Wie eine rasante Kamerafahrt

Caroline Duttlinger hat Lektüren zu Franz Kafkas „Betrachtung“ herausgegeben

Von Marie-Luise WünscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie-Luise Wünsche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

I  Schreiben mit „den Fingerspitzen im Wahren.“

Franz Kafkas Texte beeindrucken, wenn sie stocken, nehmen sich zurück, indem sie fortschreiten und brüllen stumm. Dies tun sie ganz offensichtlich zu differenten Phasen des Schaffens dieses Jahrtausenddichters (Peter André Alt und andere prägten den Begriff) mittels immer anderer Schreibstile respektive Schreibweisen, in denen leicht changierende Grundthemen eben durch das Form und Strukturspiel stets anders präsent sind. Diese Sprachwelten des Prager Autors und promovierten Juristen Franz Kafka faszinieren Philologen und andere Kulturwissenschaftler von Beginn an immer wieder und immer wieder neu. Sie tun dies wahrscheinlich auch, weil in ihnen Gesten virulent sind, deren Bedeutung unsicher ist und wandelt (frei nach Benjamin, der damit bereits auf den performativen Aspekt von Sprache und dessen Bedeutsamkeit für die Texte Kafkas verwies). Damit scheinen diese Texte deutlicher noch als die anderer Autoren auf Deutung aus zu sein, die sie zugleich so vehement verweigern, wie es nur das „Kafkaeske“ versteht (frei nach Adorno).

Das „Kafkaeske“ aber scheint sich nicht nur in Abhängigkeit zu den Werkphasen, sondern auch in Abhängigkeit zu den Phasen vordergründigen Forschungsinteresses zu verändern. Es  ist, wenn kein Chamäleon, so doch allemal ein Odradek. Hatte Max Brod, Kafkas langjähriger und wohl bester Freund, die allererste, nicht unumstrittene und auch keineswegs vollständige Werkausgabe herausgegeben, so gibt es aktuell gleich zwei historisch-kritische Werkausgaben, die dem Fachwissenschaftler gleich unentbehrlich und lieb geworden sind.

Die eine kritische Werkausgabe ist im Fischer Verlag erschienen und versammelt auch Briefe und amtliche Schriften in entsprechenden Einzelbänden. Zu ihren Hauptherausgebern zählen Gerhard Neumann und Malcom Pasley, aber auch Hans-Gerd Koch und Jost Schillemeit. Für die einzelnen Bände zeichnen darüber hinaus und in der üblichen editorischen Weise dann noch viele weitere Herausgeber verantwortlich. Die andere historisch-kritische Werkausgabe, die zugleich eine Faksimile-Ausgabe ist, erscheint im Stroemfeld/Roter Stern Verlag und wird von Roland Reuß und Peter Staengle in akribischer Detailarbeit ediert, die vor allem auch auf die  textgenetische Rekonstruktion der Schreibprozesse Franz Kafkas abzielt.

Während zu den unverzichtbaren Forschungshighlights der Ausgabe aus dem Fischer Verlag etwa die von Hans Gerd Koch herausgegebenen Briefe aus den Weltkriegsjahren zählen und natürlich die von  Klaus Hermsdorf und Benno Wagner besorgte Herausgabe der Amtlichen Schriften des promovierten Juristen und Beamten im Gesundheits- und Versicherungswesen, so beeindruckt an der noch nicht abgeschlossenen Faksimileausgabe von Roland Reuß und Peter Staengle die Synchronie von durchgestrichenen, verworfenen und autorisierten Textpassagen. Hier ist es dann neben den Oktav-Heften, die Durchgestrichenes als Durchgestrichenes im Fließtext selbst kenntlich machen, und Verworfenes eben nicht (nur) einem zusätzlichen Kommentarband anvertrauen, vor allem der Zettelkasten, der beeindruckt.  Er vereint in Faksimile die 103, heute in Oxford aufbewahrten „Zürauer Zettel“, auf denen in der Regel jeweils nur ein Aphorismus steht, den die Editoren auf der rechten Seite in Kafkas Handschrift und auf der linken Seite dann in Schreibmaschinenschrift wiedergeben.

