Notizbuch der Erinnerung

Über Patrick Modianos Roman „Gräser der Nacht“

Von Dirk HaferkampRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Haferkamp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dem Film The Da Vinci Code lernen wir Professor Robert Langdon, einen intimen Kenner der Mysterien des Vatikans, als intensiven Hermeneutiker kennen. Da durch ein jahrelanges Studium sein Blick für das Wesentliche geschult ist, treten ihm die kunsthistorischen Zeichen nach einer eindringlichen Konzentrationsphase plastisch entgegen. Er braucht sie nur noch zusammenzufügen, um ein deutbares Bild vor Augen zu haben.

Anders als in dem zur schnellen Rezeption konstruierten Hollywoodstreifen ist Jean, der Protagonist von Patrick Modianos Buch Gräser der Nacht, ein zögerlicher, den Wendungen des Alltäglichen misstrauender Zeichendeuter, der das entscheidende Ereignis seines Lebens, die Bekanntschaft mit einer jungen Frau namens Dannie, aus der Retrospektive seines „schwarzen Notizbuches“ heraus zu verstehen sucht: „Heute scheint mir, dass ich ein anderes Leben lebte innerhalb meines Alltagslebens. Oder genauer ausgedrückt, dass dieses andere Leben verknüpft war mit jenem eher farblosen, alltäglichen, und ihm ein Leuchten und ein Geheimnis verlieh, die es in Wirklichkeit nicht hatte.“

Man könnte seine Suche ‚vornehm’ nennen, wenn man dieses Wort in einem Sinn versteht, der sich der grellen Plakativität unserer Gegenwart widersetzt. Leise und vorsichtig nähert sich Jean in den Bildern seiner Träume und Gedanken den Stationen seines bisherigen Lebens, immer um den Namen Dannie kreisend, der das Zentrum seines Notizbuches und seines Herzens ist

So undramatisch wie die Persönlichkeit des Protagonisten ist die Diktion der Erzählung selbst. Sie nimmt den Leser mit auf eine leicht wehmütige Reise durch den Kosmos Paris, durch einen Raum, von dem wir nicht erst seit Henry Miller wissen, dass er zu sprechen beginnt, wenn die Prosa des Autors in der Lage ist, ihn eindringlich genug zu beschreiben. Derartiges geschieht hier. Doch kommt Modiano ganz ohne die derb-schwüle Erotik Millers aus. Alles Körperliche ist in den Bereich der Andeutungen verschoben. Der Roman ist geprägt von einer Reduktion der äußeren Handlung. Dem erinnernden Intellektuellen Jean, dem schreibenden Künstler, ist das Nachsinnen wichtiger, das gedankliche Verharren in einem plötzlich aufblitzenden Gefühl: „jene[r] leise Schwindel, der einen jedesmal erfasst, wenn eine Bresche in die Zeit gerissen wird.“

Jeans Gefühl für Dannie klammert alles Uneindeutige, Zwielichtige, Kriminelle aus: Dannies Verstrickungen in die Aktionen der „Montparnasse-Bande“, die undurchsichtigen Intrigen im „66“, die Aktionen des Marokkaners Aghamouri und die Ermittlungen von einem Kommissar namens Langlais, der Jean nach Jahrzehnten die Ermittlungsakte gegen Dannie überlässt, ja sogar der mögliche Mord aus Notwehr geraten in den Hintergrund. Mit Langlais‘ Akte hat Jean neben seinem Notizbuch ein zweites schriftliches Medium des Erinnerns, das ihm hilft, sich „über die Vergangenheit zu beugen“, und dem er mehr vertraut als Leuten, die er kannte und vor denen er getürmt ist, nur weil er „einen plötzlichen Widerwillen verspürte, mit ihnen zu reden.“

Obwohl Jean mit einer Verspätung von fünfzig Jahren die Geschichte über Dannie und sich selbst vor einem halben Jahrhundert schreibt, hat die Zeit in seinem Erleben keine Spuren hinterlassen, erlebt er erneut dieselbe Intensität der einstigen Empfindungen. Für ihn hat es „Gegenwart oder Vergangenheit niemals gegeben. Alles verschmilzt, wie in dem leeren Zimmer, wo eine Lampe brennt, jede Nacht.“ Immer hat er auf Dannie gewartet, die so plötzlich aus seinem Leben verschwunden ist, aber ihre Rückkehr bleibt aus und damit auch ihre gemeinsamen Spaziergänge an der Seine, die eindringlichen, immer etwas geheimnisvollen Gespräche, die eigentümliche Nähe und Verbundenheit, die Jean zu ihr empfindet: „Es zählte einzig und allein, dass wir die Quais entlanggingen, ohne irgendwen um Erlaubnis zu bitten und ohne irgendwas hinter uns zurückzulassen.“

In diesem unaufgeregten Roman über Raum und Zeit und das kurze Aufblitzen der Liebe darin nutzt Jean die Schrift nicht allein, um sich zu erinnern, sondern auch, um über das Erinnern und den darin immer mitgetragenen Schmerz über den Verlust Dannies hinwegzukommen. Bei diesen Versuchen geht es nie sentimental zu, vielmehr lesen wir an zahllosen Stellen immer auch Reflexionen über die Funktion des Schreibens selbst, was für Jean einen Weg darstellt, sich dem Mysterium anzunähern, das man die eigene Persönlichkeit nennt. Jean schreibt, um zu verstehen. Dass ihm dies nicht gelingt, dass sich die Ereignisse nicht zu einem eindeutig verstehbaren Sinnganzen zusammenfügen lassen, macht Gräser der Nacht so lesenswert.  

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Patrick Modiano: Gräser der Nacht. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edl.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
176 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783446247215

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