ihre AltersgenossInnen den Diskurs zu Einheit und „Wende“ mitbestimmen (wollen). Ein Wutprotokoll

Von Sonja KerstenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sonja Kersten

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie hatten schon viele Namen: Mauerkinder, Zonenkinder, Kinder von 89, Kinder des Mauerfalls, Generation Trabant, Generation Mandy, Eisenkinder, Ostalgie- oder auch Wendegeneration. Die Liste an Labels, teils liebevollen, teils bissigen Zuschreibungen ist lang. Und es gibt stetig neue Bezeichnungen für sie. Sie – das meint all diejenigen, die vor rund 25 Jahren, zur Zeit von Mauerfall und Wiedervereinigung noch Kinder und Jugendliche waren. Diejenigen, deren Erinnerungen an ein Leben im geteilten Deutschland zusammenfallen mit den Erinnerungen an die Kindheit. Diejenigen, die kaum selbst politische Erfahrungen im oder mit dem real existierenden Sozialismus in der DDR sammeln konnten und oft erst rückwirkend auch die Schattenseiten des Systems begriffen. Diejenigen, die in einem sich vereinigenden Deutschland groß wurden, das gewissermaßen selbst erst wachsen und heranreifen musste.

Heute sind diese Kinder erwachsen, etwa zwischen 30 und 40 Jahre alt, und – wie es Jana Hensel, Jahrgang 1976, in ihrem Bestseller „Zonenkinder“ (2002) einmal spitz formulierte – an „Sprache, Verhalten und Aussehen […] nicht mehr zu erkennen“. Sie sind in der Welt zu Hause, haben Jobs im In- oder Ausland, wohnen in Holland, Südhessen oder Frankfurt Oder, haben französische Arbeitskollegen vielleicht, österreichische Nachbarn, schwedische Freunde, italienische Leibspeisen. Möglicherweise haben sie Familie, eigene Kinder. Doch die DDR-Vergangenheit bleibt dabei immer ein (wenn manchmal vielleicht auch kleiner) Teil von ihnen. Im öffentlichen Erinnerungsdiskurs zur DDR und ihrem Ende, dem Mauerfall und den Spuren der „Wende“ allerdings spielen die Ansichten und Erfahrungen dieser Altersgruppe(n) oft kaum eine Rolle.

Das hat vor rund fünf Jahren einige von ihnen sehr wütend gemacht. Adriana Lettrari zum Beispiel. Johannes Staemmler und Michael Hacker auch. Sie waren wütend über all die öffentlichen Diskussionen und Debatten, die doch immer nur von denselben „alten Protagonisten“ geführt wurden. Doch statt sich zu grämen, sich abzuwenden, die Tür zur Vergangenheit zu schließen, haben sie sich zusammengesetzt. Damals, im Juni 2010. Gemeinsam mit Freunden und Bekannten – aus Ost wie aus West, geboren zwischen 1975 und 1985 – haben sie sie formuliert, ihre Wut: „Darüber, dass so viele Worte, die über Ostdeutschland, die Ossis und die Wessis, die DDR und die Wiedervereinigung gesagt werden, junge Menschen wie uns […] selten erreichen. Sie haben wenig mit unseren Erfahrungen zu tun“.

Man nahm sich ein Ziel vor: Einen neuen Diskurs über Ostdeutschland wollten sie anstoßen. Dann haben sie sich selbst einen Namen gegeben. Einen Namen, der nicht verniedlicht, verballhornt oder verurteilt, sondern einen Namen, der schlicht besagt, was sie ihrer Ansicht nach sind: die „Dritte Generation Ostdeutschland“. So sind sie eine Initiative im doppelten Sinne, denn schon beim ersten Treffen sei „deutlich zu spüren [gewesen], dass es nicht nur viele Ideen und Meinungen zu diesem Thema gab“, erinnert sich Mitbegründer Henrik Schober, „sondern auch eine große Bereitschaft, sich dafür einzusetzen“. Dann ging alles ganz schnell. 2011 gab es eine erste Konferenz, 2012 folgte eine Bustour durch Ostdeutschland. Der vorliegende Band erschien. Er gibt der Initiative in der Öffentlichkeit ein Gesicht: „Wer wir sind, was wir wollen“ heißt der Untertitel.