Diese beiden Ausgaben haben in den letzten Jahren anderen Zugängen zu Kafkas Nachtschreibtisch Tür und Tor geöffnet und immens innovative Forschungsansätze ermöglicht. Dabei scheint allerdings ein Urteil zu der Qualität und Bedeutsamkeit der Prosa Kafkas immer noch dezent wirksam zu sein, was sich einer anderen Textgrundlage und einer anderen hauptsächlichen Methode, der Werkimmanenz nämlich, verdankte. Die Rede ist von der (vermeintlichen?) „Wasserscheide“,  die frühes und weniger relevantes Werk von dem reifenden und reifen Werk trenne und die mit dem im Jahr 1912 entstandenen Prosatext „Das Urteil“ in eins gesetzt wird. Mit dieser Prosa, die mit dem legendären und zu psychoanalytischen Kurzschlüssen verleitenden Satz endet: „In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr“, sah Kafka sein eigenes Ideal einer écriture automatique eingelöst, eines Schreibens „in einem Zug“, so sein autoreflexiver Kommentar zum „Urteil“.

Die Wirkmächtigkeit dieses poetologischen Statements scheint ein wesentlicher Grund dafür zu sein, dass der frühen Schaffensphase, lang nicht so viel Aufmerksamkeit zu Teil wird wie der mittleren und der späten. Umso erfreulicher ist es, dass der vorliegende Sammel-Band, der mit dem Untertitel „Neue Lektüren“ ankündigt, sich eben diesen frühen Prosastücken widmet, die erstmals 1912 unter dem Titel „Betrachtung“ erschienen sind. Bei den Beiträgen handelt es sich um überarbeitete Fassungen von Vorträgen, die 2012 anlässlich eines Symposions zum hundertsten Jubiläum dieses kleinen Bändchens an der Universität Oxford gehalten wurden. Das neueste Kafka-Handbuch, das von Manfred Engel und Bernd Auerochs 2010 im Metzler Verlag herausgegeben wurde, lässt die erste Werkphase etwa 1902 beginnen und mit eben diesem Bändchen enden, das nun endlich im Umfeld seiner Kommentierungen näher betrachtet werden soll.

Franz Kafka selbst notiert zu dem „Betrachtungs-Band“ am 10. August 1912 in sein Tagebuch: „Nichts geschrieben. In der Fabrik gewesen und im Motorraum 2 Stunden lang Gas eingeatmet“. Und am 11. August 1912 führt er einen weiteren Grund für die Schreibebbe an, der deutlicher mit der wesentlichen Arbeit des Schriftstellers zusammenhängt: „Nichts, nichts. Um wie viel Zeit mich die Herausgabe des kleinen Buches bringt und wieviel schädliches lächerliches Selbstbewußtsein beim Lesen alter Dinge im Hinblick auf das Veröffentlichen entsteht. Nur das hält mich vom Schreiben ab. Und doch habe ich in Wirklichkeit nichts erreicht, die Störung ist der beste Beweis dafür. Jedenfalls werde ich mich jetzt nach Herausgabe des Buches noch viel mehr von Zeitschriften und Kritiken zurückhalten müssen, wenn ich mich nicht damit zufrieden geben will, nur mit den Fingerspitzen im Wahren zu stecken.“

II Erzählen wie ein Kinematograph mit Schnittmaschine

Tatsächlich beginnt die Lektüre jener 18 Prosatexte Franz Kafkas, die neun sehr renommierte und international bekannte Kafka-Forscher aus Großbritannien und Deutschland im Rombach Verlag vorlegen, schon mit der Betrachtung der Umschlaggestaltung des Hardcover-Buchs.

Die Betrachterin der „Betrachtung“ sieht dort nämlich ein von Edvard Munch aus dem Jahr 1912 stammendes Ölgemälde, das den Titel trägt: „Der gelbe Baumstamm.“ Links und rechts von braun gefärbten Alleebäumen mit kargem grünem Blätterwerk flankiert, liegt in der Mitte auf Schnee ein gelber Baumstamm, dessen gelber Schatten sich mit ihm kreuzt, sozusagen im goldenen Schnitt. Oder ist es gar kein Schatten, sondern ein zweiter gelber Baumstamm, obwohl mit dem Titel des Ölgemäldes nur einer angekündigt wurde? Es gestaltet sich alles offensichtlich sehr modern, also polyvalent.

