Ein Feuersturm der Erinnerungen

Persönliche Kriegsschicksale aus der Mülheimer Bombennacht am 22./23. Juni 1943

Von Nadine SikoraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadine Sikora

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das blau-gelbe Schimmern von Phosphorlösungen in der Dunkelheit mag vielen von uns nur noch in Chemiebüchern begegnen; doch wenn Karl-Heinz Achenbach anschaulich von seinen Erinnerungen an die nächtlichen Detonationen britischer Brandbomben erzählt, beschleicht den Leser das Gefühl, die Bombenflüssigkeit mit eigenen Augen gesehen zu haben.

Der heutige Saarner hat den Zweiten Weltkrieg und den verheerenden Angriff auf die Stadt Mülheim überlebt und berichtet, wie 32 andere Zeitzeugen in diesem Band der Serie „Ruhrgebiet-historisch“ des Klartextverlags, von dem Bombardement der Ruhrgebietsstadt in der Nacht vom 22./23. Juni 1943.

Anlässlich des 70. Jahrestages des Bombardements veröffentlichte der stellvertretende Redaktionsleiter der WAZ Mülheim, Mirco Stodollick, den vorliegenden Sammelband – und gab damit den Überlebenden jener Nacht die Gelegenheit, ihre Erlebnisse an die Nachwelt weiterzureichen. Bereits im Vorwort wird die Emotionalität dieser Thematik deutlich: Der Herausgeber beschreibt die Umstände der Entstehung des Buches und die Arbeit mit den Zeitzeugen, appelliert für sozialen Zusammenhalt und benennt als weiteres Ziel die historische Einbettung der individuellen dramatischen Berichte. Ebenfalls mahnend endet der einleitende Text von Elmar Wiedeking. Der gebürtige Mülheimer verschafft dem Rezipienten einen historischen Überblick über die Situation, um die subjektiven Erlebnisse der Mülheimer geschichtlich einzubetten und diverse Begrifflichkeiten vorab zu klären. Im Hauptteil geben die Zeitzeugen ihre persönlichen Erinnerungen an die Mülheimer Bombennacht wieder – Erinnerungen an Ängste, Verluste, an Entsetzen und Ohnmacht, die von der jüngeren Generation als Mahnung verstanden werden sollen, sich für den Frieden zu engagieren.

Die populärwissenschaftliche Darstellung präsentiert die Augenzeugenberichte überwiegend auf Doppelseiten, die sich fast ausschließlich den Darlegungen von Einzelpersonen widmen. Wünschenswert wäre jedoch eine systematische Reihenfolge der Berichte gewesen – so ging die Rezensentin zunächst aufgrund der in den Berichten angeführten Straßennamen davon aus, dass eine geographische Anordnung – vom Westen zum Osten der Stadt – die Abfolge der Erinnerungen strukturiere. Dieses dispositionelle Manko lässt beim Rezipienten das Gefühl einer recht willkürlichen Anordnung des Bandes entstehen.

Aufschlussreich sind dagegen die vielen thematisch und lokal passenden Fotografien, die primär als Anschauungsmaterial dienen, sodass Interessierte auch einen visuellen Eindruck von der damaligen Situation in der Innenstadt Mülheims erhalten. Die Bildbeigaben sind überdies auch für Historiker von Interesse, da zahlreiche (für die Öffentlichkeit bislang unzugängliche) Fotos aus dem Privatbesitz der jeweiligen Zeugen stammen. Alle Berichte zeichnen sich durch ein identisches, gut strukturiertes Layout mit prägnanter Überschrift und hervorgehobenen Zitaten aus, wobei mehr als zwei Drittel der Zeitzeugen auch als Verfasser figurierten. Lediglich neun Erinnerungen wurden von Mirco Stodollick und der Journalistin Julia Blättgen verfasst.

Während sich die meisten Berichte darauf beschränken zu beschreiben wie, wo und mit wem die jeweiligen Überlebenden den nächtlichen Angriff überstanden haben, stechen drei Beiträge besonders hervor: Ein Schulaufsatz, die Schilderungen von Ilse Tilgner sowie die Erinnerungen der Familie Zorn. Besagter Aufsatz, verfasst von dem damals 15-jährigen Helmut Gohla, stellt eine Besonderheit dar, erhält der Leser hier doch die Möglichkeit, jene Nacht aus der Sicht eines Heranwachsenden wahrzunehmen. Ebenfalls deutlich von den anderen Erinnerungen abzugrenzen ist der von Mirco Stodollick rekonstruierte Zeitzeugenbericht von Fritz Zorn, da dieser ausschließlich auf den Kommentaren und Einträgen der Familienchronik und des Fotoalbums jener Familie basiert. Die ausführlichen Beschreibungen Ilse Tilgners unterscheiden sich hingegen von den anderen Texten durch die weit gefasste Zeitspanne – sie schildert ihre Erlebnisse in Mülheim vom Beginn des Zweiten Weltkrieges bis zum Ende des Jahres 1945.

Einen nur bedingt gelungenen Abschluss des Werkes stellt das Gedicht „Großangriff“ von C. C. Gudewill dar, das in den letzten vier Versen den Rückzug der englischen Bomber beschreibt; de facto wäre ein abschließendes historisches Fazit – etwa mit einer Zusammenfassung der größten Verluste (architektonischer, kultureller o. ä. Art) und der Folgen für die Stadt – vor diesem Gedicht wünschenswert gewesen. Leider wird ebenso wenig deutlich, ob und inwieweit redaktionelle Eingriffe in die Erzählungen vorgenommen wurden, was für den Historiker ggf. ihre Verwendung als authentische Quellen erschwert. Für diejenigen, die einen Einblick in persönliche Kriegsschicksale erhalten möchten und sich für die Stadtgeschichte Mülheims interessieren, ist der gut verständlich geschriebene „Feuersturm der Erinnerungen“ jedoch mit Nachdruck zu empfehlen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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Mirco Stodollick: Als Mülheim lichterloh brannte. Die Bombennacht am 22./23. Juni 1943.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2014.
88 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783837512571

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