Eine Hymne an die Hermeneutik

Das „rückwärtstagebuch“ von Kathrin Röggla und Oliver Grajewski erzählt und zeigt Fremdheitserfahrungen in der Ferne

Von Andreas BlumeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Blume

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Koproduktion tokio, rückwärtstagebuch will keinen Crashkurs in Japanologie geben, sondern Erfahrungen mit fremden Kulturen und Räumen sprach-bild-gewaltig präsentieren. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin Kathrin Röggla, die zuletzt den begehrten Arthur-Schnitzler-Preis für Dramatik erhalten hat und zur Stadtschreiberin von Mainz berufen wurde, und der Comiczeichner Oliver Grajewski, mit dem Kenner das (autobiographische) Magazin Tigerboy verbinden, lassen in ihrem Projekt nicht nur Text und Bild, sondern auch die westliche und die japanische Kultur aufeinanderprallen. Der experimentelle Verlag starfruit publications bietet innovativen, vor allem aber intermedialen Arbeiten und Projekten ein Forum; da trifft es sich gut, dass sich mit Röggla und Grajewski zwei AutorInnen zusammen getan haben, die sich nicht an Konventionen halten.

Auf 52 Seiten schildert Röggla ihre Eindrücke im fernen Tokio. Ihr Markenzeichen, die konsequente Kleinschreibung, ist auch hier keineswegs ein orthographischer Manierismus: Vielmehr ist sie Ausdruck von Gleichwertigkeit und Protest gegen die gleichsam neurotische Ordnungsliebe auf der textuellen Mikroebene. Die Besonderheit dabei ist, dass ihre Reise analeptisch rekonstruiert wird, ähnlich wie ein Reiseblog. Ihre tagebuchähnliche Dokumentation beginnt zwischen den Buchdeckeln am Ende der Reise, als sie längst im Flugzeug über das sibirische Gebirge Richtung Europa gleitet und schließt mit ihrer Ankunft am Flughafen der größten Metropole der Welt ab. Kurz zuvor stellt Röggla fest: „ich bin nur zaungast, und als zaungast kann man in japan alles nur verkehrt machen.“ In einer fremden Stadt versucht ein jeder sich zunächst zurechtzufinden, völlig naiv und nichtwissend. Über diesen Punkt ist Röggla zu Beginn ihres Rückwärtstagebuchs folgerichtig hinweg und reflektiert ihre Position als Außenstehende, ja lässt das Fremde in der Fremde fremd sein. Genau darin besteht das Besondere des Buches. Rögglas und Grajewskis Band ist kein bloßer Reiseführer, kein Japanlexikon, keine Dokumentation – vielmehr ist der Band eine authentische Schilderung der Gefühlszustände der Reisenden, die hier jeweils von Begeisterung bis Paranoia reichen. Es überkommt einen das Gefühl eines Befremdens angesichts der Implosion von ‚Alterität’, wenn Röggla über U-Bahnen schreibt, für die ein extra angewiesenes Personal ganz selbstverständlich Menschen in enge Wagons quetscht, oder über einen Firmenangestellten berichtet, für den ein hektischer Zwölf-Stunden-Job Alltag ist – und der seine wenige Freizeit mit der aufwändigen Zubereitung kulinarischer Spezialitäten verbringt. Hier mischen sich Alltagserfahrungen, und Begegnungen mit prototypischen und/oder exotischen Menschen mit den Erfahrungen und Eindrücken einer Mitteleuropäerin, bis der Leser schließlich an den Anfang der Reise gelangt. Aus der abgeklärten Leserperspektive des eigenen, begrenzten Erfahrungshorizonts wird ein regelrechtes „erklärungsgewitter“.

Oliver Grajewskis Zeichnungen, die an die Manga-Ästhetik angelehnt sind, bilden das gestalterische Pendant zu Rögglas Text. Erzähltechnisch gelingt ihm das durch proleptische Einwürfe, stilistisch durch die japanische Lesart. Die einzelnen Panels werden nicht künstlich durch die comictypischen Trennungslinien, das sog. gutter, geordnet. Die offene Form der Einzelbilder erhöht die Komplexität auf der künstlerischen Ebene, sind sie doch stark reduziert und abstrahiert. Viele Darstellungen werden schraffiert. Auffällig sind der Hell-Dunkel-Kontrast und der Bezug zum japanischen Holzschnitt, dem historischen Ursprung des Mangas. Grajewskis Eindrücke und Reflexionen, die bisweilen mit Textfragmenten aus Rögglas Japanerlebnissen kombiniert werden, verteilen sich in Blockkästen über den Bildern. Die Zeichnungen enthalten somit keine Dialoge, sondern einen monologischen Reisebericht vom Rande einer Vorstadt zwischen Reisfeldern und Dörfern über den Aufenthalt im Kern Tokios bis hin zum Fluss Sumida. Dieser wird zum Sinnbild für die Grundlage des Lebens, für die Bewegung und den sich überschlagenden technischen Fortschrittsgedanken in Tokio – „oder gibt es im Fluss auch ganzes, bleibendes und den Stillstand?“ Mit dieser Frage schlägt der Zeichner die Brücke zu seiner Kritik an den beständig wachsenden Erwartungen wirtschaftlicher Expansion im Allgemeinen und an der Traditionsbehaftung des Genres Comic im Besonderen.

Das hybride Werk von Röggla und Grajewski in das enge Korsett einer Tradition schnüren zu wollen, würde seinem Entfaltungspotential nicht gerecht. Anaphorische Einwürfe, Ellipsen und paradoxe Gegenüberstellungen kennzeichnen Rögglas Stil, der stets zwei Seiten einer Medaille zeigt, oder: „ein volk von schlafenden, […] wüsste man nicht, wieviel arbeit und wieviel fortbewegung von den meisten leuten gefordert wird.“ Wer lustige Bildchen erwartet, ist hier ohnehin falsch. Grajewskis Popart-Konstrukt ähnelt inhaltlich dem Gekiga, einer realistischer gezeichneten Spielart des Mangas, die durch Authentizität den Blick schärfen will. Historisch betrachtet ist die Form Gekiga ein Statement gegen den Einfluss von Osamu Tezuka, der als maßgeblicher Begründer des Mangas in Japan gilt. Seine Verabsolutierung von Kindern und Jugendlichen als Zielgruppe verhinderte indes jene Vielfalt, an die Grajewski so dringend appelliert.

Beide Autoren probieren sich und loten Grenzen aus. Beiden gelingt es einerseits gängige Vorurteile über die japanische Kultur zu entlarven, etwa „die neue faulheit der japaner“. Andererseits politisiert die Sicht westlicher Menschen auf das Fernöstliche, denn „vor allem der gleichbleibende gesichtsausdruck ist es, der mich irritiert“, lautet Rögglas Reaktion auf die Menschen in einer Stadt, die niemals schläft. Der Tokioter Alltag, die Arbeitsmoral und das Verständnis von Gesellschaft müssen insofern alteritär bleiben, als wir gänzlich andere kulturelle Werte schätzen und schützen. Doch diese Erkenntnis unterstreicht das Konzept des Werks und macht es gelungen.

Einen kürzlich verfassten Beitrag zu Kathrin Röggla und ihrem Werk (anlässlich ihrer Poetik-Dozentur an der Universität Duisburg-Essen) finden Sie hier. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Kathrin Röggla / Oliver Grajewski: Tokio, Rückwärtstagebuch.
starfruit publications, Nürnberg 2009.
151 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783922895206

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