Kennt die Betrachterin Kafkas Textwelten schon, bevor sie das vorliegende Buch öffnet, wird sie wissen, dass der gemalte Baumstamm mit beschriebenen Bäumen korrespondiert. Diese finden sich als siebzehnte  Szene unter dem Titel „Die Bäume“ in dem kleinen Prosabändchen, das ebenfalls 1912 erstmals publiziert wurde, und lauten wie folgt: „Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.“  Die Verschränkung von Text und Kommentar, wie sie hier zwischen zeitgenössischem, kommentierendem Künstlerbild und zu kommentierendem Künstlerwort nahegelegt wird, setzt sich im Buchinnern mittels gegenwärtiger  literaturwissenschaftlicher Beobachtungen moderner Dichtung des promovierten Juristen und ‚Jahrtausend-Dichters‘ aus Prag in Variation fort.

Caroline Duttlinger nimmt bereits in ihrem ersten einführenden Beitrag, der vor allem die Aufgabe übernimmt, die Hauptmethoden und Hauptthesen der anderen Beitragenden zu skizzieren, unter anderem aber auch Bezug auf Die Bäume. Sie sieht darin vor allem ein „Symbol von Abstammung und Genealogie“, skizziert ins Prekäre und Instabile hinein. „Die ersten und die letzten Dinge. Kafkas Betrachtung im Kontext des Gesamtwerks“, so der Titel ihrer Hinführung, punktet in der Lesart Duttlingers dieser frühen Prosaskizzen des Prager Dichters vor allem durch die Fokussierung der Analyse auf mehrere Perspektivenwechsel des Erzählens, die die „fließende, gewissermaßen atemlose Syntax mit großer Dynamik aufladen“.

Lucia Ruprecht spürt den „Anfangsszenen von Autorschaft“ nach. Dabei legt sie einen Fokus auf das Komödiantische der für die Betrachtungs-Prosa typischen „Verwechslungselemente“ und rekonstruiert die allmähliche Verfertigung eines sich auffällig vor Publikationen zierenden Autors im Spannungsrahmen von „performativen Verschiebungsstrukturen und Mehrstimmigkeiten der Selbst-Rezitation“.

Elizabeth Boa skizziert in ihrem englischsprachigen Beitrag „Topographics of Self and World in Kafka’s Betrachtung die Grenze zwischen fiktiv gesetzter Außen-Welt und fiktiv gesetzter Innen-Welt als eine, die weder leicht auszumachen ist noch fraglos und unabhängig von der jeweiligen Leserstrategie verliefe. Sie nimmt bei ihrer Gender-Lektüre Bezug auf den Prager Formalisten Juri Lotman und dessen semiotisches Welterklärungsmodell. Das zweifelsohne besondere Charisma von Kafkas Schreibweise sieht sie in der spezifischen Textdynamik begründet.

Benno Wagner liest „Ausflug ins Gebirge“ im Kontrast zu „Topographie und Assoziation bei Stifter, Nietzsche und Kafka“. Seine Lektüre ist zugleich ein Experiment mit der Akteur-Netzwerk-Theorie des Soziologen Latour, der, vielleicht ein wenig in Variation und Abänderung der Supratheorie des Soziologen Luhmann, nun nicht mehr eine Soziologie der Kommunikation, die auf Missverständnis basierte, wohl aber eine Soziologie der Assoziation generiert. Wie bei Luhmann, so bestehen auch bei Latour gesellschaftliche Systeme aber eben nicht mehr primär aus Personen, sondern aus Relationen. So wird es möglich, das Soziale nicht mehr als Substanz, sondern als „Fluides Produkt der laufenden Entstehung und Auflösung von Assoziationen“ zu lesen.  Der Vorteil einer derartigen Theorie liegt darin, dass an die Stelle einer einfach binär operierenden Logik, die unterstellt, man könne noch (präexistente) Rahmen und (nachgeordnet) Gerahmtes eineindeutig voneinander unterscheiden, das Axiom der Durchquerung der derart gezogenen Grenzen von „two cultures“ tritt, die Gesellschaft auf der einen und Natur auf der anderen Seite anordnen will. Wagner sieht in der literaturwissenschaftlichen Nutzbarmachung der Akteur-Netzwerk-Theorie die Chance einer produktiven Zusammenführung „jener hermeneutischen, strukturalistischen, poststrukturalistischen und medientheoretischen Ansätze, die einander in den letzten Dekaden des vergangenen Jahrhunderts heftig bekämpft haben“. Generierbar wäre so eine Semiotik, die „Peirce statt de Saussure“ weiterentwickelte. Kafkas Texte sieht der international hoch geschätzte Kafka-Forscher deshalb als ideales Experimentierfeld an, da sie in ihrer thematischen Struktur und Dynamik eine signifikante Nähe zu Latours Theorie aufwiesen. 

