Deutsche Dialoge – eher traurig als lustig

Die erbitterten literarischen Fehden von Fritz J. Raddatz, Wolfgang Harich, Günter Grass und Rolf Schneider

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Die Frühjahrsproduktion der bundesdeutschen Verlage ist diesmal etwas mager geraten. Dennoch blüht unser literarisches Leben, ja, es ist sogar weitspannender – was wiederum nicht viel bedeuten will – als die Bücher, die feilgehalten werden.

Da gibt es seit einigen Wochen aus der Feder von Fritz J. Raddatz eine Marx-Biographie. Der in Ost-Berlin beheimatete Philosoph und Philologe Wolfgang Harich, ein Mann, dessen außerordentliche Geistesgaben schon oft und zu Recht im Westen gerühmt wurden, übrigens auch von Raddatz, hält von diesem Buch gar nichts. Er wirft dem „neuesten Marxologen“ (im „Spiegel“ vom 21. April) viele Geschichtsschnitzer, Irrtümer und Schludrigkeiten vor: „Ein Galimathias jagt somit den anderen, aus einer Ungereimtheit stolpert der Verfasser in die nächste.“ Bei Raddatz sinke „die Kammerdienerpsychologie auf den Tiefstand der Regenbogenpresse“. Überdies habe er „fremdes Geistesgut unverdaut abgetippt“. Harich glaubt, „den Plagiarius in flagranti“ erwischt zu haben.

Auf eine Antwort brauchte man nicht lange zu warten: Im „Spiegel“ vom 12. Mai meldete sich ein berühmter, wenn auch nicht eben als Marx-Kenner bekannter Mann – kein Geringerer als der Dichter der „Blechtrommel“. Das Raddatzsche Opus – führt Günter Grass aus – sei ein zum Widerspruch reizendes, „ein unbequemes Buch“. Gewiß, es habe Mängel, ärgerlich seien „die vielen modischen Schnörkel“. Aber Grass bescheinigt dem Autor „Biographenfleiß“ und „Detailtreue“, es sei ihm gelungen, „einen unterhaltsamen Bericht vorzulegen.“

Diese Komplimente werden Raddatz schwerlich gefreut haben: Grass hat ja jedermann zu verstehen gegeben, dass er von dem zur Debatte stehenden Werk keineswegs angetan ist. Denn wer eine „politische Biographie“ (so der Untertitel) von über fünfhundert Seiten als „unterhaltsamen Bericht“ einstuft, wer dem Autor nicht viel mehr als Fleiß (das ist in unserer Branche ein fast vernichtendes Lob) und Detailtreue nachrühmen will, der distanziert sich natürlich von dem Gegenstand, den er zu verteidigen vorgibt. Offenbar ist es nicht das Raddatz-Buch, das dem Grass gefällt, sondern das Harich-Pamphlet, das ihm mißfällt.

Harich kontinuiere – so Grass – „die von Marx zur Methode entwickelte Intoleranz, indem er den Gegner lächerlich macht; er ‚präpariert ihn zum Feind, um ihn denunzierend zu vernichten“. Und „Wolfgang Harich versteht sich aufs Denunzieren.“ Zu dem Plagiats-Vorwurf meint Grass: „Nichts stimmt. Harich schwindelt.“ Er wird der „Lust am brillant formulierten Rufmord“ bezichtigt.

Prompt erwiderte Harich (im „Spiegel“ vom 19. Mai), die Methode einen von der Öffentlichkeit zu Unrecht für kompetent gehaltenen Autor dadurch unschädlich zu machen, „daß man seine Ignoranz entlarvt, seine Plagiate aufdeckt, seine Lächerlichkeiten ans Licht zieht“, gehöre zu den besten Traditionen deutscher Geistesgeschichte. Allerdings habe nicht Marx sie erfunden: „Die Blamage, dies irrigerweise anzunehmen, hätte Günter Grass sich ersparen können, wenn er, statt Raddatz zu lesen, einen Nachhilfelehrer engagiert und sich von dem die Waffenarsenale Lessings und Heines hätte vorführen lassen.“ Zu Grassens „Plädoyer für den fairen Verriß“ fragt Harich: „Wer hat eher Fairneß verdient: das Leserpublikum oder der Scharlatan, der ein Geschäft daraus macht, es hinters Licht zu führen?“

Und wie ist es mit dem Plagiat? Harich denke nicht daran, „den Vorwurf abzuschwächen, gar ihn zurückzunehmen“. Sogar der Verlagsleiter von Hoffmann und Campe (wo das Raddatz-Buch erschienen ist) habe ihm „nach Prüfung des Sachverhalts inzwischen recht gegeben“, Grass wäre gut beraten, sich die Verleumdung – daß Harich ein Schwindler sei – „noch einmal zu überlegen“.