Ihr Ansatz ist (in der Theorie zumindest) simpel – aber er ist innovativ: Sie wollen das festgefügte, oft eindimensionale Vergangenheitsbild überwinden und ihm eine Vielfalt an Erfahrungen, Positionen und Forderungen entgegenstellen. Dabei schreiben sie sich selbst eine Vermittlerrolle sowohl zwischen den Generationen in Ostdeutschland, als auch zwischen Ost- und Westdeutschen zu, denn ihre doppelte Sozialisation prädestiniere sie aufgrund ihrer einzigartigen Transformationserfahrungen in besonderem Maße dazu. Polyphonie statt Eindimensionalität heißt das, Austausch statt Abgrenzung, Verstehen statt Verurteilen. Dialog statt Schweigen. Ihr Sammelband steht für diese Prämissen spiegelbildlich: 31 Beiträger aus Ost- und aus Westdeutschland, in den 1950er-, 1970er- oder beginnenden 1980er-Jahren geboren, melden sich darin zu Wort – vom lebensgeschichtlichen Interview über Erinnerungs- oder Erfahrungsberichte, kritische Gespräche oder Zeitdiagnosen bis hin zu literatur- oder sozialwissenschaftlichen Studien.

Man mag darüber streiten, wie wohl gewählt der Name „Dritte Generation Ostdeutschland“ ist. Der Begriff der Generation ist ein schwieriger, und inwiefern er sich – gerade in wissenschaftlicher Hinsicht – rechtfertigen lässt, steht noch auf einem ganz anderen Blatt Papier. Lothar Probst spricht der Initiative in seinem Versuch einer soziologischen Einordnung im Rahmen des Bandes jedenfalls ein großes Potenzial zu. Weiteres muss die Zeit entscheiden.

Doch davon einmal abgesehen: Die Herausgeberinnen und Herausgeber haben in ihrer Motivationsbegründung etwas Entscheidendes (wenn auch beinahe beiläufig) auf den Punkt gebracht. Nämlich den notwendigen Motor, der – auch über Generationen hinweg – die Erinnerungen an die deutsch-deutsche Geschichte lebendig hält, sie in die Zukunft trägt: Wut. Und zwar nicht in ihrer zerstörerischen, sondern in ihrer produktiven Dimension. Dann kann sie Impulse geben, bestenfalls Anlass zur Diskussion. Gerade ein Blick auf die Zeit seit der Jahrtausendwende, in der die „Dritten Generation Ostdeutschland“ und ihre AltersgenossInnen nach und nach begannen, in die Öffentlichkeit zu treten, führt das vor Augen.

Denn erstmals öffentlich zu ihrer Wut bekannte sich schon im Jahre 2002 eine Autorin, die im (nicht nur literarischen) „Wende“- und Einheits-Diskurs des 21. Jahrhunderts kaum wegzudenken ist: Jana Hensel. Sie war wütend, weil in der damaligen Zeit Florian Illies als Porträtist einer (westdeutschen) Golfgeneration im großen Stil umjubelt wurde, doch anscheinend niemand dabei bemerkte, dass das konsumfreudige Gruppenbild nur die Protagonisten aus zehn Bundesländern wiedergab. Sie schrieb „Zonenkinder“ und erhob damit als eine der Ersten, die man heute laut Geburtsorts- und Herkunftskoordinaten der „Dritten Generation Ostdeutschland“ zurechnen könnte, ihre Stimme. Sie fuhr sich deftige Kritik ein und legte in gewisser Hinsicht einen Grundstein für die vielen (eingangs erwähnten) Generationszuschreibungen, die sich bis heute in Wissenschaft, Feuilleton und Volksmund tummeln.

Darüber waren in der Folge oft jahrgangsverwandte AutorInnen wütend und literarisierten ihre eigene, von den Wendeereignissen begleitete und/oder geprägte Adoleszenzgeschichte. Wut empfand aber auch Katja Warchold. In ihrem Beitrag des vorliegenden Sammelbandes schreibt die 1977 in Cottbus geborene Literaturwissenschaftlerin darüber, dass vor allem die in „Zonenkinder“ so omnipräsente Wir-Perspektive sie so verärgert habe. In ihrer literaturwissenschaftlichen Studie analysiert Warchold daher nicht nur, wie Hensels Versuch einer Darstellung einer allgemeingültigen, „ideologisch entschlackten Kindheit“ anhand „homogenisierter Zeichen“ misslingt, sondern zeigt zugleich gegenbeispielhaft, wie andere AutorInnen mit ihren individuellen, autobiografischen und autofiktionalen Texten ihre Vergangenheit erinnern und damit ein sehr viel höheres Identifikationspotenzial aufweisen, als es Hensels Text vermag.