Die 18 Prosaskizzen Franz Kafkas werden Dank dieser  nicht ganz einfach zu erschließenden theoretischen Vorlage als fortlaufender Prozess lesbar. Nicht die einzelnen Texte, die von „Kinder[n] auf der Landstraße“, über „Die Vorüberlaufenden“, „Der Fahrgast“ und andere bis hin zu „Unglücklichsein“ reichen, stehen im Zentrum des Interesses, sondern eben ihre Formen des Gleitens in den folgenden Text, also ihre Rahmendurchbrechungen und ihre Techniken der Verschmelzung.  Zugleich liest Wagner diese Prosaskizzen als eine Art von schriftstellerischem Reflex zur textuellen „Neuland“-Gewinnung des Autors Kafka auf seine Nietzsche- und Stifterlektüren.

Manfred Engel votiert für eine Art Amalgamierung impressionistischer und symbolistischer Verfahren als erzählkonstituierendes Moment bereits mit dem Untertitel seiner höchst aufschlussreichen Ausführungen. Ihr Haupttitel lautet: „Bedeutungserzeugung und Erzählverweigerung“.  Im Zentrum des Interesses steht die achte Miniatur des Erzählbandes „Betrachtung“, deren Titel „Zerstreutes Hinausschaun“ Programm ist. Engel zeichnet vor allem die Ambivalenz und das verbale Spiel mit Licht- und Schattensetzungen nach,  das diesen kaum noch narrativen Text aus vier Sätzen bestimmt. Dies geschieht auch mittels zweier Skizzen zu dem Text, die eine „referentielle Rekonstruktion“ der Straßen-Szene mit Kind, Mann und deren Schattenspielen anstreben, von der eine fiktiv gesetzte Erzählerinstanz in der ersten Person Plural, also als „wir“ dem impliziten oder dem realen Leser berichtet. So wird es möglich, „Doppelindizierung“ als wesentliches Merkmal dieser kaum erzählten und mehr gezeigten poetischen Szenerie zu benennen.

Silke Horstkotte knüpft mit ihrem Essay „Zur Mobilisierung des Sehens in ‚Betrachtung‘“ an ein erst in den letzten Jahren innerhalb der Forschung bedeutsam gewordenes Thema an. Gemeint ist die Ähnlichkeit, die Kafkas Erzählen bisweilen sowohl stilistisch als auch thematisch zu den Kurzfilmen seiner Zeit aufweist, die ja vor allem die Stummfilmzeit war. Mit dem kleinen Buch von dem Schauspieler Hanns Zischler „Kafka geht ins Kino“ aus dem Jahr 1998 wurde die kulturwissenschaftlich aufgestellte Kafka-Forschung erstmals aufmerksam auf diesen, bis dahin sträflich vernachlässigten Punkt der gegenseitigen Inspiration filmischer und literarischer Narrationen. So hat Peter-André Alt 2009 in seinem Beitrag, der Texte Kafkas aus mehreren Werkphasen berücksichtigt, zu dem Prosaband „Betrachtung“ unter dem Titel „Einübung des Kino-Blicks“ unter anderem den Aspekt der „Kultur der Observation“ hervorgehoben. Dies ist, neben allen positiven Veränderungen, eben auch, wenn nicht ein negativer Aspekt, so doch auf alle Fälle ein ambivalenter der neuen Techniken und Medien um 1900. Endlich hat die Herausgeberin des hier zu besprechenden Sammelbands zu dem 2010 erschienenen Handbuch zu Kafka ebenfalls einen Artikel beigesteuert, der sich der Bedeutung von „Film und Fotografie“ für Kafkas Schreibwerkstatt widmet.