Ist Raddatz ein windiger Bursche, ein Scharlatan und ein Plagiator? Ist Harich ein Denunziant, Schwindler und Rufmörder? Ist Grass ein Verleumder? Die Sache ist verzwickt: Denn wenn der Raddatz kein Plagiator ist, dann ist der Harich ein Denunziant, wenn aber der Harich kein Denunziant ist, dann ist der Grass ein Verleumder. Ein deutscher Intellektueller, der so tut, als wollte er die Bibel übersetzen, aber statt dessen vor unser aller Augen ein Mädchen verführt, hätte hierzu gesagt: „O glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!“

Indes fällt es schwer, über alle diese Fragen gründlich nachzudenken, weil sich in unserem literarischen Leben neuerdings die Ereignisse überstürzen. Kaum hatte Harich im „Spiegel“ konstatiert, es müsse wegen seiner „ignoranten Unverschämtheit“ dem Raddatz „sein Machwerk um die Ohren geschlagen werden“, da tat es Raddatz (in der „Zeit“ vom 16. Mai), freilich mit dem Machwerk und den Ohren eines anderen, nämlich mit dem Roman „Die Reise nach Jaroslaw“ des DDR-Autors Rolf Schneider. Wieder ist von Diebstahl die Rede: Die gegen ihn aus Ost-Berlin erhobene Anschuldigung wirft nun Raddatz seinerseits einem Ost-Berliner an den Kopf: „Die Reise nach Jaroslaw“ sei „der dünne Aufguß eines Plagiatorentees“, was übrigens schwerlich als Entdeckung gelten kann, weil den Plagiatcharakter dieses Büchleins Sibylle Wirsing in der F.A.Z. schon am 25. März festgestellt hatte.

Im Fazit meint Raddatz, Schneider habe mit seinem neuen Roman „den Bereich der seriösen Literatur verlassen“. Die Kollegen vom „Zeit“-Feuilleton scheinen da anderer Ansicht zu sein. Neben der Kritik von Raddatz über Schneider drucken sie einen Aufsatz von ebendiesem Rolf Schneider gegen die Kritik in der Bundesrepublik, zumal – und jetzt wird es wieder spannend – gegen den Kritiker Raddatz.

Schneider meint, unsere Kritik sei einflußlos, allerdings käme ihr bei der Verbreitung der DDR-Literatur in der Bundesrepublik „durchaus die Funktion einer Pilot-Meinung zu“. Diese Funktion erfülle sie miserabel. Was er der Kritik vorwirft, ist so alt wie die Literaturkritik in diesem Lande: Beliebigkeit und Faktenschluderei.

Er stellt sich schützend vor die DDR-Autorin Irmtraud Morgner, deren Buch unserem Mitarbeiter Martin Gregor-Dellin mißfallen hat. Aber er verschweigt, daß Gregor-Dellin seinen, Rolf Schneiders, Erzählungsband „Pilzomelett und andere Nekrologe“ in der F.A.Z. vom 20. April 1974 entschieden abgelehnt hat. Er beanstandet Konrad Frankes (schon vor vier Jahren erschienene und längst revidierte) Darstellung der DDR-Literatur und verheimlicht, daß er selber in dieser Darstellung schlecht wegkommt. Und er wettert gegen die Untersuchung von Raddatz „Traditionen und Tendenzen“, dem er in der Tat einige Irrtümer und falsche Auskünfte nachweisen kann. Er unterläßt es jedoch, die Leser zu informieren, daß Raddatz ihn nicht nur in dieser Untersuchung negativ beurteilt, sondern auch seinen Erzählungsband höhnisch verrissen hat.

Mit anderen Worten: Schneider geht es überhaupt nicht um die Rezeption der DDR-Literatur im Westen. Ihm geht es lediglich darum, daß seine Bücher, die in den sechziger Jahren hier freundlich und wohlwollend aufgenommen wurden, seit 1970 fast nur noch verspottet werden. Sein Artikel ist ein persönlicher Racheakt. „Der Spiegel“ wußte, was er tat, als er sich weigerte, diesen Artikel zu drucken.

Ein Freund sagte mir neulich, er habe jetzt keine Zeit für Bücher, denn es sei ja viel amüsanter, zu lesen, wie sich allwöchentlich deutsche Schriftsteller gegenseitig mit Dreck beschmeißen. Ich fand‘ das alles auch sehr lustig, wenn es nicht so traurig wäre. Gewiß doch, unser literarisches Leben blüht. Nur hatten wir wohl an eine andere Blüte gedacht.

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22.5.1975. Wir danken Andrew Ranicki für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung an dieser Stelle.