Eine ganz andere Form der Wut verspürte ungefähr zur gleichen Zeit Stephanie Maiwald. In ihrem Aufsatz des Sammelbandes berichtet sie davon, wie sie sich 1999 dazu entschloss, für ihr Studium von „Frankfurt West nach Frankfurt Ost“ zu ziehen. Offen und unvoreingenommen wollte sie in der Stadt an der Oder ankommen, sich ein soziales Umfeld aufbauen, etwas bewegen. Doch der oft unüberbrückbare Abstand zwischen West und Ost (vor allem in den Köpfen), die Ressentiments und Vorwürfe wurden ihr in all den Jahren zum nahezu täglichen Begleiter: „Irgendwann entwickelte ich eine Wahnsinnswut“, schreibt sie. „Darüber, sich mit seinem Westsein im Osten verstecken zu müssen. Von vielen Ossis im Westen habe ich von dem Zwang der Assimilierung gehört. Doch als Wessi im Osten habe ich das auch erlebt. Es bestand ein ständiger Rechtfertigungsdruck: was ich hier wolle, wenn ich denn etwas wollte. Warum ich mich engagierte, wenn ich mich engagierte. Als ob mir das Recht abgesprochen werde mich einzubringen.“ Doch entmutigen ließ sich Maiwald davon offensichtlich nicht. Im Gegenteil: auch sie ist eines der Gründungsmitglieder der „Dritten Generation Ostdeutschland“.

Im Sommer 2011 war Jana Schallau wütend. Die Ost-Berliner Kulturwissenschaftlerin war gerade von der ersten Konferenz der Initiative gekommen und enttäuscht über die starren Vorgaben, mit der die „Dritte Generation Ostdeutschland“ sich selbst eine Form vorzugeben sucht. „Für mich sind die Grenzziehungen […] zu absolut gesetzt“, schreibt Schallau, geboren 1984, in ihrem Beitrag. Er zählt mit Abstand zu den reizvollsten Texten des Sammelbandes – nicht zuletzt, weil er überhaupt dort abgedruckt ist. Denn Schallau scheut keine Kritik: Durch die Wahl von Herkunftsort und Geburtsjahr als Auswahlkriterien für die Ladung der Tagungsgäste sei „[d]ie eigentliche Idee der Konferenz, einen gemeinsamen Diskussionszusammenhang herzustellen, […] ad absurdum geführt worden, denn eine zu starre Auslegung der Definition produziert Ausschluss. […] Folglich werden nicht nur Menschen ausgegrenzt, sondern auch manche inhaltlichen Ideen nicht gedacht, diskutiert oder entwickelt.“ Schallau macht sich deshalb für eine Ausdehnung der Grenzen bis hin zur Auflösung des „Generationsraumes“ stark, denn erst dann rücke vollständig das Interesse an der deutsch-deutschen Geschichte in den Mittelpunkt, wodurch ein konstruktiver Erfahrungsaustausch beginnen könne.

Von Wut sprach im Jahre 2013 auch die Journalistin Sabine Rennefanz, geboren 1974 in Beeskow. Ihr Buch „Eisenkinder“ erschien als Reaktion auf das Bekanntwerden der Gräueltaten der NSU-Terroristen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhart und Beate Zschäpe, die Prozesse und öffentlichen Diskussionen. Einerseits mache sie, so schreibt Rennefanz in ihrem Buch, die Tatsache wütend, dass die Zwickauer Terrorzelle vor allem zum „Problem der Ostdeutschen“ und ihre Gewaltbereitschaft verkürzt als „ein Rachefeldzug der postsozialisitisch erzogenen Jugendlichen gegen die pluralistische Gesellschaft im Westen“ erklärt wurde. Andererseits attestierte Rennefanz sich und ihren ostdeutschen AltersgenossInnen, der „Wendegeneration“, eine „stille, unterschwellige Wut“ als charakteristische Emotionslage, deren Ursache sie in „Eisenkinder“ nachgehen will.

Das Gefühl des Wütendseins kann also in den unterschiedlichsten Situationen und Kontexten Auslöser, ja Motivator sein, die Stimme zu erheben, aktiv zu werden. Viele solcher Stimmen stehen nebeneinander, gleichberechtigt – innerhalb und außerhalb des Sammelbandes. Sie bieten Anknüpfungspunkte, Rede- und Diskussionsbedarf, sind so Teil des kommunikativen Gedächtnisses unserer Gegenwart und unverzichtbar für die Tradierung und (Mit-)Gestaltung der Erinnerung an die deutsch-deutsche Vergangenheit. Zugegeben, für diese Erkenntnis bedarf es nicht zwingend einer Generation in Form einer Initiative. Doch schlecht kann es nicht sein, wenn sich jemand dafür verantwortlich fühlt, sich um diese Perspektiven und Prozesse zu kümmern.