Ein wichtiges Ergebnis dieser Auseinandersetzung Horstkottes auf der Basis der hier deshalb zuvor skizzierten Forschungsergebnisse Dritter ist die Feststellung, dass eigentlich alle 18 Kurztexte sich auszeichnen durch ein prinzipielles asymmetrisches Verhältnis von überbordender Reflexion und gegängelter Narration. Dabei spielt das Wörtchen „wenn“ eine kaum zu überschätzende Rolle, und dieses „Erzählen im Möglichkeitssinn“, das sich eben nicht Robert Musil, sondern Kafka verdankt, wird so vor allem eines der im Kopf-Kino bewegten Wortbilder.

Claudia Nitschke beginnt ihre Betrachtungen unter der Überschrift „Evidenz und Verrätselung. ‚Gesten und logical turn‘ in Kafkas ‚Betrachtung‘“ mit jener epochalen Textpassage Walter Benjamins, die aus dem Nekrolog stammt, den er anlässlich der „zehnten Wiederkehr [des] Todestages“ Kafkas niederschrieb. Eine der Hauptthesen Benjamins ist es, dass das Werk dieses Autors vor allem einen „Kodex von Gesten“ darstelle. Dabei handele es sich um Gesten, die der symbolischen Bedeutung eben gerade entbehrten, jedenfalls für ihren Verfasser. So können sie sich in Form von performativ gewendeten, immer wieder veränderten und anders gewichteten textuellen Verknüpfungen auf die Suche nach möglichen symbolischen Bedeutungen und ihren Halbwertzeiten machen. Gerade neuere diskurshistorische und dekonstruktivistische Forschungszugänge, wie sie etwa Félix Guattari und Gilles Deleuze mit ihrem kleinen Bändchen „Kafka. Für eine kleine Literatur“ sowohl vorlegten als auch anregten, kann man als äußerst innovative Weiterführung dieses Ansatzes von Benjamin begreifen. Nitschke zeigt nun, unter anderem ebenfalls am Beispiel des 17. Textes „Die Bäume“, wie diese Gesten dynamisiert werden und in den Dienst einer „Ambiguisierung“ gestellt werden. Dadurch jedoch, so ihre These, erfolgt keine vollständige Dekonstruktion. Stattdessen erwiese sich der Sinn, der sich der Dynamisierung von Zeichenprozessen verdanke, eben nur als „unbeherrschbar komplex“.

Gerhard Neumann, der mit seiner Rede vom „gleitenden Paradox“ als erzählkonstituierendes Moment die Kafka-Forschung vor Jahrzehnten nachhaltig auf die Bedeutung des Wechselspiels von thematischer Struktur und gegenläufiger Dynamik aufmerksam machte, ist immer noch mehr an dem Verlauf als an dem Inhalt des Erzählten interessiert. Das geschieht aber neuerdings von anderer und breiterer theoretischer Grundlage aus. Dafür hat er andernorts bereits die Rede vom „Schreibstrom“ geprägt. In seinem Essay „Der Beobachter auf der Schaukel“ interessiert die Dynamik des Arrangements der 18 kurzen Prosaskizzen, die er als Textschwarm liest. Neumann versteht „Betrachtung“ im doppelten Wortsinn von „Sehen“ und „Bedenken“. Das Buch mit eben diesem Titel wird ihm so zum Medium des Experimentes mit der „Beobachter-Beobachtetes-Konfiguration“ und zu einem „Lebens-Roman in Momentaufnahmen“.

Ritchie Robertson fokussiert in seinen, den Band abschließenden Betrachtungen der „Betrachtung“ unter dem Titel „Children and Childhood in Kafka’s Work“ jenen Aspekt, der in Kafkas Prosaskizzen selbst ebenfalls zentral ist: eben die mit dem Titel bereits gegenwärtige Bedeutung von kindlichen Figuren und Kindheit für das Erzählen. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer „Geschichte der Kindheit“, wie sie Ariés ja bekanntlich primär für den französischen Kulturraum bereits als Mentalitätsgeschichte vorlegte.

Robertson geht es nun aber mehr um die literarische und die philosophische Wertschätzung von Kindheit, wie wir sie bei Augustinus, Rousseau und Goethe vorfinden. Besonders in Kontrast zu Goethes „Werther“ gelingt es so eine höchst differenzierte Sicht auf die etwas anderen Kindheiten in Kafkas Texten freizulegen. Robertsons Gegenstandsfeld ist beeindruckend breit gestreut. Neben dem ersten und dem letzten Text aus dem Erzählband „Betrachtung“, in dem Kindheit einmal als Positiv und einmal als Gespenst und also als Negativ eine Rolle spielt, widmet sich der Beitrag unter anderem auch der Analyse des ersten Romans von Kafka, der vielen unter dem Titel „Amerika“, den Max Brod für ihn fand, geläufiger ist, als unter jenem, den Kafka selbst für diesen Roman wohl vorschlug: „Der Verschollene“.

So wird es möglich, sowohl die utopischen als auch die distopischen Effekte dieses literarischen Motivs zu beleuchten, das zugleich eine genuin ‚kafkaeske‘ Versuchsanordnung ist. Unter „kafkaesk“ aber kann man nach der Lektüre aller hier versammelten Beiträge in Bezug auf diesen frühen Erzählband des Prager Dichters und promovierten Juristen eigentlich nur noch eine signifikante Weise verstehen, Sprache in Szene zu setzen, sie zu beschleunigen nach Art einer rasanten Kamerafahrt. Mittels dieser imaginierten Kamerafahrt von beweglichem Untergrund aus, werden vermeintliche Oppositionen wie etwa Innen und Außen, Stadt und Land, Adoleszenz und Erwachsensein so lange umeinander herumgewirbelt, bis das Eine als die Rückseite des Anderen erscheint und so die „Heiterkeit hinter der Schwermut“ erkennbar wird.

III  Im Schreiben gehen „unter Purzelbäumen“

Oxford ist eine Hochburg der Kafka-Forschung, von der man stets Innovatives erwarten darf. So gingen dem hier besprochenen Sammelband, der sich ja, wie eingangs erwähnt, einer in Oxford stattgefundenen Tagung verdankt, etwa in einem anderen Verlag erschienene Sammelbände voraus. Sie sind, wie der aktuelle eben auch, auf alle Fälle des Lesens wert.

Natürlich kann das Neue, auf das Textwissenschaft im Falle Franz Kafkas aufmerksam machen kann, nur noch in Details, oft auch im Randständigen liegen. Immerhin vergeht kaum eine Woche, in der nicht mindestens zwei Monographien oder Sammelbände zu den Werkwelten oder den Lebenswelten dieses Schriftstellers erscheinen. Doch nach Innovativem, und käme es auch noch so bescheiden daher, steht einem natürlich nur der Sinn, wenn man nicht (mehr) davon überzeugt oder gar besessen ist, dass es eine kongeniale Annäherung an ein kanonisiertes Werk geben könne, die allgemeingültig sein müsse, also für alle Zeiten Geltung beanspruchen solle. Gäbe es sie, verstellte sie am Ende wahrscheinlich mehr, als sie erhellte.

Sowohl Kafkas unter Mühen und Tricksen zusammengestellter Erzählband „Betrachtung“ als auch der vorgestellte Sammelband „Kafkas Betrachtung. Neue Lektüren“ haben es aber beide verdient, unter anderen und neuen Aspekten gelesen zu werden. Dabei sollte weniger die alte Mär von der „Wasserscheide“ und mehr die neue von der kinematographischen Gangart der „Betrachtung“ richtungsweisend sein. Dann erscheint es höchst stimmig anzunehmen, dass die Erzählerinstanzen in diesen kurzen Skizzen ihre Perspektive stets ändern: mal von oben, mal von unten, dann wieder von der Seite Blicke und Räume eröffnen, innerhalb derer fiktiv inszenierte Gesten sich mal bewegt und mal besonnen auf die Suche nach möglichen Bedeutungen machen: als Provisorium, nicht als Ziel. Sie tun dies zu allem Überfluss noch oft von wankendem Grund aus und nicht, um festzuhalten, sondern um, wie Kafka es im November 1910 in sein Tagebuch in Bezug auf die Chancen seines schriftstellerischen Schreibens festhält, „unter Purzelbäumen“ wegzurennen.

Wer Kafkas Prosa narrativ dingfest machen will, bringt sich um Lesegenuss und Denkfortschritt zugleich. Dies zeigen die sehr unterschiedlichen Beiträge jeweils auf ihre spezielle und sehr eigene Weise.

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Carolin Duttlinger (Hg.): Kafkas „Betrachtung“. Neue Lektüren.
Reihe Litterae Band 203.
Rombach Verlag, Freiburg im Breisgau 2014.
205 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-13: 9783793097792

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