Mittlerweile, knapp fünf Jahre nach ihrer Gründung, residiert die „Dritte Generation Ostdeutschland“ in Berlin „Unter den Linden“. Sie hat sich zu einer starken Größe und unverzichtbaren Stimme im gesamtdeutschen Erinnerungsdiskurs zu „Wende“ und Einheit gemausert. Ein Blick auf den Terminkalender ihrer Homepage zeigt, dass ihr Engagement Früchte trägt. Doch Streit gab es in den letzten Jahren auch in ihrem Kreis. Statt der Sache aber wütend den Rücken zuzukehren, entschlossen sich einige der einstigen Gründungsmitglieder, ihre Energien umzuleiten, einen neuen Verein zu gründen: Die Perspektive³. Auch ihre Ziele sind Multiperspektivität, Austausch, Annäherung. Was Wut doch bewirken kann.

Persönlicher Nachtrag

Im November 2014 war Jana Hensel übrigens noch einmal wütend. Nur wenige Wochen zuvor hatte der Literaturkritiker Christoph Schröder, Jahrgang 1973, in der Zeit Online in polemischer Manier und anlässlich des 25. Mauerfalljubiläums den Verlust der BRD und des Sicherheitsgefühls der 1980er-Jahre beklagt. Zum Sündenbock stilisierte er dabei in einem – gewiss bedenklichen – Rundumschlag die Ostdeutschen: „Wir Westdeutschen hatten das bessere Land. Wir hatten ein Land, das besser war als die DDR vor der Wiedervereinigung, und wir hatten ein Land, das besser war, als das, in dem wir jetzt leben. Ihr, liebe Ostdeutsche habt es uns genommen. Dafür könnt Ihr nichts. Aber hin und wieder etwas mehr Demut wäre schon ganz schön.“

Was für eine Ohrfeige! Ihr Brennen hat Hensel prompt zum Gegenschlag veranlasst. „An die Westdeutschen“ überschrieb die stellvertretende Chefredakteurin des „Freitag“ nüchtern ihren offenen Brief (Aufmacher der Printausgabe vom 6. November 2014). Doch so sachlich sollte ihre Antwort nicht bleiben. Eingeschnappt wäre das passendere Wort: „Ich weiß nicht, ob ihr [die Westdeutschen] wisst, dass wir [die Ostdeutschen] oft zusammensitzen und über euch reden […]. Seit Jahren geht das schon so und ich habe das Gefühl, unsere Ansichten über euch werden immer unversöhnlicher und radikaler. Ihr kommt bei solchen Gesprächen selten gut weg. Wir machen dann Witze über euch und finden die lustig. Wir halten euch für selbstbezogen, intolerant und oberflächlich […]. Auch halten wir euch für unemanzipiert, Männer wie Frauen übrigens gleichermaßen; und wir finden, dass ihr beim Sex verkrampft seid. Nein, das war ein Witz, das denken wir nicht. Nein, das war kein Witz, das denken wir wirklich.“

Aha. Auge um Auge, Zahn um Zahn also!

Ich legte damals die Artikel beiseite. Sie erschütterten mich. Nicht unbedingt wegen der „Argumente“, sondern vielmehr ob der Tatsache, dass solche Sichtweisen gerade unter jenen, die es doch besser wissen könnten, überhaupt (noch) existieren und aufeinander prallen. „Der Ton ist wieder rauer geworden,“ bilanziert Hensel, „die Friktionen größer und die Erzählungen gehen wieder auseinander, mehr noch, sie werden ganz absichtsvoll eher voneinander weg als aufeinander zu erzählt. Auf beiden Seiten. Bloß nicht sein, wie der andere!“ Hatte sie damit recht? Aus dem Stegreif fielen mir, dem „Wessi“ (jünger als Schröder und Hensel, ein knappes Dutzend Kilometer entfernt von der thüringischen Grenze aufgewachsen) unzählige Beispiele ein, die dagegen sprachen. Ich dachte an die „Dritte Generation Ostdeutschland“, die Perspektive³. An Autorinnen und Autoren wie Andrea Hannah Hünniger, Ocke Bandixen, Peggy Mädler, Björn Bicker, Judith Schalansky, schließlich an Jan Böttcher und David Wagner, die in ihrem jüngst erschienenen Gemeinschaftswerk „Drüben und drüben“ doch im buchstäblichsten Sinne aufeinander zuschreiben.

Hensels und Schröders Artikel machten mich wütend.

Und das war gut so.

Titelbild

Judith Enders / Stephanie Maiwald / Michael Hacker (Hg.): Dritte Generation Ost. Wer wir sind, was wir wollen.
Illustriert von Alexander Fromm.
Ch. Links Verlag, Berlin 2012.
264 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783861536857

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